Von Arn Strohmeyer
Da macht die EU gegenüber Israel ein kleines politisches
Schrittchen, das geltende Völkerrecht einzufordern. Das
reicht, dass die Regierung Netanjahu allerschwerstes
Geschütz auffährt: Da wird das kleine Schrittchen der EU,
bestimmte Projekte in den besetzten Gebieten (es geht vor
allem um Forschungsvorhaben, Stipendien und kulturelle wie
sportliche Angelegenheiten) nicht mehr zu fördern, mit
Boykottaufrufen gegen Juden in Hitlers Drittem Reich
verglichen. So der Minister für Bau und Wohnungswesen Uri
Ariel. Er fügte hinzu, das sei eine rassistische
Entscheidung, die das jüdische Volk diskriminiere. Der
Siedler-Sprecher Dani Dajan setzte noch eins drauf und
verglich die neuen EU-Regelungen mit den Selektionen der
Nazis in den Konzentrationslagern. Er fragte: „Wird ein
Deutscher bei Jugenddelegationen nun sagen: ‚Tel Aviv nach
links, Jerusalem nach rechts raustreten.‘ Oder wird das ein
Job für einen Polen?“
Das ist eine ganz ungeheure und völlig unangebrachte
Instrumentalisierung des Menschheitsverbrechens Holocaust
für eine politische Maßnahme der EU, die längst überfällig
ist, aber noch lange nicht ausreicht. Wer kann eine
Argumentation mit einer solchen Sprache noch ernst nehmen?
Israel schadet sich damit nur selbst. Im Grunde müsste die
EU wirtschaftliche Sanktionen gegen diesen Staat verhängen,
um so den nötigen politischen Druck zu erzeugen, damit die
Regierung in Jerusalem endlich auf dem Boden der Tatsachen
ankommt und einer Lösung des Nahost-Problems zustimmt, wie
sie das Völkerrecht – also UNO-Resolutionen, Genfer
Konvention, Menschenrechtscharta und Gutachten des
Internationalen Gerichtshofes in den Haag – seit langem
einfordert.
Solange Israel sich außerhalb des internationalen Rechts
stellt und es als „Erpressung“ empfindet, wenn man es von
ihm einfordert, wird man im Nahen Osten dem Frieden keinen
Schritt näher kommen und der jüdische Staat sich selbst
immer mehr in seiner Wagenburg isolieren. Israel hat sich
durch Missachtung des Völkerrechts selbst in die Lage
gebracht, aus der es nun nicht mehr herauskommt. Dass es nun
als „Strafe“ mit dem Stopp aller EU-Projekte im
Westjordanland auf das Vorgehen Brüssels geantwortet und den
Ausbau bestehender Siedlungen angekündigt hat, ist nur ein
weiter Beleg für die Betonmentalität, die in diesem Land
regiert.
Im Zusammenhang mit den zur Zeit in Washington
stattfindenden „Friedensverhandlungen“ ist die Feststellung
der Regierung Netanjahu als Reaktion auf die EU-Leitlinie
aufschlussreich. Der Minister Ofir Akunis nannte den
Regelungskatalog aus Brüssel ein Unding: „Judäa und Samaria
(das Westjordanland) sind kein besetztes Gebiet, sondern die
Wiege des jüdischen Volkes“ Mit anderen Worte: Die
israelische Regierung betrachtet das palästinensische Land,
das zusammen mit dem Gazastreifen die Grundlage für einen
palästinensischen Staat bilden sollte, längst als Teil
Israels, auch wenn man es offiziell – wohl mit Rücksicht auf
die Weltmeinung – noch nicht annektiert hat. Worüber wird in
Washington dann verhandelt? Über die Größe des Bantustans,
in das man die Palästinenser sperren will und das sie dann
ihren „Staat“ nennen dürfen? Die Palästinenser werden in
diesem Staat vielleicht die Müllabfuhr selbst regeln können,
alles Andere wird Israel sich vorbehalten.
Die Ausgangslage ist ohnehin klar: Israel besitzt vom
früheren Mandatsgebiet Palästina heute bereits 78 Prozent.
Das Westjordanland und der Gazastreifen machen noch 22
Prozent aus. Israel hat aber bereits über 40 Prozent des
Westjordanlandes mit Siedlungen und Straßen überzogen,
strategisch wohl überlegt angelegt. Von diesem okkupierten
Land wird sich der jüdische Staat unter keinen Umständen
trennen. Das heißt: Von den 22 Prozent blieben des
Palästinensern für ihren „Staat“ noch ungefähr 12 Prozent
übrig. Ein Palästinenser-Führer, der einen solchen Vertrag
unterschreiben würde, würde wohl den Tag der Unterzeichnung
nicht überleben. Eine neue Intifada wäre zudem die
unausweichliche Folge. Wenn die Zwei-Staatenlösung
gegenwärtig wieder ins Gespräch kommt, dann kann das nur auf
der Grundlage der UNO-Resolution 242 aus dem Jahr 1967
geschehen, die besagt, dass Israel das Westjordanland räumen
muss. Ansonsten kann man sich die „Friedensverhandlungen“
sparen, sie haben mit Frieden rein gar nichts zu tun.
Das auch noch aus einem anderen Grund, der wenig beachtet
wird. Die Zeit für einen Frieden ist noch lange nicht reif.
Israel weigert sich nach wie vor, das Leid, das es den
Palästinensern angetan hat und immer noch täglich antut, zu
sehen und um Vergebung zu bitten. Die israelische Propaganda
macht aus der furchtbaren Geschichte Palästinas einen
zionistischen Helden-Mythos. Ein Israeli – der Historiker
Simcha Flapan - hat dazu schon vor Jahren Folgendes bemerkt:
„Es geht darum, die propagandistischen Denkstrukturen
aufzulösen, die so lange verhindert haben, dass in meinem
Land die Kräfte des Friedens an Boden gewinnen konnten. Die
Aufgabe, die den Intellektuellen und den Freunden beider
Völker zufällt, besteht nicht darin, Ad-hoc-Lösungen
anzubieten, sondern die Ursachen des Konflikts in das Licht
einer aufklärenden Analyse zu tauchen, in der Hoffnung, dass
man es auf diese Weise schafft, die Verzerrungen und Lügen,
die mittlerweile zu sakrosankten Mythen geronnen sind, aus
der Welt zu schaffen.“ Und warnend fügt er hinzu: „Wenn die
Klischees und falschen Mythen ihren Platz im Denken
behaupten, ist die Katastrophe unausweichlich.“
Genauso sieht es der israelische Historiker Ilan Pappe. Er
schreibt, dass die Zerstörung der Mythen und die Vermittlung
der wahren Zusammenhänge nicht nur eine professionelle
Aufgabe für die Historiker, sondern eine moralische Pflicht
sei, die man erfüllen müsse, wenn man wolle, dass die
Versöhnung jemals eine Chance habe und Frieden im Nahen
Osten Fuß fassen könne.
Davon ist man sehr weit entfernt. In Washington wird außer
Spesen nichts gewesen sein.