Die israelische Tragödie
Rache und Vergeltung führen noch tiefer in das
nahöstliche Chaos
Arn Strohmeyer - 14. 0. 2023
Man
darf nicht nach beschönigenden Worten suchen:
der Überfall der Hamas auf Israel war brutal und
grausam. Aber mit Israels brutaler Rache
versinkt der Nahe Osten noch mehr im Chaos. Die
Fronten werden sich noch mehr verhärten, wenn
das Auge-um-Auge und Zahn-um-Zahn-Prinzip die
Oberhand behält. Eine friedliche Zukunft wird
dann für sehr lange Zeit in dieser Region
unmöglich sein. Aber das nahöstliche Desaster
ausschließlich an der Hamas festzumachen, heißt,
den Konflikt zu enthistorisieren, ihn also als
ahistorisch hinzustellen und alles außer Acht zu
lassen, was zu der heutigen Konstellation
geführt hat, und einer Seite – eben der
palästinensischen – die alleinige Schuld
zuzuweisen. Das geht an der politischen und
historischen Wahrheit völlig vorbei.
Kern des Nahostkonfliktes ist die Tatsache, dass
die Zionisten den Palästinensern ihr Land
geraubt, den größten Teil dieses Volkes aus
ihrer Heimat vertrieben, das Land mit jüdischen
Einwanderern besiedelten und die verbliebenen
arabischen Menschen nicht nur als „Fremde“,
sondern als „Feinde“ einstuften, sie mit allen
gewaltsamen Mitteln unterdrückten und jedes
gleichberechtigte Zusammenleben mit ihnen bis
heute verweigerten. Den Widerstand gegen solches
kolonialistisches Vorgehen, also das Einfordern
ihres Rechts auf Selbstbestimmung und die
Einhaltung der Menschenrechte, setzten die
Zionisten mit „Terrorismus“, „Völkermord“ und
„Antisemitismus“ gleich. Ihr Machtanspruch auf
und in Palästina schuf überhaupt erst die
Auseinandersetzung mit den Arabern – speziell
mit den Palästinensern.
Der Westen akzeptierte den zionistischen
Anspruch auf Palästina von Anfang an, weil der
zionistische Wertekanon weitgehend westlichen
Wertevorstellungen entsprach – die „einzige
Demokratie im „Nahen Osten“. Eine unsinnige
Bezeichnung, weil „Staat der Juden“ und
Demokratie sich widersprechen, denn andere
ethnische Gruppen sind von der demokratischen
Teilnahme weitgehend ausgeschlossen. Israel ist
so gesehen vielmehr eine Ethnokratie, das heißt,
eine ethnische Gruppe – eben Juden – hat die
absolute Dominanz. Im Westen wird zudem
verdrängt, dass der Antisemitismus in Europa die
Hauptursache für die Entstehung des Zionismus
war und deshalb auch für den andauernden
Konflikt im Nahen Osten mitverantwortlich ist.
Die zionistische Utopie, maßgeblich von dem
Begründer der zionistischen Ideologie Theodor
Herzl entworfen, sah vor, dass der Judenstaat
ein Staat wie jeder andere werden sollte, vor
allem aber sollte er den Juden Sicherheit vor
Verfolgung und Eliminierung geben. Israel hat
dieses utopische Ziel nicht erreicht, es ist an
diesem Anspruch vollständig gescheitert. Zwei
Gründe sind für dieses Scheitern zu nennen.
Erstens ist Israel kein normaler Staat, weil
seine Existenz auf der gewaltsamen Herrschaft
über ein anderes Volk beruht. Der zweite Grund
hängt eng mit dem ersten zusammen. Israel kann
den Juden keine Sicherheit geben, es ist – der
Hamas-Anschlag belegt es – das unsicherste Land
für Juden überhaupt. Nirgendwo sind Juden so
gefährdet wie in „ihrem“ Staat.
Erweitert man die Frage, warum das so ist, dann
kann die Antwort nicht lauten: Weil Israel durch
den „palästinensischen Terrorismus“ von außen
gefährdet ist. Vielmehr sind es die zionistische
Ideologie und die aus ihr abgeleitete und
umgesetzte Politik, die den Konflikt mit den
Palästinensern permanent am Leben erhalten, ihn
immer neu entfachen wie jetzt die Katastrophe um
den Angriff der Hamas und seine Folgen. Die
israelisch-deutsche Historikerin Tamar Amar-Dahl
hat in ihrem Buch „Das zionistische Israel.
Jüdischer Nationalismus und die Geschichte des
Nahost-Konflikts“ die Kernpunkte dieser
Ideologie zusammengestellt.
Sie konstatiert: Eretz Israel (Großisrael) ist
das Land des jüdischen Volkes, es gehört
ausschließlich den Juden. Es gibt infolgedessen
keinen Disput um Palästina, sondern nur die
Palästinenser-Frage steht auf der israelischen
Tagesordnung. Der Konflikt wird allein
sicherheitspolitisch – mit militärischen
Begriffen formuliert, also letztlich
entpolitisiert und dem Militär überlassen. Die
Palästinenser sind die „Anderen“, die „out-group“
der zionistischen Utopie. Sie gilt es zu
verdrängen – aus dem Bewusstsein und aus der
Realität zu entfernen. Ihre Diskriminierung,
Unterdrückung und Vertreibung ergibt sich daraus
von selbst.
Die Ursache des Konflikts wird nicht etwa in der
eigenen Politik, der Kriegs-, Siedlungs- oder
Bevölkerungspolitik gesehen, sondern in der
„umfassenden Feindseligkeit“, in der „Mentalität
der Anderen“. Die Gewalt der „Anderen“ bzw. der
„arabische Vernichtungswille“ bilden im
israelischen Bewusstsein die Grundlage für den
Konflikt. Tamar Amar-Dahl zieht daraus die
Bilanz: „So erklärt sich das historisch
gewachsene, entpolitisierte Konfliktverständnis,
das die Grundlage für die politische Ordnung,
für die politische Kultur und für das
Selbstverständnis des zionistischen Israel
bildet.“ Israel hat also – anders gesagt – mit
dem Konflikt nichts zu tun. Es sind die
„Anderen“.
Der zionistische Staat wurde im Krieg geboren,
dem Krieg verdankt er seine nationalstaatliche
Existenz, so die Autorin. Krieg ist deshalb
positiv konnotiert. Durch das Gefühl des
ständigen Bedrohtseins genießt das
Sicherheitsdenken, das aber nur militärisch
verstanden wird, höchste Priorität. Das
israelische Kollektiv ist deswegen sowohl
institutionell (Politik, Militär, Gesellschaft,
Wirtschaft, Industrie und Justiz) als auch
mental auf Krieg fixiert.
Frieden ist deshalb nur durch militärische
Stärke und Überlegenheit über die „Anderen“
denkbar, nicht durch politische Kompromisse.
Frieden wird zwar ständig gefordert, doch die
israelische Politik hat nie versucht bzw. die
Bereitschaft gezeigt, Frieden mit
Zugeständnissen und dem notwendigen Preis für
einen Ausgleich zu erreichen. Frieden kann es
nach israelischem Verständnis nur geben, wenn
der zionistische Staat militärisch unbesiegbar
ist. Es ist undenkbar, Vergeltungsaktionen – wie
jetzt im Gazastreifen – zu vermeiden, um den
Hass abzuschwächen, weil Israel sich dann auf
der Verliererseite sehen würde und um seine
Existenz fürchten müsste.
Eine Friedenslösung durch Landteilung mit den
Palästinensern (Zwei-Staatenlösung) ist
undenkbar, weil Eretz Israel das „Land der
Urväter“ ist, die Heimat des jüdischen Volkes.
Frieden kann sich der Zionismus nur vorstellen,
wenn die militärische Kontrolle über Eretz
Israel und dessen „Araber“ aufrechterhalten
werden kann. Verhandlungen mit den
Palästinensern sind so gesehen sinnlos, weil
diese „Anderen“ einem Frieden mit Israel nicht
gewachsen sind, es gibt also keinen
Gesprächspartner für Israel. Dass solche
ideologischen Festlegungen eine Versöhnung mit
den Palästinensern unmöglich machen, versteht
sich von selbst. Tamar Amar-Dahl: „Frieden wird
zum Drang, sich des palästinensischen ‚Feindes‘
zu entledigen, er wird zum Mittel, die ‚Trennung
von den Anderen‘ herbeizuführen, um endlich die
ersehnte zionistische Utopie erlangen zu
können.“
Zu den hier angeführten ideologischen Dogmen des
Zionismus kommt ein ganz wichtiges zusätzliches
Argument: die Frage der Moral. Sehr früh schon
setzte sich die Auffassung durch, dass der
Zionismus gegen den Strom agieren müsse und
gegen den Willen der Mehrheit bzw. gegen den
Gang der Geschichte seine Ziele erreichen müsse.
Der Zionismus unterliege „anderen Maßstäben als
die formale Moralität.“ Mit anderen Worten: Den
Zionisten ist „alles erlaubt“, Menschenrechte
und Völkerrecht interessieren sie nicht. Soweit
Tamar Amar-Dahl.
Es folgt aus dem Gesagten, dass Israel mit
dieser Ideologie friedensunfähig ist. Die
blutige Auseinandersetzung mit den
Palästinensern, die unendliche Kette von
Massakern, die der zionistische Staat an den
Palästinensern begangen hat, und das von
brutaler Gewalt geprägte Okkupationsregime, das
im Grunde seit der Gründung des Staates 1948
besteht (die Palästinenser in Israel mussten bis
1966 unter einer Militärdiktatur leben) haben
aus jüdischen Opfern Täter gemacht, denn der
Staat für die Juden wurde mit der Katastrophe
des palästinensischen Volkes bezahlt. Das ist
die Tragödie des zionistischen Staates.
Durch seine Friedensunfähigkeit hat sich Israel
in eine politische Sackgasse manövriert, denn
weder die Zweistaaten- noch die
Einstaaten-Lösung wird Israel den Palästinensern
zugestehen, was bedeutet, dass dieses Volk
überhaupt keine Option mehr hat – außer
Erniedrigung, Unterdrückung und Verzweiflung. In
diesen seit Jahrzehnten andauernden
Gewaltprozess muss man auch die Attacke der
Hamas einordnen. Das heißt nicht, sie moralisch
zu rechtfertigen und zu entschuldigen, aber sie
ist nur aus der tragischen Konstellation zu
verstehen, in die Israel die Palästinenser
gebracht hat und für die Israel allein
verantwortlich ist.
Wenn die deutsche Politik nicht mehr dazu
anzubieten hat als die vollständige
Identifizierung mit Israel („Wir sind alle
Israelis!“) und den Konflikt auf „Terrorismus“
und „Antisemitismus“ reduziert, dann hat sie
weder die blutige Logik des Konflikts verstanden
noch leistet sie mit dieser Einseitigkeit des
Blickes und der sich hier offenbarenden
Realitätsblindheit einen Beitrag zur Beendigung
dieses schrecklichen Dramas. Wenn man sich schon
auf den Holocaust bezieht, dann kann die
richtige Schlussfolgerung aus diesem
Mega-Verbrechen nur sein: die universelle
Einhaltung der Menschenrechte und des
Völkerrechts. Mit ihrer einseitigen
Identifizierung mit Israel, seiner „inhumanen
Ideologie“ (der israelische Philosoph Omri
Boehm) und der totalen Nicht-Beachtung der
Rechte der Palästinenser hat Deutschland immer
auf der falschen Seite der Geschichte gestanden.
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