Holocaust war das falsche Wort – Genozid wäre besser gewesen
Die Empörung in Berlin und Jerusalem über die Äußerungen von Mahmud Abbas spiegelt nur das schlechte Gewissen über das Versagen der eigenen Politik wider
Arn Strohmeyer
Als „unsäglich“ und eine „Schande!“ haben deutsche Kommentatoren die Äußerung von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas bezeichnet, der dem Staat Israel einen Holocaust an seinem Volk vorgeworfen hat. Nun sollte man mit dem Gebrauch den Wortes Holocaust in der Tat vorsichtig und zurückhaltend umgehen, auch wenn man nicht unbedingt die These von der Einzigartigkeit dieses Mega-Verbrechens teilt. Tatsache ist aber auch, dass die Zionisten den Palästinensern durch ihr gewaltsames Vorgehen gegen dieses Volk furchtbare Leiden zugefügt haben: die Vertreibung des größten Teiles dieses Volkes aus seiner Heimat, der Raub ihres Landes, die Zerstörung ihrer Kultur und der Verlust unendlich vieler Menschen. Und diese Leiden sind nicht zu Ende, die brutale Besatzungspolitik verlängert sie Tag um Tag.
Die deutsche Nahostpolitik und damit das Verhältnis zu Israel stehen ganz im Zeichen des Holocaust. Um Erlösung von der deutschen Schuld zu erlangen, ist die Identifizierung mit dem zionistischen Staat total, die Palästinenser spielen dabei nur eine untergeordnete und marginale Rolle. Mit der umfassenden politischen, wirtschaftlichen und militärischen Unterstützung Israels und der Verweigerung jeder Kritik an dessen grausamen Unterdrückungssystem unterstützt die deutsche Politik sogar die Besatzung und ihren Fortbestand.
Dabei muss man hinzufügen: Wenn der Holocaust der entscheidende Grund für die israelische Staatsgründung war, dann sind die Nakba (die Vertreibung 1948) und die gesamte Politik Israels gegenüber den Palästinensern auch Teil der deutschen Geschichte. Die historische Verantwortung auch für dieses Volk hat die deutsche Politik aber in ihrer einseitigen Bindung an Israel nie wahrgenommen, sondern hat stets rückhaltlos das gegen Völkerrecht und Menschenrechte verstoßende Vorgehen gegen die Palästinenser gebilligt und damit große Schuld auf sich geladen. Der israelische Historiker Ilan Pappe hat in diesem Zusammenhang geäußert, dass Deutschland sich mit dieser Politik moralisch auf die falsche Seite der Geschichte gestellt habe.
Angesichts dieser Fakten kann man die Äußerungen von Abbas durchaus nachvollziehen. Sieht man von dem Holocaust-Vergleich einmal ab, hat er mit den Aussagen, dass Israel ein Apartheidstaat sei, durchaus Recht. Große internationale Menschenrechtsorganisationen (wie Amnesty International, Human Rights Watch und B‘Tetselem in Israel) haben das inzwischen bestätigt. Außerdem hat Israel die Diskriminierung der Palästinenser in seinem Nationalstaatsgesetz festgeschrieben, sie sind danach nur Bürger zweiter oder dritter Klasse. Und auch Abbas’ Aussage von den über 50 Massakern an Palästinensern ist gerade von israelischen Historikern gut belegt worden.
Bleibt der Holocaust-Vorwurf. Auch wenn man zu großer Vorsicht und Zurückhaltung im Umgang mit diesem Begriff raten muss, die Unmenschlichkeit und Brutalität der zionistischen Ideologie und ihrer Politik kann dazu verführen, Ähnlichkeiten entdecken zu wollen. Das beginnt mit der Sprache. Der frühere Ministerpräsident Menachem Begin nannte Palästinenser „Tiere auf zwei Beinen“; der ehemalige Generalstabschef Raphael Eitan bezeichnete sie als „hirnlose Kakerlaken“; der ehemalige Regierungschef Ehud Barak sprach von „Krokodilen“. Solche diskriminierenden Bezeichnungen aus der Zoologie sind in Israel an der Tagesordnung. Oder die Palästinenser sind „Wölfe“ (Rabbi Dov Lior), „Schlangen“ (Rabbi Ovadia Josef) und „Würmer“ (der Likud-Abgeordnete Yehiel Hazan). Das sind sprachliche Beispiele aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Ihre Liste kann beliebig verlängert werden. Was man mit Ungeziefer wie Kakerlaken und Würmern macht – oder mit Krokodilen, Wölfen und Schlangen, wenn sie in Menschen zusetzen, ist ja bekannt.
Äußerungen hochgestellter Personen aus Politik und Religion, aber auch von Menschen aus der Bevölkerung, die zur Gewalt gegen Palästinenser aufrufen, sind Legion. Die Parole „Tod den Arabern“ ist überall in Israel auf Hauswänden oder auf Transparenten bei Demonstrationen zu sehen. Soldaten ließen beim Abzug aus dem Gazastreifen Graffiti zurück, die lauteten: „Araber müssen sterben!“ oder „Einer erledigt, 999 999 sind noch zu erledigen“. Soldaten trugen auch T-Shirts, die als Aufdruck eine schwangere Palästinenserin mit einer Zielscheibe auf dem Bauch zeigten. Darunter stand: „Ein Schuss, zwei Tote!“ Der renommierte israelische Historiker Benny Morris rechtfertigt sogar Völkermord, wenn er einer „guten“ Sache diene. Er bedauert noch heute, dass Israel 1948 die Palästinenser nicht vollständig vertrieben habe.
Die israelische Journalistin Amira Hass schrieb in einem Artikel, dass viele jüdische Israelis wünschten, die Kolonisierung der Palästinenser solle so ausgehen wie die in den USA, wo es den Siedlern gelang, die einheimische Bevölkerung fast vollständig verschwinden zu lassen. Der Rabbiner Jitzhak Shapira schrieb 2010 in einem Buch, dass man die unterschiedslose Tötung palästinensischer Zivilisten, auch von Kindern, aus dem jüdischen religiösen Recht ableiten könne, weil diese Kinder ja später als Erwachsene den Juden schaden könnten. Diese Aussage entspricht einer Empfehlung der früheren Justizministerin und heutigen Innenministerin Ayelet Shaked, palästinensische Mütter zu töten, weil sie ja kleine „Schlangen“ gebären würden, die später „Terroristen“ werden könnten. (Die Beispiele stammen bis auf das letzte aus dem Buch von Petra Wild Apartheid und ethnische Säuberung. Israels zionistischer Siedlerkolonialismus in Wort und Tat, Wien 2013)
Genozidale Tendenzen sind in der zionistischen Politik, Religion und auch im Alltag also weit verbreitet. Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind ein zentraler Bestandteil der israelischen Politik. Kritisch eingestellte jüdische Intellektuelle nennen die Dinge auch beim Namen. So bezeichnet Ilan Pappe die Blockade des Gazastreifens schon vor Jahren als „genozidale“ und „eliminatorische Politik“ und warnte vor einem Völkermord. Der frühere UNO Menschenrechtsbeauftragte für die besetzten palästinensischen Gebiete, der amerikanisch-jüdische Völkerrechtler Richard Falk, nannte Israels Hungerblockade über den Gazastreifen 2008 einen „Holocaust-am-Entstehen“.
Er begründete das so: „Ist es eine unverantwortliche Übertreibung, die Behandlung der Palästinenser mit dieser kriminellen Nazi-Akte kollektiver Gräueltaten zu assoziieren? Ich denke nicht. Die jüngsten Entwicklungen in Gaza sind besonders beunruhigend, weil sie so deutlich eine bewusste Absicht auf der Seite Israels und seiner Verbündeten ausdrücken, eine ganze menschliche Gemeinschaft lebensbedrohlichen Bedingungen von äußerster Grausamkeit zu unterwerfen. Der Vorschlag, dass dieses Verhaltensmuster ein Holocaust-am-Entstehen sei, stellt vielmehr einen verzweifelten Appell an die Regierungen der Welt und die Weltöffentlichkeit dar, dringend zu handeln, um zu verhindern, dass die gegenwärtigen genozidalen Tendenzen in einer kollektiven Tragödie kulminieren.“
Die ehemalige UNO-Menschenrechtsbeauftragte Mary Robins zeigte sich nach einem Besuch des Gazastreifens nach dem Krieg 2008 entsetzt von den Zerstörungen, die sie dort gesehen hatte. Es sei schockierend, dass sich die Welt nicht um die furchtbaren Verletzungen so vieler Menschenrechte kümmere. Die Folgen der Blockade für die Bevölkerung fasste sie folgender maßen zusammen: „Ihre gesamte Zivilisation ist zerstört worden. Ich übertreibe nicht.“
Vielleicht hätte Abbas also das Wort Genozid für die Politik Israels anstatt des Wortes Holocaust benutzen sollen. Denn Genozid trifft sehr genau den von permanenter Gewalt geprägten Umgang Israels mit den Palästinensern. Der polnisch-jüdische Jurist Rapahel Lemkin, der für die UNO eine Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes ausgearbeitet hat, die auch von der Weltorganisation angenommen wurde, bezeichnete Siedlerkolonialismus als seinem Wesen nach als genozidal. Er definiert Genozid so: Genozid ist eine spezielle Form der ausländischen Eroberung und Besatzung, die notwendigerweise imperialistisch und kolonialistisch ist. Der Begriff des Genozids bezeichnet die organisierte Zerstörung einer Bevölkerung durch ein breites Spektrum von sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Maßnahmen plus physische Gewalt. Genozid zielt in besonderer Weise darauf, die demographische Balance permanent zugunsten der Besatzer zu verändern. Zentral für Genozid war für Lemkin die Zerstörung der Kultur der besetzten und unterdrückten Bevölkerung, weil diese die Basis der gemeinsamen Identität und des Zusammenhalts dieser Menschen ist.
Diese Kriterien treffen für die zionistische Politik genau zu. Die australischen Genozidforscher John Docker und Ned Curtoys ergänzten die Definition Lemkins mit einem direkten Bezug auf Israel: „Als Wissenschaftler, die auf dem Gebiet der Genozid-Studien und -Forschung die lange Geschichte der europäischen Kolonisierung erforschen, scheint es für uns klar zu sein, dass Israel eine genozidale siedlerkolonialistische Gesellschaft ist, die seit ihrer Gründung 1948 kontinuierlich versucht, die Lebensgrundlagen der einheimischen Palästinenser zu zerstören, ihre Gesundheit, ihre Würde, ihr Einkommen, ihre persönliche Sicherheit, ihren Zugang zu Bildung und ihre politische Organisation, sodass die Palästinenser durch die kolonisierenden zionistischen Siedler ersetzt werden können. Was wir gegenwärtig erleben, ist eine Form der Siedlerkolonisierung, die an das Australien des 19. Jahrhunderts erinnert, in der eine siedlerkolonialistische ‚Logik der Eliminierung‘ Massaker und Sequestrierung (Reservate) kombinierte, um die souveräne Selbstbestimmung einer einheimischen Bevölkerung unmöglich zu machen.“
In einem Staat wie Deutschland, in dem die Palästinenser über ihre Leiden unter dem zionistischen Staat nicht laut sprechen dürfen und eben jede Kritik an dieser Unterdrückung als „Antisemitismus“ geahndet wird, kann man sich nur mit einer Provokation oder einem Eklat Gehör verschaffen. Vielleicht war das die Absicht von Abbas. In der Sache, wenn man für Holocaust das Wort Genozid einsetzt, hat er völlig Recht. Ob er mit seinem Eklat der palästinensischen Sache einen Dienst erwiesen hat, sei dahingestellt. Eher nicht. Ein bisschen Diplomatie wäre angebracht gewesen. Der empörte Aufschrei („Schande!“ und „unsäglich!“) spiegelt aber nur die Verlogenheit der deutschen Nah-Ost-Politik wider, die durch ihre enge Allianz mit Israel alles dafür getan hat, dass es in Palästina/ Israel zu so monströs unmenschlichen Zuständen gekommen ist. Es sei an die alte Volksweisheit erinnert: Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen!