"Der Zionismus muss ideologisch abrüsten"
Anmerkungen zu Ilan Pappes Buch
"Wissenschaft als Herrschaftsdienst. Der Kampf um
die akademische Freiheit in Israel"
Arn Strohmeyer, Januar 2012
"Die
zionistische Interpretation der Welt ist derartig
schlüssig, dass sie für die jüdischen Bürger Israels
ein geschlossenes 'Gedankengebäude' errichtet und
als solches die Koordinaten ihres Denkens bestimmt.
Unter diesen Umständen kann nur jemand, der
außerhalb dieses 'Gedankengebäudes' steht und
hineinschaut, klar sehen (so wie einige wenige
hellsichtige, fortschrittliche Leute am Rande der
israelischen Gesellschaft), was eigentlich vor sich
geht, die selbstdestruktiven Aspekte Israels
identifizieren und eine rationale Kritik vorbringen.
Natürlich wird in den Ohren eines entschiedenen
Israel-Ideologen, der gefangen ist im Innern dieses
Gedankengebäudes, eine solche Kritik völlig abwegig
und gefährlich klingen."
So beschreibt der
amerikanisch-jüdische Historiker Lawrence Davidson
die mentale Situation der meisten Israelis. Es
versteht sich von selbst, wie schwierig es ist, sich
aus einem solchen System zu lösen, mit dem man durch
Sozialisation von Kindertagen an völlig vereinnahmt
ist. Der israelische Historiker Ilan Pappe hat als
Individuum und als Historiker genau das hinter sich
gebracht und eine Position erreicht, von der aus er
- wie Davidson schreibt - außerhalb des
zionistischen "Gedankengebäudes" steht und dieses
rational analysieren und interpretieren kann. Den
äußerst schwierigen Weg dorthin beschreibt er in
seinem neuen Buch "Wissenschaft als
Herrschaftsdienst. Der Kampf um die akademische
Freiheit in Israel."
Pappe, der aus einer
deutsch-jüdischen Familie stammt, die in den
dreißiger Jahren nach Palästina auswanderte,
beschreibt seinen Abschied vom Zionismus als "Reise
ohne Wiederkehr": "So mächtig der zionistische
Zugriff auf die Gedanken und das Leben eines
israelischen Juden sein mag, hat man sich einmal
diesem Zugriff entwunden, so kann man nicht mehr
verstehen, wie man jemals von seinen Verlockungen,
seiner Logik oder seiner Vision fasziniert sein
konnte. Dieses Buch ist ein bescheidener Versuch,
die löchrige Ideologie zu entschlüsseln, die dem
Autor einst als Ausdruck reiner Menschlichkeit,
nachdem er sie aber aufgegeben hatte, als eine
rassistische und sehr bösartige Moral- und
Lebensphilosophie erschien."
Am Beginn dieser "Reise ohne
Wiederkehr" stand für Pappe die Entdeckung der
flagranten Widersprüche des Zionismus. Aus noblen
Impulsen entstanden - der Suche der jüdischen
Führung nach einer Zuflucht für die durch den
europäischen Antisemitismus gefährdete Gemeinschaft
und dem Wunsch, das Judentum in einer
säkularisierten Form (eben national) neu zu
definieren - musste er diese ehrenvollen Motive in
dem Augenblick verlieren, in dem Palästina als
territoriales Ziel gewählt wurde. Damit - so Pappe -
wurde das zionistische Projekt ein
kolonialistisches. Die Formel für das Unternehmen
war einfach: Damit das zionistische Projekt in
Palästina Erfolg haben kann, muss die Bewegung so
viel palästinensisches Land wie möglich übernehmen
und sicherstellen, dass so wenige Palästinenser wie
möglich darauf zurückbleiben.
Schon beim Gründer der Bewegung,
Theodor Herzl, sieht Pappe diese Entwicklung
vorweggenommen. In seinem utopischen Roman
"Altneuland" findet sich keine einzige Überlegung
über das mögliche Schicksal der einheimischen
Bevölkerung Palästinas. Sind die unterworfenen
Menschen im klassischen Kolonialismus des 19.
Jahrhunderts noch irgendwie vorhanden - als
unsichtbare, ausgebeutete, rechtlose und
marginalisierte Wesen - so ist die arabische
Bevölkerung Palästinas, abgesehen von einer kleinen
Minderheit, in Herzls Roman völlig verschwunden,
nicht mehr existent. Sie sollten, wie er in seinen
Tagebüchern schreibt, "diskret" und "vorsichtig"
über die Grenze vertrieben werden. Der Zionismus -
eine Synthese aus deutsch-romantischem Nationalismus
und Kolonialismus - setzte Herzls Vision aber
keineswegs "diskret" und "vorsichtig" um, sondern
1948 mit der realen Politik einer ethnischen
Säuberung, die die Palästinenser die "Nakba"
(Katastrophe) nennen. Pappe hat diese Vertreibung
der einheimischen Bevölkerung in seinem
bahnbrechenden Buch "Die ethnische Säuberung
Palästinas" (2007) im Detail beschrieben.
Die Leugnung der "Nakba" im
akademischen Diskurs Israels war die wohl wichtigste
Station auf dem Weg Pappes hin zum Abschied vom
Zionismus: "Die akademische Perspektive in Israel
löschte die Nakba als historisches Ereignis aus und
hinderte israelische Gelehrte und Akademiker daran,
die allgemeine Verleugnung und Verdrängung der
Katastrophe außerhalb der universitären
Elfenbeintürme in Frage zu stellen." Wie wichtig
diese Frage aber nicht nur für die israelische
Historiographie, sondern auch für die aktuelle
Politik Israels ist, belegt das Flüchtlingsproblem,
das eng mit der Frage der Verantwortlichkeit
verbunden ist. Denn die palästinensische Frage nach
dem Rückkehrrecht basiert auf einer bestimmten
Interpretation der Vergangenheit. Die Palästinenser
forderten, ihr Narrativ über die Nakba auch mit in
die Friedensverhandlungen einzubringen, was in
Israel natürlich auf völlige Ablehnung stieß.
Ein weiterer wichtiger Schritt auf
Pappes Weg war die sogenannte "Katz-Affäre". Teddy
Katz war ein Student an der Universität Haifa. Er
hatte eine als exzellent bewertete Master-Arbeit
vorgelegt, die die Geschichte des Kibbuz Magal
behandelte, aus dem er selbst stammte. Er entdeckte,
dass diese jüdische Siedlung auf den Trümmern des
arabischen Dorfes Zeyta errichtet worden war, dessen
Bewohner jüdische Truppen 1948 vertrieben hatten. Im
Rahmen seiner Arbeit stieß er auch auf das Massaker
von Tantura, einem Nachbardorf Zeytas, bei dem die
jüdische Alexandroni-Brigade am 22. Mai 1948 bis zu
225 Bewohner getötet haben soll. Veteranen dieser
Einheit verklagten Katz daraufhin wegen Verleumdung
und auf Schadensersatz. Katz konnte seine
Behauptungen auf die Aussagen zahlreicher
überlebender Palästinenser stützen. Solche
mündlichen Aussagen von Palästinensern zählen aber
in Israel nicht, wenn es um die eigene Vergangenheit
geht - ganz im Gegensatz zu den mündlichen Aussagen
von Holocaust-Überlebenden, die als historische
Zeugnisse anerkannt werden.
Gegen Katz begann ein Kesseltreiben
mit Drohungen und dem Vorwurf, er sei ein "Verräter"
und habe sein Material gefälscht. Katz unterschrieb
unter diesem Druck eine Widerspruchserklärung und
zog sie wenige Tage später wieder zurück. Die
Universität lehnte seine Arbeit schließlich ab, sie
wurde aus dem Verzeichnis der Magister- und
Doktorarbeiten gestrichen. Die Schlussfolgerung war:
"Jede kritische Revision des zionistischen
Geschichts-Narrativs ist voreingenommen und
propalästinensisch und entspricht daher nicht
professionellen Standards."
Pappe stellte nun selbst
Nachforschungen über das Vorgehen der
Alexandroni-Brigade in Tantura an und kam zu der
klaren Schlussfolgerung, dass es sich um ein
Massaker größeren Ausmaßes gehandelt hat und
veröffentliche das Ergebnis seiner Recherchen auch
in ausländischen Publikationen. Nun wurde Pappe das
Opfer eines Kesseltreibens, das bis zu Morddrohungen
reichte. Auch die meisten Kollegen an der
Universität schlossen sich dem Mobbing an, sodass
seine Situation unerträglich wurde. Die Vorwürfe der
Universität gipfelten darin, dass er ihren
Ehrenkodex verletzt habe. Pappe verteidigte sich:
"In Wahrheit habe ich nicht den Ehrenkodex, sondern
die Regeln einer sehr unflexiblen Ideologie
verletzt." Es war in israelischen Augen eben ein
Verbrechen, ein Massaker zu enthüllen, das von
Israelis im Jahr 1948 begangen worden war. Pappe
dazu: "Die Tantura-Affäre deckte die Brutalität der
ethnischen Säuberung von 1948 auf und verlieh
palästinensischen Forderungen nach Entschädigung und
Repatriierung Glaubwürdigkeit."
Pappe wurde an der Universität zum
"Paria", zur "persona non grata". Er bringt diesen
Vorgang auch mit der politischen Stimmung der Zeit
in Verbindung: Es war das Jahr 2002, als der
Friedensprozess von Oslo endgültig vorbei, die
zweite Intifada in vollem Gang war und Ariel Sharon
mit seinem Feldzug "Schutzschild" die gesamte
Infrastruktur des Westjordanlandes zerstörte.
Grundlegende Bürger- und Menschenrechte wurden in
Israel eingeschränkt. Pappe erinnert diese Zeit an
die McCarthy-Ära in den USA. Gegen ihn wurde ein
Disziplinarverfahren eingeleitet, um ihn von der
Universität zu entfernen. Er schrieb daraufhin einen
Offenen Brief an akademische Freunde in der ganzen
Welt und bat um Unterstützung für die Meinungs- und
Wissenschaftsfreiheit in Israel: "... weil die
israelische akademische Welt beinahe einstimmig
beschlossen hat, die Regierung zu unterstützen und
dabei zu helfen, jede Kritik zum Schweigen zu
bringen." Die Reaktion in der internationalen
Wissenschaftswelt war überwältigend. Hunderte
renommierte Akademiker, die Israel der Unterdrückung
der akademischen Freiheit anklagten, schrieben
Briefe an die Leitung der Universität. Das Verfahren
gegen Pappe wurde eingestellt.
Pappe sah nun keine Möglichkeit mehr,
in Israel zu leben und zu arbeiten - aber nicht nur
wegen der Einschränkung der akademischen Freiheit,
sondern auch wegen der Behandlung der Palästinenser,
denen nicht nur von der Politik und dem Militär,
sondern auch von den meisten israelischen Juden jede
Menschenwürde abgesprochen werde. Er schrieb:
"Palästinenser können im historischen Palästina
keinen Platz haben, wenn sie nicht bereit sind, ohne
grundlegende Menschen- und Bürgerrechte zu leben.
Sie können Bürger zweiter Klasse innerhalb des
Staates Israel sein oder Insassen des
Massengefängnisses der Westbank und des
Gazastreifens. Wenn sie Widerstand leisten, ist es
wahrscheinlich, dass sie ohne Prozess inhaftiert
oder getötet werden. Das ist Israels Botschaft."
Pappe sieht das Vorgehen Israels
gegen die Palästinenser in diametralen Gegensatz zur
jüdischen Ethik, der er sich weiter verpflichtet
fühlt und die er als seine "Heimat" bezeichnet. Der
Libanon-Krieg 2006 und die militärischen Aktionen
gegen den Gazastreifen, bei denen die Armee nicht
mehr zwischen zivilen und nicht-zivilen Zielen
unterschied, gaben für ihn den Ausschlag. Er verließ
Israel und ging an die Universität Exeter in
England.
Aber auch dort hat er als Historiker
vornehmlich ein Thema: das Jahr 1948 und dessen
politische Auswirkungen und Spätfolgen bis heute. Er
bleibt dabei, dass die Ereignisse von 1948 direkt
mit Israels gegenwärtigem Selbstverständnis, dem
Friedensprozess und jedweder zukünftigen Lösung des
Nahost-Konfliktes verbunden sind. Die Forschungen
zur Geschichte Palästinas stehen deshalb in einem
unlösbaren Zusammenhang mit der gegenwärtigen Not
der Palästinenser und allen Ansätzen zur
Verbesserung der Situation: "Geschichte als ein
Aspekt existentiellen Lebens in Palästina und Israel
war für mich nicht länger eine abstrakte Idee,
sondern eine historiographische und politische
Aufgabe ersten Ranges."
Pappe kann sich eine Lösung des
Nahost-Konflikts nur mit einer "ideologischen
Abrüstung" Israels, d.h. des Zionismus vorstellen.
Diese Ideologie ist für ihn identisch mit ethnischer
Säuberung, Besatzung und Massakern. Deshalb
unterstützt er ausdrücklich politischen Druck auf
Israel und die BDS-Aktionen (Boykott, De-Investment
und Sanktionen). Seine Vision für die Zukunft ist
ein Staat in Palästina, der auf der Gleichheit aller
Menschen - Juden wie Palästinenser - in jedem
menschlichen und bürgerlichen Aspekt des Lebens
aufbaut.
Pappe hat mit seiner Analyse des
Nahost-Konflikts und seiner eigenen
wissenschaftlichen Position darin ein sehr humanes
und anregendes Buch geschrieben, das aufzeigt, wie
tief die Risse im ideologischen Gebäude des
Zionismus inzwischen sind. Die Mythen, die Israels
Staatsideologie bisher getragen haben, sind von
Pappe und vielen anderen israelischen "neuen"
Historikern längst entmythologisiert und zu Grabe
getragen worden. Die Schlacht um die Vergangenheit
Palästinas ist so gesehen entschieden, aber die
Verbindung von Historiographie und Politik, die
Pappe so nachdrücklich anmahnt, steht noch aus. Wie
lange noch?