Eine genau kalkulierte Kampagne
Die hysterischen Warnungen vor einem
neuen Antisemitismus in Deutschland sollen von Israels
Vorgehen in Gaza ablenken
Arn Strohmeyer
Da
schreien ein paar durchgeknallte Typen auf
Demonstrationen gegen Israels Gaza-Krieg dumme und
saublöde Parolen – und schon wird die Drohung einer
neuen Hatz auf die Juden beschworen. Zustände wie zu
Hitlers Zeiten stehen offenbar unmittelbar bevor. Ein
Beispiel: In Bremen haben am Mittwoch 5000 Menschen
gegen Israels Morden in Gaza protestiert. BILD machte im
Vorfeld in gewohnt unverantwortlicher Manier daraus:
„Morgen Hass-Demo in Bremen“. Schlimmer schon, dass der
leitende Redakteur des öffentlich-rechtlichen Senders
Radio Bremen, Jochen Grabler, vor der Demonstration
seinen Hörern verkünden konnte: „Testosteron
gepeitschte junge Männer vorneweg, verhetzt, aus jeder
Pore dampfend vor Hass.” Und: “Wenn sich jetzt
Andersdenkende nicht vor die Türe wagen, wenn – was
Allah, der Christengott und Jahwe am besten gemeinsam
verhüten mögen – Bremer Juden auf offener Straße
angegriffen und gejagt werden, wenn Geschäfte gestürmt
werden, weil irgendwer behauptet, sie seien in jüdischer
Hand, wenn der Holocaust geleugnet, Fahnen des Heiligen
Krieges hoch gehalten, Hitler gepriesen, die Juden ins
Gas gewünscht….” Passiert ist in Bremen bei und nach der
Demonstration nichts, die Polizei konnte keine
besonderen Vorfälle melden. Alles verlief friedlich. Wer
hetzt hier und wer sät Hass? Wie ist ein solcher Sudel-
und Schmutzjournalismus in einem öffentlich-rechtlichen
Sender möglich?
Wenn hier wirklich eine antisemitische
Gefahr im Anzug wäre, jeder in diesem Volk hätte die
unbedingte Pflicht, dem entschieden entgegenzutreten –
mit allen nur denkbaren Mitteln. Es wird aber nicht auf
deutschen Straßen gemordet, sondern in Gaza. Dort wird
ein völkerrechtswidriger Krieg gegen die
Zivilbevölkerung geführt (Verstoß gegen die Haager und
Genfer Menschenrechtskonvention). Die hysterische
Stimmung, die gewisse Kreise und auch die
Bundesregierung einschließlich des Bundespräsidenten
erzeugen, sieht nach einer gut organisierten und
abgesprochenen Kampagne aus, bei der der
Antisemitismus-Vorwurf kräftig geschürt und
instrumentalisiert wird.
Denn merkwürdig, in dem Augenblick, als
Menschen auf die Straße gingen, um gegen das Morden zu
protestieren, kam sofort der Aufschrei: ein neuer
Antisemitismus droht in Deutschland! Das Rezept der
Kampagne ist zu simpel, als dass man es nicht
durchschauen könnte. Es verläuft wie früher schon immer
nach demselben Schema: Israel begeht schwere
Menschenrechtsverletzungen – der Protest dagegen bleibt
nicht aus. Sofort setzt die
Antisemitismus-Vorwurf-Kampagne ein. Was sie beabsichtig
ist klar: 1. Erstens von den furchtbaren Nachrichten
über Israels Vorgehen in Gaza abzulenken; 2. der Kritik
an Israels Handeln die Berechtigung entziehen; 3.
Israels „Kampf gegen den Terror“ in Gaza zu
legalisieren; 4. nicht die Palästinenser, sondern die
Israelis als Opfer darzustellen und 5. den Arabern bzw.
den Palästinensern die Schuld für das Morden
zuzuschieben. Der Historiker Michael Wolffsohn hat
letzteres so schön ausgedrückt: Die Palästinenser bzw.
die Hamas seien selbst an dem Morden schuld. So einfach
ist das.
Es ist nicht überraschend, dass die
offizielle deutsche Politik in diesen Chor sofort mit
einstimmt. Das Ziel der Kampagne war bald erreicht: Alle
reden vom neuen drohenden Antisemitismus und keiner mehr
vom Morden in Gaza. Dabei trägt die offizielle deutsche
Politik durch ihren staatsdoktrinären Philosemitismus,
der jede Kritik an der israelischen Politik zum Tabu
erklärt, kräftig zum Entstehen „antisemitischer“
Eruptionen wie jetzt anlässlich des Gaza-Krieges bei.
Denn wenn Israel nur idealisiert und als Unschuldslamm
dargestellt und jede Auseinandersetzung über seine
Politik gegenüber den Palästinensern unterdrückt wird,
muss sich die Kritik irgendwann eruptiv Luft schaffen –
und dann auf Wegen, die völlig unangebracht sind.
Professor Rolf Verleger aus Lübeck,
selbst Jude, hat diesen Sachverhalt sehr treffend in
einem Interview formuliert: „Wer hat uns das denn
eingebrockt? Wenn unsere Politiker alle sagen ja, das
ist völlig richtig, was Israel macht, wenn unsere Medien
sagen, ja, das ist völlig richtig, was Israel macht,
wenn die Repräsentanten des Judentums nicht nur in
Deutschland, sondern auch in Frankreich zum Beispiel
sagen, ja, das ist doch ganz klar, wer gegen Israels
Maßnahmen ist, der ist gegen Juden, dann fordert man
solche antisemitischen Parolen geradezu heraus. Es ist
doch eine Absurdität, diese Gewaltbereitschaft, diesen
nationalreligiösen Hass, der sich in der israelischen
Gesellschaft aufgestaut hat – das mit der jüdischen
Tradition der Nächstenliebe und dass das mal eine
Religion war der tätigen Moral, wie es der Rabbiner Leo
Baeck, der Führer des Judentums in Nazi-Deutschland,
gesagt hat, das ist doch etwas völlig anderes geworden.
Das muss man doch sehen und muss darauf reagieren. Man
kann doch nicht jeden Quatsch, den Israel macht,
mitmachen.“
Und der amerikanisch jüdische Politologe
Norman Finkelstein hat schon vor Jahren den
grundlegenden Widerspruch des Philosemitismus, dem auch
die deutsche Regierung huldigt, einmal so beschrieben:
„Weil die Philosemiten glauben, mit Rücksicht auf das
historische Leid des jüdischen Volkes die Augen vor
israelischen Verbrechen verschließen zu müssen,
versetzen sie Israel in die Lage, seinen mörderischen
Weg unbehelligt weiterzugehen. Was sie dabei übersehen,
ist, dass genau das Antisemitismus schürt und
schließlich auf die Selbstzerstörung Israels
hinausläuft.“
Solche aufklärerischen und mäßigenden
Stimmen sind eine Wohltat in der gegenwärtig hysterisch
aufgeheizten Stimmung. Da ist noch eine Stimme der
Vernunft zu nennen. Der prominente Antisemitismus- und
Holocaustforscher Wolfgang Benz. Er sieht kein Anwachsen
des Antisemitismus durch die anti-israelischen
Demonstrationen in Deutschland. Seltsame Leute hätten
ein paar blödsinnige Parolen gerufen, das seien aber
nicht gleich anti-israelische Ausschreitungen. Benz
sieht aber die Stimmung für Israel schlechter werden,
was seine guten Gründe habe. Die israelische Regierung
habe natürlich großes Interesse daran, jede Kritik an
ihrem Handeln als Antisemitismus zu verstehen. Benz sagt
aber klar und deutlich: Nicht jeder, der den Gaza-Krieg
missbilligt und Mitleid mit den getöteten oder
verletzten palästinensischen Zivilisten hat, ist deshalb
ein Antisemit.
Den Israel-Freunden und
Interessenvertretern dieses Staates, die mit dem
Antisemitismus-Vorwurf immer so schnell bei der Hand
sind, kann geholfen werden. Ihnen ist zu raten, sich mit
allen Mitteln für ein Ende der Besatzung über die
Palästinenser einzusetzen. Dann werden die Israel-Kritik
oder der „Antisemitismus“ sofort rapide abnehmen. Das
wäre ein furchtbarer Rückschlag für die wirklichen
Antisemiten. Wen können sie dann verteufeln? Ihre wahren
Gesichter und Ziele kämen zum Vorschein. Das wäre ein
großer Sieg für uns alle – und die Menschlichkeit!