"Auf
Mythen und geschichtlichen
Unwahrheiten kann man keinen
Frieden aufbauen"
Kritik oder Delegitimation?
Arn
Strohmeyer (Bremen)
Das Israelbild der "neuen"
israelischen Historiker und
seine Auswirkung auf die Politik
Vortrag am
Landesinstitut für Schulen (LIS)
Bremen am 1. März 2012
Meine sehr
geehrten Damen und Herren,
das
Thema meines Vortrages sind die
sogenannten „neuen“ israelischen
Historiker und ihr Israel-Bild.
Ich möchte meinen Ausführungen
ein persönliches Wort
vorausschicken, das mir
unbedingt notwendig erscheint.
Was Sie hier zu hören bekommen,
ist für deutsche Ohren harter
Tobak. Ich brauche hier - nach
unserer Geschichte mit dem
Nationalsozialismus - nicht
darauf hinzuweisen, wie sensibel
unser Verhältnis zu Juden und zu
Israel ist. Israelische
Historiker, und nur um die geht
es hier, brauchen diese
Rücksichten nicht zu nehmen,
vielleicht andere, aber das ist
dann nicht unser Problem. Ihre
Kritik an der offiziellen
zionistischen Darstellung der
jüdischen und israelischen
Geschichte und an der Politik
des Staates Israel ist oftmals
so radikal, dass sie uns als
blanker Antisemitismus vorkommt.
Man kann ihre Kritik aber auch
so verstehen, dass man umgekehrt
fragen muss: Ist unser
Israel-Bild richtig, entspricht
es den Realitäten? Müssen wir es
auf diese Kriterien hin
vielleicht überprüfen? Ist jede
Israel-Kritik wirklich gleich
Antisemitismus? Wegen der
Brisanz des Themas möchte ich
darauf aufmerksam machen, dass
ich mich in diesem Vortrag
ausschließlich auf das Material
israelischer Historiker und
Sozialwissenschaftler sowie
einiger jüdischer Autoren in der
Diaspora beziehe. Ich will
sagen: andere Quellen als
israelische und jüdische habe
ich nicht benutzt.
Wenn wir in der
Bundesrepublik oder in anderen
westlichen Staaten von Israel
sprechen, haben wir - infolge
der Konfrontation mit dem
Nationalsozialismus und dem
Holocaust ein bestimmtes
Wunschbild von diesem Staat vor
Augen. Ich möchte dieses
Wunschbild mit einem Zitat eines
jungen israelischen Historikers
bestimmen. Daniel Cil Brecher
definiert es so. „Zu wichtigen
Elementen der ‚westlichen
Identität‘ Israels [gehören]:
die Idee des Kampfes um Freiheit
und Selbstbestimmung der
Schwachen und Verfolgten, die
ihr Schicksal in die eigene Hand
nehmen; und die Vorstellung vom
Holocaust als Symbol jüdischer
Geschichte, einer Geschichte,
aus deren Griff der Staat Israel
die Juden zu befreien vorgibt.
Es sind diese Mythen, die das
Selbstbild Israels und das Bild
des Nahostkonflikts im Westen
nachhaltig geprägt haben. Nicht
die koloniale Besitzergreifung
Palästinas durch Großbritannien
und die Zionistische Bewegung
bilden hier den historischen
Kontext, sondern der europäische
Geschichtsraum, in dem die Juden
das Joch einer kolonialen
Unterdrückung selbst abzuwerfen
suchen.“
[i]
Drei Begriffe
sind hier wichtig, die im
Folgenden eine Rolle spielen
werden: Zionismus, Mythen und
Kolonialismus. Diese Begriffe
nehmen in unserem Israelbild
einen eher untergeordneten Platz
ein. Ilan Pappe, einer der
prominentesten Historiker dieser
Gruppe, definiert den Zionismus
als eine Bewegung, die eine
Symbiose aus
deutsch-romantischem
Nationalismus und Kolonialismus
darstellt.[ii]
Wenn er von Nationalismus
spricht, nennt er zwei deutsche
Namen: Herder und Fichte und den
französischen Rassentheoretiker
Gobineau. Pappe unterstellt dem
Zionismus anfänglich durchaus
noble und edle Motive: Die
Führung der Bewegung suchte
erstens nach einer sicheren
Zuflucht für die durch den
anwachsenden Antisemitismus in
Europa gefährdete jüdische
Gemeinschaft. Der zweite Impuls
war der Wunsch, das Judentum in
einer säkularen Form - eben
nationalistisch - neu zu
definieren, so wie es andere
Völker und ethnische Gruppen im
19. Jahrhundert auch taten.
Pappe konstatiert
nun, dass das zionistische
Projekt in dem Augenblick, in
dem diese beiden durchaus
positiven Impulse sich auf das
Territorium Palästinas
richteten, ein kolonialistisches
wurde. Von diesem Zeitpunkt an
ging es - so Pappe - nur noch um
Kolonialisierung und Enteignung.
Die Formel, unter der der
Zionismus antrat, lautete:
„Damit das zionistische Projekt
in Palästina Erfolg hat, muss
die Bewegung so viel
palästinensisches Land wie
möglich übernehmen und
sicherstellen, dass so wenige
Palästinenser wie möglich darauf
zurückblieben.“[iii]
Er setzt deshalb Zionismus mit
einer Ideologie gleich, die
ethnische Säuberung, Besatzung
und sogar Massaker unterstützt.[iv]
Warum sind Mythen so wichtig?
Der zionistische Staat Israel
lebt von solchen künstlich
erzeugten Mythen. So ging der
Zionistenführer und erste
Ministerpräsident Israels David
Ben Gurion so weit zu behaupten,
dass starker Glaube an den
Mythos ihn in Wahrheit verwandle
oder zumindest so gut wie eine
Wahrheit. Sein enger Berater
Jitzhar verstieg sich sogar zu
der Behauptung: „Ein Mythos ist
nicht weniger wahr als
Geschichte, er ist jedoch eine
zusätzliche Wahrheit, eine
andere Wahrheit, eine Wahrheit,
die neben der Wahrheit besteht;
eine nicht objektive menschliche
Wahrheit, und doch eine
Wahrheit, die zur historischen
Wahrheit wird.“ Solche Aussagen
sind insofern „wahr“, als
Menschen durchaus bei der
gewaltsamen Durchsetzung von
Zielen von Mythen motiviert sein
können und sich dabei auf Mythen
stützen - und eben dadurch
historische Tatsachen schaffen.[v]
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E. Arendt - vergrößern und mehr
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Die „neuen“
Historiker haben es sich zur
Aufgabe gemacht, die Mythen des
Zionismus zu entmythologisieren.
Bei den „neuen“ Historikern“
oder der „neuen“
Geschichtsschreibung handelt es
sich um eine lose Verbindung von
Individuen in Israel, die ab dem
Ende der achtziger Jahre das
Mainstream-Narrativ der
zionistischen
Geschichtsschreibung einer
kritischen Betrachtung
unterzogen. Die ideologischen
Positionen und Ansätze, von
denen aus das geschah, waren
sehr unterschiedlich. Ihr
Verdienst war es aber
zweifellos, dass sie die
wichtigsten Kapitel der
palästinensischen
Geschichtserzählung - vor allem
die über das entscheidende Jahr
1948 - mit einbezogen haben, was
vorher im akademischen Diskurs
Israels undenkbar war. Sie
haben, um das Ergebnis
vorwegzunehmen, die
zionistischen Mythen gründlich
entmythologisiert und zu Grabe
getragen.
Mythen sollen den
Staat Israel rechtfertigen und
legitimieren. Das beginnt mit
dem mythischen Uranfang des
jüdischen Volkes. Er liegt
danach im Empfang der zehn
Gebote am Sinai durch das Volk,
das aus Ägypten ausgezogen war
und dem Gott im Bund mit Abraham
das Land versprochen hatte. In
der Genesis heißt es: „Ich werde
Dir und Deinen Nachkommen das
Land geben, das ganze Land
Kanaan, zum ewigen Besitz, und
ich werde ihnen Gott sein.“[vi]
Dieses Volk - so
das zionistische Narrativ weiter
- besiedelte das Land, wo Milch
und Honig fließt und errichtete
dort das mächtige jüdische
Königreich Davids und Salomos.
Nach Jahrhunderten der
Fremdherrschaft von Assyrern,
Babyloniern, Persern, Griechen
und Römern in Palästina erhoben
sich Juden 70 n.u.Z. gegen die
römische Herrschaft über das
Land. Der Aufstand wurde
niedergeschlagen, die Römer
zerstörten den zweiten Tempel
und vertrieben die Juden aus
ihrer Heimat. Sie ließen sich
überall in der damals bekannten
Welt nieder. Dieses Exil dauerte
fast 2000 Jahre. Erst im Laufe
des 19. Jahrhunderts ergab sich
unter dem in Europa entstehenden
Nationalismus die Gelegenheit,
sich auf die völkische und
nationale Identität der Juden zu
besinnen und die Rückkehr in die
„alte Heimat“ ins Auge zu
fassen.
Jüdische Siedler
kamen etwa ab 1880 nach
Palästina - zumeist aus
Russland. Sie und alle anderen
Zuwanderer kamen zurück nach
Zion, nach dem sie sich in der
Diaspora so lange gesehnt
hatten. Der Boden dieses Landes,
das den Juden schon immer gehört
hatte, wartete nur darauf, von
den Heimkehrern „erlöst“ zu
werden. Sie würden die „Wüste
wieder zum Blühen bringen“. Dass
dort seit Jahrhunderten, wenn
nicht seit Jahrtausenden,
Menschen lebten und das Land
keineswegs nur aus Wüste
bestand, sondern bebaut wurde,
interessierte die Neuankömmlinge
nicht. Sie betrachteten die
Einheimischen als
„geschichtslose Wilde“, die dort
gestrandet waren. Diese Menschen
zählten nicht, das Land war
eigentlich „leer“ - in dem Sinn,
dass dort eine kulturelle Wüste
und Ödnis herrschten.
Soweit das
zionistische Geschichtsnarrativ,
das seinen Höhepunkt in der
Gründung des Staates Israel im
Jahr 1948 findet. Diese
Narrativ, das sich auch in der
Unabhängigkeitserklärung findet,
ist in der Sicht der „neuen“
Historiker in fast allen seinen
Elementen reiner Mythos. Die
Zionisten wussten das auch. Aber
sie waren der Meinung, dass es
nicht wichtig sei, ob diese
Geschichte auf einem wahren
Bericht historischer
Begebenheiten beruhe. Wichtig
sei nur, dass die Juden daran
glaubten. So hat der
Zionistenführer und erste
Ministerpräsident Israels David
Ben Gurion, gesagt, dass ein
starker Glaube den Mythos in
Wahrheit verwandle oder
zumindest so gut wie eine
Wahrheit.[vii]
Wichtig sind die Mythen aber,
weil sie den Anspruch auf das
Land begründen, denn
völkerrechtlich bestand
natürlich nach 2000 Jahren kein
Anspruch darauf. Es gibt ein
Bonmot von Ilan Pappe, das
besagt: Der Zionismus ist
eigentlich säkular, ja sogar
atheistisch, aber die Zionisten
glauben daran, dass Gott ihnen
das Land gegeben hat.
Diesen Mythen
traten zuerst israelische
Archäologen entgegen, auf die
sich dann die „neuen“ Historiker
beriefen. So konstatierten Zeev
Herzog, Israel Finkelstein und
Neil A. Silbermann , dass es um,
1000 v.u.Z. keine historische
Einheit namens Israel gab, weil
sich kaum bedeutende
Unterscheidungen zwischen
kanaanitischen und israelischen
Fundorten machen lassen.
Außerdem konnten die Archäologen
nicht eine einzige Spur des im
Alten Testament erwähnten
Tempels von König Salomo und der
anderen dort erwähnten
prachtvollen Bauten dieses
Königs finden. Nicht einmal
nennenswerte Beweise einer
Besiedlung um 1000 v.u.Z. kamen
zutage. Jerusalem muss um diese
Zeit ein kleines, relativ armes,
unbefestigtes Dorf gewesen sein.[viii]
Der Historiker
Shlomo Sand von der Universität
Tel Aviv ist unter Berufung auf
diese Archäologen zu dem
Ergebnis gekommen, dass es kein
jüdisches Königreich in der
besagten Zeit gegeben hat. Wenn
es überhaupt etwas gab, war es
bestenfalls ein kleines
Stammeskönigtum. Sand schreibt:
„Es waren spätere Autoren, die
ein geeintes und mächtiges
Königreich erfanden und
verherrlichten, das wie
selbstverständlich auf die Gnade
und den Segen eines einzigen
Gottes gegründet war.“[ix]
Sand stellt aber
auch einen zweiten wichtigen
Baustein der zionistischen
Ideologie mit seinen Forschungen
in Frage: die Vertreibung der
Juden durch die Römer nach der
Zerstörung des Tempels 70 n.u.Z.
und damit das jüdische „Exil“.
Das „Exil“ wurde ja vom
jüdischen Nationalismus als
Schlachtruf gebraucht, mit dem
es seinen Anspruch auf das
historische Palästina
begründete.[x]
Sand führt gegen dieses Argument
an, dass auch vor dem Jahr 70
v.u.Z. schon große jüdische
Siedlungen überall im
Mittelmeerraum und darüber
hinaus bestanden - die größten
in Babylonien, Alexandria und
Rom. Und diese Juden - das ist
überliefert - hätten sich
keineswegs im „Exil“ gefühlt.
Sand nennt „Vertreibung“ und
„Exil“ schlichtweg „Erfindungen“
zionistischer Ideologen.[xi]
Was die
Verbannung der Juden aus ihrer
Heimat betrifft, stellt Sand
fest: Die Vertreibung von
Völkern war keine Vorgehensweise
der Römer. Sie hätten das schon
aus dem Grund nicht getan, weil
die Bauern in dem von ihnen
eroberten Gebieten die
landwirtschaftlichen Erträge
erwirtschafteten und Steuern
aufbrachten. Die Römer seien
zwar gnadenlos mit
Aufständischen umgegangen,
hätten aber nie unterworfene
Völker vertrieben. Zudem ließe
sich eine solche Vertreibung
weder durch römische Zeugnisse
noch durch Funde belegen.[xii]
Dass 70 n.u.Z. keine Vertreibung
von Juden im großen Stil gegeben
habe, belege auch die Tatsache,
dass es im Jahr 132 n.u.Z. einen
neuen großen Aufstand gegen die
Römer gegeben habe, der auch
niedergeschlagen worden sei. Es
hätten also genug Menschen da
sein müssen, um ihn auszuführen.
Auch nach diesem
Aufstand sei niemand in die
Verbannung geschickt worden. Es
ließe sich nachweisen, dass die
Bevölkerungszahl nach dieser
Rebellion sogar schnell wieder
angestiegen sei.[xiii]
Sand erklärt die Entstehung des
Mythos von der Vertreibung durch
das feindselige Zusammenwirken
von Judentum und Christentum,
nachdem das Christentum im
vierten Jahrhundert
Staatsreligion geworden war. Er
schreibt: „Der Zusammenhang von
Entwurzelung und Sünde, von
Zerstörung und Exil wurde zu
einem integralen Bestandteil
verschiedener Erklärungsansätze
für die Anwesenheit des
Judentums in allen Teilen der
Welt.“[xiv]
Der
britisch-jüdische Historiker
John Rose hat einen anderen
zionistischen Mythos widerlegt -
nämlich den, dass das jüdische
Exil ausschließlich aus Leiden
und Verfolgung bestanden hätte.
Er führt im Einzelnen ganze
Epochen im islamischen und
europäischen Raum auf, in denen
die Juden völlig
gleichberechtigt und sogar hoch
geachtet waren.[xv]
Um den Anspruch
auf Palästina zu begründen,
führt die zionistische Ideologie
den gemeinsamen Ursprung des
jüdischen Volkes an. Es sollte
aus dem Samen der Stammväter
Abraham, Isaac und Jacobs
hervorgegangen sein, was auch
rassisch zu verstehen ist. Das
jüdische Volk sollte also nach
dieser Auffassung eine
festgefügte religiöse und
biologische Einheit bilden.
Shlomo Sand fragt: Wie war es
dann aber möglich, dass aus dem
kleinen Königreich Judäa, aus
dem bestenfalls nur einige
zehntausend Migranten
abgewandert sein könnten,
Hunderttausende oder sogar
Millionen von jüdischen
Bewohnern anderer Länder
hervorgegangen sind? Die Antwort
auf diese Frage ist einfach: Die
Juden kannten damals sehr wohl
die Konversion und Bekehrung.
Schon im Alten Testament finden
sich dafür Belege.
Sand nennt viele
Beispiele für Bekehrung und
Konversion. Die jüdische Mission
weitete sich bis weit in den
heute arabischen und asiatischen
Raum hinaus aus. Die Herrscher
des Königreiches Adiabene im
heutigen Kurdistan und Armenien
traten zum Judentum über. In Rom
missionierten die Juden so
erfolgreich, dass sie Probleme
bekamen. Konvertiten galten
schon in der dritten Generation
als vollwertige Juden. Im Süden
der arabischen Halbinsel (dem
heutigen Jemen) entstand das
jüdische Königreich der Himjaren.
Das mächtige Berberreich in
Nordafrika regierte die zum
Judentum übergetretene mächtige
Königin Kalina. Im nördlichen
Kaukasus und in den Steppen
entlang der Wolga, von Kiew bis
zur Halbinsel Krim entstand im
6. Jahrhundert das Königreich
der Chasaren, das sich zum
rabbinischen Judentum bekehrte
und bis zum 13. Jahrhundert
bestand. Die Konversion erfolgte
wohl aus machtpolitischen
Gründen, weil das Chasarenreich
zwischen dem orthodoxen Byzanz
und dem Kalifat in Bagdad
unabhängig bleiben wollte.[xvi]
Aber
auch nach dem Zerfall des
Chasaren-Reiches führte das
nicht zum Zerfall des Judentums
dort - vor allem in den
slawischen Gebieten. Viele
jüdische Chasaren flohen zu
Beginn des 13. Jahrhunderts vor
dem Mongolensturm der „Goldenen
Horde“ unter ihrem Anführer
Dschingis Khan nach Westen und
kamen in die Ukraine, nach Polen
und Litauen.
Das
Thema der Chasaren war und ist
in Israel ein völliges Tabu.
Warum das so ist, erklärt Shlomo
Sand so: „Die tief sitzende
Angst vor einer Beschädigung der
zionistischen Legitimation, die
dem jüdischen Volk absprechen
würde, ein direkter Nachfahre
der ‚Söhne Israels‘ zu sein,
verband sich mit der
Befürchtung, dass dieser
Legitimationsverlust zur
Anfechtung der Existenz des
Staates Israel führen könnte.
Diese Tendenz verbannte die
Chasaren endgültig aus dem
israelischen Gedächtnis und trug
so dazu bei, dass in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts der
Zusammenhang zwischen den
plötzlich herkunftslosen
Chasaren und dem ‚Volk Israel‘,
das nach zwei Jahrtausenden der
Wanderschaft wieder in seine
ursprüngliche Heimat
zurückgefunden hatte, nahezu
unkenntlich wurde.“[xvii]
Der
jüdisch-zionistische
Schriftsteller Arthur Koestler
hatte schon 1976 ein Buch über
die Chasaren mit dem Titel „Der
dreizehnte Stamm“
veröffentlicht. Es wurde
international viel beachtet
durfte in Israel aber nicht
erscheinen. Sand übernimmt die
These Koestlers, dass die große
Mehrheit der osteuropäischen
Juden chasarischen Ursprungs
ist. Koestler schreibt: Es ist
eine Tatsache, „dass die große
Mehrheit der überlebenden Juden
aus Osteuropa stammt und daher
wohl chasarischen Ursprungs
ist.“
Sand
legt dar, warum dieses Faktum
für Zionisten ein so schwerer
Brocken ist: „Die Eroberung der
‚Stadt Davids‘ [Jerusalem im
Sechs-Tage-Krieg 1967] musste
mehr denn je als Tat der
Nachfahren des davidischen
Reiches gelten als der Sieg der
Nachfahren grausamer
Steppenreiter von den Ufern der
Wolga und des Don oder von
irgendwelchen Hinterwäldlern aus
den südarabischen Wüsten oder
von den Küsten Nordafrikas.“[xviii]
Warum die zionistische
Geschichtsschreibung kein
Interesse hat, die Forschung
über die Chasaren zu
intensivieren, beschreibt Sand
ironisch so: „Niemand möchte die
Steine hochheben, unter denen
die giftigen Spinnen
herumkrabbeln, die dem
Selbstbild der ‚Ethnie‘ und
seinen territorialen Forderungen
schaden könnten.“[xix]
Sand
folgerte also: Das Judentum war
keine verfluchte Rasse, die aus
ihrer Heimat vertrieben wurde
und im Exil, das voller Leiden
und Verfolgung war (die es
natürlich auch gab), auf die
Rückkehr in das gelobte
Heimatland wartete. So gesehen
besaßen die Juden keinen
gemeinsamen ethnischen
Ausgangspunkt, sondern deren
viele in Asien, Afrika und
Europa. Sand definiert es so:
„Das Judentum war schon immer
eine bedeutende, sich aus
verschiedenen Strömungen
zusammen setzende religiöse
Kultur, aber keine wandernde und
fremde Nation.“ Der Gedanke
eines jüdischen Volkes und einer
jüdischen Nation wurde erst im
19. Jahrhundert, im Zeitalter
des Nationalismus, ‚erfunden“,
wobei man, um den Beweis einer
kontinuierlichen Existenz von
Urzeiten an zu erbringen, auf
den biblischen Mythos
zurückgreifen musste, eben auf
David und Salomon und ihr
mächtiges Königreich.
[xx]
Ich
mache jetzt einen Sprung und
komme zum Jahr 1948, dem neben
1967 (dem Ende des
Sechs-Tage-Krieges) sicher
wichtigsten Datum der
israelischen Geschichte. Am 15.
Mai diesen Jahres rief der
Zionistenführer Ben Gurion den
Staat Israel aus, der zuvor
durch einen Beschluss der UNO
(Resolution 181) legitimiert
worden war, gleichzeitig sollte
aber auch ein palästinensischer
Staat entstehen. Zum besseren
Verständnis soll hier der
UNO-Beschluss kurz aufgeführt
werden. Die Abstimmung fand am
29. November 1947 in der
Generalversammlung in New York
statt. Sie entschied mit 33
gegen 13 Stimmen bei zehn
Enthaltungen für die Teilung
Palästinas. Im einzelnen sah der
Teilungsplan vor, dass die
Zionisten, obwohl sie zu diesem
Zeitpunkt nur 5,6 Prozent des
palästinensischen Bodens besaßen
und nur etwa ein Drittel der
Bevölkerung stellten (1 364 330
Araber und 608 500 Juden) 56,47
Prozent des palästinensischen
Landes bekommen würden, wobei
darin die fruchtbaren Teile der
Küstenebene enthalten waren,
hier besonders die Ebene von
Esdraelon und das Tal von
Jezreel. Für die Palästinenser -
also zwei Drittel der
Bevölkerung - blieben also nur
42,8 Prozent des Landes. In dem
Staatsgebiet, das die Vereinten
Nationen den Zionisten zusagten,
besaßen sie nur elf Prozent des
Bodens und waren in jedem
Distrikt in der Minderheit. Den
Rest von 0,7 Prozent des Landes
waren einer internationalen Zone
von Jerusalem und Bethlehem
vorbehalten.[xxi]
Der palästinensische Staat wurde
nie realisiert, weil Israel sich
mit allen Mitteln gegen seine
Entstehung gewehrt hat.
Der
israelische Politologe und
Publizist Simcha Flapan, der als
Vorläufer der „neuen“ Historiker
gilt, hat in seinem Buch „Die
Geburt Israels“ dargestellt, wie
die zionistische Führung die
Vorgänge des Jahres 1948
mythologisiert hat. Flapan
beschreibt als Ziel seines
Buches, die „propagandistischen
Denkstrukturen aufzulösen, die
so lange verhindert haben, dass
in meinem Land die Kräfte des
Friedens an Boden gewinnen
konnten. Die Aufgabe, die den
Intellektuellen und den Freunden
beider Völker zufällt, besteht
nicht darin ad-hoc-Lösungen
anzubieten, sondern die Ursachen
des Nahost-Konfliktes in das
Licht einer aufklärenden Analyse
zu tauchen, in der Hoffnung,
dass man es auf diese Weise
schafft, die Verzerrungen und
Lügen, die mittlerweile zu
sakrosankten Mythen geronnen
sind, aus der Welt zu schaffen.“[xxii]
Flapan zählt sieben Mythen über
das Jahr 1948 auf, die er dann
in seinem Buch zu widerlegen
versucht. Diese Mythen sind:
Erster Mythos: Das
Einverständnis der zionistischen
Bewegung mit der
UN-Teilungsresolution vom 29.
November 1947 stellte einen
entscheidenden Kompromiss dar,
mit dem die palästinensischen
Juden ihre Vorstellung von einem
sich über ganz Palästina
erstreckenden Staat aufgaben und
den Anspruch der Palästinenser
auf einen eigenen Staat
anerkannten. Israel war zu
diesem Opfer bereit, weil es die
Voraussetzung dafür war, dass
die Resolution in friedlicher
Zusammenarbeit mit den
Palästinensern verwirklicht
werden konnte.
Zweiter Mythos: Die arabischen
Palästinenser lehnten eine
Teilung Palästinas kategorisch
ab und folgten dem Aufruf des
Muftis von Jerusalem, dem
jüdischen Staat den totalen
Krieg zu erklären; dies zwang
die Juden, sich auf eine
militärische Lösung einzulassen.
Dritter Mythos: Die Flucht der
Palästinenser aus dem Land,
sowohl vor als auch nach der
israelischen Staatsgründung,
setzte ein als Reaktion auf
einen Aufruf der arabischen
Führung, das Land vorübergehend
zu verlassen, um dann mit den
siegreichen arabischen Armeen
zurückzukehren. Sie traten die
Flucht an trotz der Bemühungen
der jüdischen Führung, sie zum
Bleiben zu veranlassen.“
Vierter Mythos: Alle arabischen
Staaten hatten sich in ihrer
Entschlossenheit, den gerade ins
Leben gerufenen Jüdischen Staat
zu vernichten, vereint und taten
sich am 15. Mai 1948 zusammen,
um in Palästina einzumarschieren
und dessen jüdische Bewohner
hinauszuwerfen. Fünfter Mythos:
Der arabische Einmarsch in
Palästina am 15. Mai - unter
Verstoß gegen die
UN-Teilungsresolution - machte
den Krieg von 1948
unausweichlich. Sechster Mythos:
Der winzige junge israelische
Staat stand dem Angriff der
arabischen Streitkräfte
gegenüber wie David dem Riesen
Goliath: ein zahlenmäßig weit
unterlegenes, schlecht
bewaffnetes Volk, das Gefahr
lief, von einer übermächtigen
Militärmaschinerie zerquetscht
zu werden. Siebter Mythos:
Israel hat seine Hand immer zum
Friedensschluss ausgestreckt,
aber da kein arabischer Führer
je das Existenzrecht Israels
anerkannt hat, gab es nie
jemanden, mit dem man
Friedensgespräche hätte führen
können.
[xxiii]
Flapan spricht in seiner
Entmythologisierung dieser
Mythen erstens von einem rein
taktischen Zugeständnis Israels,
das keineswegs ernst gemeint
war, wenn die Zionisten sagten,
dass sie die Teilung Palästinas
und einen palästinensischen
Staat anerkennen wollten und
ihren Anspruch auf das ganze
Land aufgegeben hätten. Nach den
Vorstellungen der meisten
Zionisten blieb ihr Ziel ein
Großisrael, dazu sollten neben
Israel auch Transjordanien (das
heutige Jordanien), die
Golanhöhen, der Südlibanon und
weite Teile der Sinai-Halbinsel
gehören. Ben Gurion hat immer
wieder betont, dass ein kleiner
jüdischer Staat nur ein
Zwischenschritt sein könne, um
sich von dort aus dann immer
weiter auszudehnen und die ganze
Region zu beherrschen. Er
bekannte: „... dass wir nach dem
Aufbau einer großen Armee im
Anschluss an die Errichtung des
Staates die Teilung aufheben und
uns über ganz Palästina
ausdehnen können.“[xxiv]
Alle
zionistischen Fraktionen waren
sich darin einig, dass die im
UNO-Teilungsbeschluss
festgelegten Grenzen keinen
endgültigen Charakter hatten.
Deshalb enthielt auch die
israelische
Unabhängigkeitserklärung von
1948 keine Aussagen über die
Grenzen des neuen Staates. Von
den Palästinensern als
Verhandlungspartnern war gar
keine Rede mehr. Die Bildung
eines Palästinenser-Staates
wollte Israel unter keinen
Bedingungen zulassen, die
Überlegungen gingen eher in die
Richtung, sie zu „verdrängen“[xxv],
d.h. zu vertreiben. Obwohl man
mit Jordanien ein Geheimabkommen
geschlossen hatte, in dem König
Abdallah versicherte, Israel
nicht angreifen zu wollen und
Israel Jordanien das
Westjordanland zugestand, hatten
die Zionisten weiter Jordanien
im Visier: Ben Gurion bekannte:
„Das Ja zur Teilung verpflichtet
uns nicht zum Verzicht auf
Transjordanien. Man kann von
niemanden verlangen, dass er auf
seine Visionen verzichtet. Wir
werden einen jüdischen Staat in
den heute festgelegten Grenzen
akzeptieren, aber die Grenzen
der zionistischen Vision sind
Sache des jüdischen Volkes und
kein äußerer Faktor wird sie
beschränken können.“[xxvi]
Der
zweite Mythos besagt, dass die
Palästinenser die Teilung
abgelehnt hätten. Das stimmt,
aber sie hatten sehr gute
Gründe, dies zu tun, weil die
UNO-Entscheidung nicht nur
höchst bedenklich und
kritikwürdig war, sondern auch
gegen das Völkerrecht verstieß.
Das oberste Prinzip des
Völkerrechts ist das
Selbstbestimmungsrecht der
Völker, die Palästinenser hatte
man aber gar nicht gefragt,
sondern einfach über sie verfügt
und ihnen das Land weggenommen.[xxvii]
Sie empfanden den Beschluss mit
Recht als höchst ungerecht, weil
ihnen als der
Zwei-Drittel-Mehrheit der
Bevölkerung nur 42 Prozent des
Landes und der jüdischen
Minderheit 56 Prozent
zugesprochen worden waren.
Der
Israeli Pappe ergreift eindeutig
Partei für die Palästinenser,
wenn er Bilanz zieht: „Als die
Resolution 181 im November 1947
angenommen wurde, sahen [die
Palästinenser] ihren schlimmsten
Albtraum wahr werden: Neun
Monate nachdem die Briten ihren
Entschluss verkündet hatten, das
Land zu verlassen, waren die
Palästinenser auf Gedeih und
Verderb einer internationalen
Organisation ausgeliefert, die
offenbar bereit war, alle
internationalen
Vermittlungsregeln außer Acht zu
lassen, die ihre eigene Charta
vorsah, und eine Lösung zu
beschließen, die in den Augen
der Palästinenser sowohl
rechtswidrig als auch
unmoralisch war.[xxviii]
Die
Behauptung, dass die
Palästinenser Krieg wollten, ist
unsinnig, denn sie hatten gar
keinen Staat und keine Armee.
Der Mufti von Jerusalem Hadschi
Amin al-Husseini hatte eine
Truppe unter seinem Befehl, die
aber militärisch völlig
bedeutungslos war. Viele
palästinensische Führer, so
schreibt der Israeli Simcha
Flapan, waren bereit, einen
Modus vivendi mit den Zionisten
zu finden: „Es ist jedoch
gleichermaßen klar, dass sie von
einem Krieg um jeden Preis gegen
die Juden nichts wissen wollten
und dass sie allmählich
verstanden, dass die Teilung
unvermeidlich und unumstößlich
war. Die Beweise dafür sind so
überwältigend, dass sich die
Frage stellt, wie der Mythos von
einem heiligen Krieg der
Palästinenser gegen die Juden
überhaupt entstehen und sich so
lange halten konnte. Ein Grund
dafür dürfte neben der in dieser
Hinsicht äußerst wirksamen
zionistischen Propaganda darin
liegen, dass die Araber nach
ihrer Niederlage von 1948/49 nur
ungern zugaben, dass sie zuvor
bereit gewesen waren, sich unter
gewissen Voraussetzungen mit der
Tatsache der Teilung
abzufinden.“[xxix]
Es
gibt mehrere Aussagen von Ben
Gurion, die das belegen. Am 14.
März 1948 schrieb er etwa an
Moshe Sharett: „Es steht jetzt
ohne den geringsten Zweifel
fest, dass, wenn wir es einzig
und allein mit den
Palästinensern zu tun hätten,
alles in Ordnung wäre. Sie, die
überwältigende Mehrheit von
ihnen, wollen nicht gegen uns
kämpfen, und in ihrer Gesamtheit
sind sie auch nicht in der Lage,
es mit uns aufzunehmen, selbst
beim jetzigen Stand unserer
Organisation und Ausrüstung.“[xxx]
Auf der palästinensischen Seite
gab es die Bereitschaft zur
Verständigung, die zionistische
Seite verfolgte aber weiter ihre
Vision, ihr ideologisches Ziel
zu erreichen, den homogenen
jüdischen Staat mit möglichste
wenigen Palästinensern.
Der
dritte Mythos betrifft die
Behauptung, dass die
Palästinenser freiwillig - auf
Geheiß ihrer Führer - das Land
verlassen hätten, was klar durch
die Abfolge der Ereignisse
widerlegt wird. Ilan Pappe zog
aus dem UNO-Teilungsbeschlusses
die Schlussfolgerung: „Wenn in
einer höchst angespannten
ethnischen Realität eine
Ideologie der Exklusivität
vertreten wird, kann das nur zu
einem einzigen Ergebnis führen:
zu ethnischen Säuberungen.“[xxxi]
Genau das trat nun ein.
Was
nun folgte, war nicht ein Krieg
gegen die Araber, bei dem es
„tragischerweise, aber
unvermeidbar“ zur Vertreibung
von Teilen der palästinensischen
Bevölkerung gekommen ist, wie
die offizielle zionistische
Version bis heute lautet. Nicht
nur Ilan Pappe behauptet, dass
es in Wirklichkeit umgekehrt
war: Hauptziel war die ethnische
Säuberung ganz Palästinas, um
den neuen Staat der Zionisten
schaffen zu können. Pappe
definiert den Begriff ethnische
Säuberung so: „Sie ist ein
Bestreben, ein ethnisch
gemischtes Land zu
homogenisieren, indem man eine
bestimmte Menschengruppe
vertreibt, zu Flüchtlingen macht
und die Häuser zerstört, aus
denen sie vertrieben wurden.“
Die entscheidende Frage ist, ob
dem Vorgehen der Zionisten ein
Plan zu Grunde lag, auf dessen
Grundlage die ethnische
Säuberung durchgeführt wurde.[xxxii]
Pappe bejaht diese Frage. Am 10.
März 1948 autorisierte die
Beratergruppe von Ben Gurion den
Plan D (Dalet), anschließend
billigte das Hagana-Kommando
ihn, dann ging er in Form von
militärischen Befehlen an die
Truppen vor Ort. In der von der
Geheimdienstabteilung der Hagana
erarbeiteten Blaupause des Plans
Dalet heißt es: „Die Operationen
lassen sich folgendermaßen
durchführen: entweder durch
Zerstörung von Dörfern (indem
man sie in Brand setzt, sprengt
und die Trümmer vermint) und
insbesondere von Wohngebieten,
die auf die Dauer schwer zu
kontrollieren sind, oder durch
Durchsuchungs- und
Kontrolloperationen nach
folgenden Richtlinien: Umstellen
und Durchkämmen der Dörfer. Im
Fall von Widerstand sind die
bewaffneten Kräfte auszuschalten
und die Einwohner über die
Landesgrenzen zu vertreiben.“[xxxiii]
Ben Gurion schrieb in sein
Tagebuch: „Es ist jetzt
notwendig, energisch und brutal
zu reagieren. Wir müssen
Zeitpunkt, Ort und die, die wir
angreifen, sorgfältig auswählen.
Wenn wir eine Familie
beschuldigen, müssen wir
erbarmungslos gegen sie
vorgehen, Frauen und Kinder
eingeschlossen. Sonst ist es
keine effektive Reaktion.
Während der Operation ist es
nicht nötig, zwischen schuldig
und unschuldig zu
unterscheiden.“[xxxiv]
Aber
schon ab Dezember 1947 - also
einen Monat nach dem
UNO-Teilungsbeschluss - gingen
die zionistischen
Militäroperationen über
Vergeltungsschläge und
Strafaktionen hinaus zu
Säuberungsaktionen über, die
zunächst innerhalb des den
Zionisten von der UNO
zugestandenen Staatsgebietes
stattfanden. Und dies alles in
dem vollen Wissen, dass die
Palästinenser sich moderat und
ruhig verhielten und für die
Zionisten keine Gefahr
darstellten. Das gestand sogar
Ben Gurion ein. Er glaubte ja,
dass die Mehrheit der
Palästinenser die Teilung
akzeptiere und nicht zu den
Waffen greifen wolle.[xxxv]
Flapan beschreibt die Stimmung
unter den Palästinensern 1947/48
so: „Untereinander zutiefst
zerstrittene Parteien, die kein
gemeinsames Programm hatten, und
eine Volksmasse, die keinerlei
Druck auf ihre politischen
Vertreter ausübte und nicht
bereit war, sich in den heiligen
Krieg zu stürzen.“[xxxvi]
Ganz anders war die Stimmung im
zionistischen Lager. Man empfand
die Situation als äußerst
günstig, „vollendete Tatsachen“
zu schaffen. Denn die Schwäche
und Passivität der Palästinenser
waren der zionistischen Führung
natürlich bekannt.
Was
nun begann, war ein grausamer
und brutaler Krieg gegen die
palästinensische
Zivilbevölkerung, die sich so
gut wie nicht wehren konnte. Da
die Briten nach dem Aufstand
1936-1939 das Entstehen einer
politischen Struktur unter den
Palästinensern verhindert und
ihre Führer vertrieben hatten,
verfügten sie über keinerlei
militärische Streitmacht. Die
„Arabische Befreiungsarmee“, die
aus syrischen Freiwilligen
bestand, hatte im Januar 1948
gerade einmal 1500 Soldaten
unter Waffen, im Mai desselben
Jahres waren es knapp 4000
Soldaten. Die Truppe war
militärisch völlig
bedeutungslos.
Das
Ziel der Zionisten war nicht -
das muss hier gesagt werden - ,
einen Völkermord an den
Palästinensern zu begehen,
sondern Angst, Schrecken und
Panik unter ihnen zu verbreiten,
um sie so aus dem Land zu
vertreiben. Dabei spielte aber
Rücksicht auf menschliches Leben
keine Rolle. Mordechai Maklef
etwa, der Operationschef der
Carmeli-Brigade, gab seiner
Truppe den Befehl: „Tötet jeden
Araber, den ihr trefft, setzt
alles Brennbare in Brand und
sprengt die Türen auf!“[xxxvii]
Er wurde später Stabschef der
israelischen Armee.
Dörfer wurden mit
Artilleriebeschuss oder aus der
Luft angegriffen, anschließend
drangen die Soldaten in sie ein,
besetzten sie und zwangen die
Menschen zur Flucht. Dann wurden
die Häuser gesprengt und die
Trümmer anschließend vermint, um
die Rückkehr der Menschen
unmöglich zu machen. Oft ließ
man die Häuser auch
unbeschädigt, damit jüdische
Siedler sie direkt übernehmen
konnten. Erschießungen, auch
Massaker waren an der
Tagesordnung, vor allem von
Männern im wehrfähigen Alter.
Das Massaker von Deir Yassin
erlangte traurige Berühmtheit.
Truppen der Terrorgruppen Irgun
und Stern besetzten das Dorf -
ihre Anführer waren Menachim
Begin und Jitzhak Shamir. Über
die Zahl der Toten gibt es
verschiedene Angaben, je nachdem
ob die Dorfbewohner, die sich
gewehrt haben, mitgezählt werden
oder nicht. Pappe nennt 93
Opfer, schränkt aber ein, dass
Dutzende weitere getötet wurden.
Andere Quellen sprachen von bis
zu 250 Toten.
Die
Wirkung dieses und anderer
Massaker auf die Bevölkerung
anderer palästinensischer Dörfer
war ungeheuer. Die Menschen
wurden von Panik ergriffen und
flüchteten mit dem Schrei „Deir
Yassin!“ Es gab viele Deir
Yassins. Ohne großen Widerstand
konnten die zionistischen
Truppen dann weitere arabische
Siedlungen einnehmen.
Kalkulierte Massaker gehörten
ganz offensichtlich zur
Vertreibungspolitik der
Zionisten.
Die
Bilanz der ethnischen Säuberung
war furchtbar: 531 Dörfer und
elf Städte wurden zerstört und
entvölkert, etwa 800 000
Menschen hatten die jüdischen
Truppen vertrieben - die Hälfte
des palästinensischen Volkes. Es
gab Tausende Tote. Pappe
bezeichnet diese ethnische
Säuberung als nach heutigem
Völkerrecht als „Verbrechen
gegen die Menschlichkeit“[xxxviii].
Und er fragt: Wie war das
möglich drei Jahre nach dem
Holocaust?[xxxix]
Zum
vierten, fünften, sechsten und
siebten Mythos. Darin geht es um
die Behauptung, dass die
arabischen Armeen, die am 16.
Mai in Palästina einmarschierten
unter Verstoß der
Teilungsresolution den jungen
Staat Israel vernichten wollten.
Israel habe immer die Hand zum
Frieden ausgestreckt, die Araber
hätten sie aber immer
ausgeschlagen.
Der
Krieg in Palästina begann nicht
mit der Invasion der arabischen
Armeen am 15. Mai 1948 - also
dem Tag der Ausrufung des
Staates Israel - , sondern
unmittelbar nach dem
Teilungsbeschluss der UNO am 27.
November 1947, denn schon im
Dezember griffen die Zionisten
palästinensische Städte und
Dörfer an. Diese Überfälle
wurden zunächst als
Vergeltungsschläge auf
palästinensische Unruhen hin
dargestellt, nahmen aber schon
kurze Zeit später eindeutig den
Charakter einer ethnischen
Säuberung an.
Die
jüdischen Truppen begannen ihr
Angriffe auf palästinensische
Städte und Dörfer also schon
lange vor dem Mai 1948. Anfang
Januar marschierte die
„Arabische Befreiungsarmee“ ein,
mit deren wenigen Kämpfern die
jüdischen Truppen aber keine
Probleme hatten. Am 10. März war
der Plan D beschlossen worden.
Bis Ende März konnten die
jüdischen Verbände fast alle
wichtigen palästinensischen
Städte erobern. Bis zum 15. Mai
waren schon unzählige Dörfer
zerstört und etwa 250 000
Palästinenser vertrieben worden.
Die zionistischen Truppen hatten
in dieser Zeit auch schon
Gebiete besetzt, die von der UNO
eigentlich für den
palästinensischen Staat
vorgesehen waren. Erst in dieser
Situation beschlossen die
Araber, eine Armee nach
Palästina zu schicken.
Die
Äußerungen zionistischer
Politiker, dass man sich
keineswegs von den Arabern
bedroht fühlte und die
militärische Stärke ihrer Armeen
nicht hoch einschätzte, sind
Legion. So schrieb Ben Gurion in
dieser Zeit an Moshe Sharett:
„Wenn wir die Waffen, die wir
bereits gekauft haben,
rechtzeitig erhalten, und
vielleicht einige, die die UN
uns versprochen haben, können
wir uns nicht nur verteidigen,
sondern auch den Syrern im
eigenen Land tödliche Schläge
versetzen - und ganz Palästina
einnehmen. Daran hege ich
keinerlei Zweifel. Wir können es
mit den gesamten arabischen
Truppen aufnehmen. Das ist kein
Wunderglaube, sondern kühle,
nüchterne Berechnung aufgrund
praktischer Untersuchungen.“[xl]
Wie
euphorisch die Zionisten ihre
Siegeschancen einschätzten,
macht ein Eintrag Ben Gurions in
sein Tagebuch deutlich. Er
schrieb diese Sätze am 25. Mai
1948, also wenige Tage nach dem
Einmarsch der arabischen Armeen:
„Wir werden einen christlichen
Staat im Libanon schaffen,
dessen Südgrenze der Litani sein
wird. Wir werden Transjordanien
brechen, Amman bombardieren und
seine Armee vernichten. Und wenn
Ägypten immer noch weiter kämpft
- dann bombardieren wir Port
Said, Alexandria und Kairo. Das
wird die Vergeltung für das, was
sie (die Ägypter, Aramäer und
Assyrer) unseren Vorfahren in
biblischer Zeit angetan haben.“[xli]
Schon 1947 hatte der Chef des
nationalen Hagana-Oberkommandos,
Israel Galili, erklärt, die
Hagana-Führung sei überzeugt,
dass sie jeden Angriff der
Araber zurückschlagen könne.[xlii]
Diese Sätze klingen nicht so,
als hätten die Zionisten Angst
vor den Arabern gehabt. Und
Israel bekam die Waffen, von
denen Ben Gurion gesprochen
hatte. Die Sowjetunion, die
Tschechoslowakei und Frankreich
lieferten allerneueste
Militärtechnik: Flugzeuge,
Artilleriegeschütze, Mörser,
Panzer, Funkgeräte und anderes
Material. Außerdem kam
personelle Verstärkung aus
Europa. Das militärische
Kräfteverhältnis schlug deutlich
zugunsten Israels aus. Die
Araber waren dagegen schlecht
ausgerüstet, besaßen veraltete
Waffen und schon bald hatten sie
Probleme mit dem Nachschub, vor
allem fehlte es an Munition.
„Die
Araber wussten, dass sie den
jüdischen Staat nicht besiegen
konnten. (...) Über viele Kanäle
standen sie mit den Zionisten in
Kontakt, um den Krieg doch noch
zu vermeiden.“[xliii]
Sie
begannen sich mit den neuen
Realitäten - der Teilung
Palästinas - zu arrangieren. Wie
wenig sie davon überzeugt waren,
den Krieg gegen Israel gewinnen
zu können, belegen zwei
Tatsachen: Erstens schickten sie
weniger als die Hälfte ihrer
Streitkräfte nach Palästina und
ernannten zweitens ausgerechnet
den jordanischen König Abdallah
- den Verbündeten Israels - zu
ihren Oberkommandierenden.
Israel und Abdallah verfolgten
dasselbe Ziel: Mit allen Mitteln
die Bildung eines
palästinensischen Staates zu
verhindern. Flapan sieht deshalb
die Invasion der arabischen
Armeen gar nicht in erster Linie
gegen Israel gerichtet, sondern
gegen König Abdallah und seine
Absicht, Teile Palästinas zu
annektieren und ein
großsyrisches Reich zu
errichten. Sie wollten außerdem
aber auch die inzwischen von
Israel gewaltsam eingenommenen
Gebiete zurückerobern, die dem
palästinensischen Staat
zugesprochen worden waren.
Die
Palästinenser verhielten sich
eher passiv. Sie waren nicht
bereit zu kämpfen. Der
israelische Geheimdienstmann
Ezra Danin meldete: „Die
Dorfbewohner lassen keinen
Kampfeswillen erkennen“.[xliv]
Bei der Sitzung von Ben Gurions
Beratergruppe Mitte Februar 1948
bestätigten alle Anwesenden
ausnahmslos, „dass das ländlich
Palästina keinerlei Kampf- oder
Angriffswillen zeigte und
wehrlos war.“ Ben Gurion zog
daraus die Schlussfolgerung,
dass es am besten sei, „die
ländlichen Gebiete weiter (...)
durch eine Serie von Offensiven
zu terrorisieren, damit die
gemeldete passive Stimmung
anhält.“[xlv]
Israel war militärisch so stark,
dass es einen Krieg an zwei
Fronten führen konnte: gegen die
arabischen Armeen und gegen die
Palästinenser, gegen die sich ja
die ethnische Säuberung
richtete. Angesichts dieses
asymmetrischen
Kräfteverhältnisses spricht Ilan
Pappe sogar von einem
„Scheinkrieg“. Er sieht es als
blanken Zynismus an, wenn Israel
behaupte, es habe einen Kampf
ums Überleben geführt.[xlvi]
Israel hatte den Krieg gegen die
Araber bald gewonnen und Ben
Gurion bekannte selbst, was die
Ursache dieses Erfolges war:
„Sehen wir doch der Wahrheit ins
Auge: Wir haben nicht gesiegt,
weil wir Wunder vollbracht
haben, sondern weil das
arabische Militär verrottet
ist.“[xlvii]
Die Behauptung, dass das kleine
Israel sich heldenhaft gegen
eine arabische Übermacht
behauptet habe, entpuppt sich
ebenso als Mythos wie die
Behauptung, dass die
Palästinenser auf Anordnung
ihrer Führer ihre Heimat
verlassen hätten. Damit ist auch
das israelische Argument, das
bis heute gebraucht wird,
hinfällig, dass der jüdische
Staat nicht einmal eine
Teilverantwortung für die
Tragödie der Palästinenser
trage, ganz zu schweigen von der
Anerkennung ihres Rechtes auf
Rückkehr.
Dennoch hatte sich - aus
israelischer Sicht - das Setzen
der Zionisten auf die
kriegerische Karte gelohnt.
Israel hatte auf ganzer Linie
gesiegt. Es hatte die Schaffung
eines palästinensischen Staates
erfolgreich verhindert und
seinen eigenen Staat ins Leben
gerufen. Durch die Vertreibung
von über 800 000 Palästinensern
und die Zerstörung von Hunderten
von Städten, Stadtvierteln und
Dörfern schufen die Zionisten
Raum für jüdische Siedler.
Anstatt der von der UNO
zugesagten 56 Prozent für ihr
Staatsgebiet besaßen sie nun
nach dem Waffenstillstand von
1949 durch Eroberungen 72
Prozent Palästinas, das
Westjordanland kam zu Jordanien
und der Gazastreifen zu Ägypten
- sie machten die restlichen 22
Prozent aus.
Israel hatte aber dadurch, dass
es ganz auf die Kraft seiner
Waffen gesetzt und einen
Friedensvertrag mit den Arabern
abgelehnt hatte, eine wichtige
Entscheidung für seine Zukunft
gefällt: gegen den friedlichen
Ausgleich mit seinen arabischen
Nachbarn und damit gegen eine
Integration des jüdischen
Staates in den Nahen Osten. Von
damals an bis heute setzt Israel
bei seiner Sicherheit allein auf
militärische Stärke und auf die
Überlegenheit über seine
Nachbarn, aber es hat keine
Friedenspolitik, ist nicht
bereit Kompromisse einzugehen
oder Konzessionen zu machen. Der
israelische Anthropologe Jeff
Halper schreibt: „Israel strebt
die Herrschaft und
Vormachtstellung an, die aber
nur unilateral erreicht werden
können; Verhandlungen erweisen
sich damit als überflüssig und
irrelevant.“[xlviii]
Der
„neue“ israelische Historiker
Benny Morris, der heute dem
politisch rechten Lager
zuzuordnen ist, schreibt in
seinem Buch „Righteous victims“:
„Warum also sich anstrengen für
einen Frieden, der mit
bedeutenden territorialen
Konzessionen einhergeht?“ Das
ist genau die Linie, die Ben
Gurion vorgegeben hatte und die
bis heute gilt: „Israel wird
keine Gespräche führen über
einen Frieden, der mit
irgendwelchen territorialen
Zugeständnissen verbunden ist.“
Morris bezichtigt Ben Gurion
sogar der Lüge: „Jahrzehntelang
belog Ben Gurion, und ebenso
taten dies nachfolgende
Regierungen, die israelische
Öffentlichkeit über die
Friedensbemühungen nach 1948 und
über das arabische Interesse an
einem Übereinkommen. Die
arabischen
Führungspersönlichkeiten (möglichweise
mit der Ausnahme von Abdullah)
wurden insgesamt als eine
Ansammlung von störrischen
Kriegstreibern dargestellt, die
auf Teufel komm raus Israels
Zerstörung im Sinn haben. Die
Öffnung der israelischen Archive
in der jüngsten Zeit bildet ein
sehr viel komplexeres Bild der
Lage.“[xlix]
Pappe resümiert: Israel verfolgt
bis heute die politischen Ziele,
die es auch im Krieg von 1948 zu
realisieren versucht hat:
möglichst viel palästinensisches
Land in Besitz zu nehmen und
einen homogenen jüdischen Staat
ohne Palästinenser zu schaffen.
Er schreibt: „Die Ideologie, die
es ermöglicht hat, 1948 die
Hälfte der heimischen
Bevölkerung zu vertreiben, ist
nach wie vor lebendig und
betreibt weiter die
unerbittliche, zuweilen
unmerkliche Säuberung des Landes
von den Palästinensern, die
heute dort leben.“[l]
1948/49 wäre nach dem Urteil der
neuen Historiker die Anerkennung
Israels durch die Araber also
möglich gewesen, wenn der junge
Staat bei der Rückkehr der
Flüchtlinge und bei der
Festlegung von territorialen
Grenzen kompromissbreit gewesen
wäre. Eine solche Entwicklung
wäre zum Vorteil Israels
gewesen, auch wenn der Zionismus
so nicht hätte weiter existieren
können. Aber Israel wäre dann
ein ganz normaler Staat in der
Levante geworden und hätte mit
dem dann entstandenen
palästinensischen Staat in guter
Nachbarschaft zusammen leben
können. Das hätte bedeutet, dass
Israel Land entsprechend dem
UNO-Teilungsbeschluss hätte
abgeben und Einwanderung von
Juden hätte einschränken müssen.
Das wäre der Preis für den
Frieden gewesen. Aber Israels
Politiker entschieden anders.
Es
gibt weitere Mythen, die von den
„neuen“ Historiker ausführlich
untersucht und widerlegt worden
sind. Ich kann hier nur
andeuten, um welche
Themenbereiche es sich dabei
handelt. Israel behauptet bis
heute, dass es sich gegen eine
feindliche arabische Außenwelt
und Terrorismus verteidigen
müsse und deshalb gegen seinen
Willen in Kriege hineingezogen
worden sei. Der israelische
Militäranalytiker Zeev Maoz, der
in der israelischen Armee
gedient, drei Kriege mitgemacht
und heute hohe Stellungen in
strategischen Denkfabriken in
Israel und den USA innehat, hat
2009 ein Buch mit dem Titel „Defending
the Holy Land. A critical
Analysis of Israels Security and
Foreign Policy“. In diesem 700
Seiten umfassenden Werk versucht
er den Nachweis zu erbringen,
dass Israel nie das Opfer
arabischer Aggression war. Für
ihn sind sämtliche Kriege
Israels - mit Ausnahme des
Krieges von 1948 -
Angriffskriege gewesen.
Woraufhin ihm, sein Kollege
Motti Golani sofort heftig
widersprach, denn er hält auch
den Krieg von 1948 für einen
„war of choice“, also einen von
Israel begonnenen Krieg.
Ein
weiterer Mythos ist die
Behauptung, dass die arabischen
Staaten 1948 und in der Zeit
danach Hunderttausende von Juden
vertrieben hätten. Der
israelische Historiker Tom Segev
weist in seinem Buch „Die ersten
Israelis“ nach, dass Israel
diese Menschen selbst ins Land
geholt hat, indem es Agenten in
diese Staaten schickte, die die
Juden dort zur Auswanderung
überreden sollten. Es wurde an
die Regierungen der betroffenen
Staaten auch viel Geld gezahlt,
um diese Menschen ziehen zu
lassen, die Israel brauchte,
weil es Land erobert hatte, aber
zu wenig Siedler hatte, um es zu
bewirtschaften.
Tom
Segev hat in seinem Buch „Die
siebte Million“ das sehr heikle
Kapitel des Verhältnisses
Israels zu den
Holocaust-Überlebenden
untersucht. Israel leitet seine
Identität ja aus dem Holocaust
ab und versteht sich ja als
„Staat der Überlebenden“. Segev
belegt, dass die zionistische
Führung in Palästina während des
Dritten Reiches enge Beziehungen
zur NS-Führung unterhielt, dass
sie dem Schicksal der Juden in
Europa ziemlich gleichgültig
gegenüberstand, weil für sie der
Aufbau des jüdischen Staates
dort absolut vorrangig war. Man
wollte auch keineswegs alle
bedrohten Juden als Einwanderer
haben, sondern nur die, die
etwas zum Aufbau des Staates
beitragen konnten, d.h. die
gesunden, kräftigen und
beruflich qualifizierten.
Dieselben Kriterien galten auch
nach dem Krieg. Die Zionisten
wollten nur diejenigen
Überlebenden aufnehmen, die den
Erfordernissen des Landes
entsprachen. Man sprach sogar
von „unerwünschten
Menschenmaterial“, dem man die
Einwanderung verweigerte.
Die
„neuen“ Historiker wollen und
wollten nicht nur den Zionismus
und seine Geschichtsschreibung
entmythologisieren, sie wollten
natürlich auch Einfluss auf
Israels Politik nehmen und diese
in Richtung einer gerechten
Lösung des Nahostkonflikts
lenken. Simcha Flapan hat das
deutlich ausgesprochen und auch
Ilan Pappe weist immer wieder
darauf hin, wie eng die
Ergebnisse historiographischer
Forschungen und die mögliche
Schaffung einer anderen Politik
miteinander zusammenhängen. Er
hofft, „dass ein solches
historisches Wissen den
Zusammenhang zwischen der
Gewalt, die in diesem Land tobt
und den historischen Wurzeln und
dem ideologischen Hintergrund
des Zionismus, wie er sich über
die Jahre entwickelt hat,
herstellen kann.“[li]
Er
nennt ein Beispiel: die Zukunft
der palästinensischen
Flüchtlinge. Die Lösung dieser
Frage sei eng mit der
Verantwortung für die
Vertreibung verbunden. Oder
präziser: Die Forderung nach
einem Rückkehrrecht dieser
Menschen basiere auf einer
bestimmten Interpretation der
Vergangenheit. Man müsse also
das palästinensische
Geschichtsnarrativ mit dem
Friedensprozess direkt in
Verbindung bringen. Er schreibt:
Der Kampf gegen die falschen und
erfundenen Mythologien wird erst
dann vorbei sein, „wenn die Übel
der ethnischen Säuberung durch
die Rückkehr der Flüchtlinge von
1948 in ihre Heimat Israel
korrigiert werden und wenn ein
Staat, der auf Gleichheit in
jedem menschlichen und
bürgerlichen Aspekt des Lebens
aufbaut, geschaffen worden ist.“[lii]
Es
verwundert nicht, dass Pappe
gemessen an dieser Hoffnung
kürzlich in einem Interview auf
die Frage, was denn die „neuen“
Historiker mit ihrer
aufklärerischen Arbeit bisher in
Israel politisch bewirkt hätten,
offen antwortete: „Nichts,
absolut gar nichts!“[liii]
Ich
muss zum Schluss auch noch auf
Moshe Zuckermann zu sprechen
kommen, der Geschichte und
Philosophie an der Universität
von Tel Aviv lehrt. Er ist ein
Sohn von Holocaustüberlebenden
und hat auch längere Zeit in
Deutschland gelebt. Zuckermann
hat sich in einigen Büchern
kritisch mit dem Umgang der
Israelis und Deutschen mit dem
Holocaust beschäftigt. In seinem
letzten Buch setzt er sich mit
Antisemitismus-Vorwurf
auseinander. Der Titel dieses
Buches gibt schon die Richtung
an, in der seine Argumentation
verläuft: „‚Antisemitismus!‘ Ein
Vorwurf als
Herrschaftsinstrument“.
Zuckermann nennt zunächst „objektive
Gründe für eine berechtigte, ja
notwendige Israel-Kritik. Denn
man mag gewisse Aspekte der
zionistischen Geschichte noch so
raffiniert wegdiskutieren oder
in Klammer setzen wollen -
niemand (außer total
verblendeten Ideologen) kann in
Abrede stellen, dass Israel seit
1967 ein brutales, von Menschen-
und Völkerrechtsübertretungen
befrachtetes, oft in tödliche
Praktiken und massive
Gewalteruptionen ausartendes
Okkupationsregime unterhält,
welches von allen israelischen
Regierungen in der Zeit seines
Bestehens massiv gefördert und
permanent gefestigt worden ist
und mittlerweile als nahezu
unbezähmbar erscheint. Wer dies
nicht registriert, bevor er
anfängt, sich über
antisemitische/antizionistische
Auslassungen zu echauffieren,
muss sich fragen, wie er sich
seine eigene offenkundige
Blindheit/Ignoranz/Verdrängung
erklärt; was es mit den
Regungen, die ihn offenbar
umtreiben, auf sich haben mag,
und wie diese wohl mit seinen
eigenen (deutschen)
Befindlichkeiten
zusammenhängen.“[liv]
Zimmermann stellt auch fest,
dass die Notwendigkeit, nach dem
Holocaust einen Staat für die
Juden zu errichten, mit der
Katastrophe des
palästinensischen Volkes bezahlt
wurde. Zuckermann schreibt: „Wer
dies bewusst ignoriert oder
vorbewusst verkennt, mag sich
mit dem guten Gefühl
herumtragen, seiner
(schuldbeladenen) Verantwortung
‚den Juden‘ gegenüber Genüge zu
tun, darf indes nicht
beanspruchen, die Logik des
blutigen Konflikts zwischen
Israelis und Palästinensern
angemessen begriffen, geschweige
denn beurteilt zu haben.[lv]
Die
Araber sind, schreibt
Zuckermann, als Resultat des
politischen Territorialkonflikts
natürlicherweise antizionistisch
eingestellt. Eine solche Kritik
würde aber, wenn sie aus Europa
kommt, in Israel von vornherein
als tendenziell „antisemitisch“
eingestuft. Zuckermann schreibt:
„Antizionismus und
Antisemitismus gerinnen somit
vielen Israelis und
nicht-israelischen Juden zu
einem Einheitsbrei, den sie nun
instrumentalisieren, um die in
der Sache berechtigte Kritik an
Israels Politik abzuwehren,
wobei der Vorwurf des
Antisemitismus zumeist wenig mit
dem realen Antisemitismus zu tun
hat.“[lvi]
Wenn
man also Antisemitismus,
Antizionismus und Kritik an
Israel nicht voneinander
unterscheidet, tappe man in die
Falle des
Antisemitismus-Vorwurfs, der
aber längst schon zur
ideologischen Waffe verkommen
sei, mit der jede Kritik an
Israels Politik entschärft
werden solle. Zuckermann dreht
die Argumentation sogar um: „Mit
dem Antisemitismus
argumentierende Israelapologeten
verkennen dabei vollends, dass
sie einer Politik das Wort
reden, die deshalb als
antizionistisch zu werten ist,
weil sie den geschichtlichen
Fortbestand des zionistischen
Staates, mithin des gesamten
zionistischen Projekts, im
innersten in Frage stellt.“[lvii]
D. h., wer eine
realitätsbezogene Kritik an
Israel zu verhindern versucht
und sie als „antisemitisch“
diffamiert, schadet Israel, weil
dessen Politik gegenüber den
Palästinensern eine Gefahr für
den Fortbestand dieses Staates
ist.
Zuckermann kritisiert aber auch
Tendenzen in Deutschland, sich
diesen Antisemitismus-Begriff zu
eigen zu machen. Er schreibt:
„Dass er [der
Antisemitismus-Vorwurf] zum
ideologischen Modeschmuck von
deutschen ‚Linken‘ verkommen
konnte, bezeugt nicht nur das
Elend der Linken in Deutschland,
nicht nur die Misere der
Bekämpfung des realen
Antisemitismus in diesem Land,
sondern auch die horrend-perfide
ideologische Verdinglichung von
‚Shoah‘, ‚Juden‘, ‚Israel‘ und
‚Zionismus‘. Ein Gespenst geht
um in Deutschland - das Gespenst
regressiver Bewältigung der
Vergangenheit.“[lviii]
Hinweise
[viii]
Finkelstein/ Silbermann
S.39.
[xxi]
Siehe UNO-Resolution
181, November 1947.
[xxiv]
Ben Gurion, David:
Memoiren, Tel Aviv 1974,
Bd. 4,5, S.35, zit.n.
Flapan S. 34
[xxvi]
Ben Gurion:
Kriegstagebücher, 27.9.
1948, S. 726; zit.n.
Flapan S. 79.
[xxx]
DDD (Political and
Diplomatic Documents of
CZA and ISA), Decemer
1947 - May 1948,
Jersualem 1979; zit.n.
Flapan S. 108.
[xxxiii]
Khalidi, Walid: Plan
Dalet: Master-Plan for
the Conquest of
Palestine“, Journal of
Palestine Srudies 18/69
(Herbst 1988, S. 4-20),
zit.n. Pappe 2011 S.
120f.
[xxxiv]
Ben Gurion: Diary
31.1.1948, zit.n. Pappe
2007 S. 105.
[xxxv]
Pol. and Dipl. Doc 274,
S. 260; zit.n. Pappe
2007 S. 94.
[xxxvii]
Hagana Archives 69/72,
22:4 1948; zit.n.
Pappe2007 S. 136.
[xl]
Ben Gurion: Briefe
23.2.-1.03.1948; zit.n.
Pappe 2007 S.76.
[xli]
ders.: Diary 24.5. 1948,
zit. n. Pappe 2007
S.198.
[xlii]
Tsur, Tsev: From
Partition S. 61, zit.n.
Flapan S. 287.
[xliii]
Flapan S. 181f, 192f,
199f, 289f.
[xliv]
Zit.n. Pappe s. 2007 S.
116.
[xlv]
Ben Gurion Diary
19.2.1948; zit. n. Pappe
2007 S. 117.
[xlvii]
Ben Gurion
Kriegstagebücher
11.11.1948, S. 852f;
zit.n. Flapan S. 358.
[xlviii]
Halper, Jeff: Das
Problem mit Israel
(Aufsatz), 16.11.2006,
S. 11.
[xlix]
Morris. Benny: Righteous
Victims 1999, S. 288;
zit.n. Halper ebd. S. 4
[liii]
Interview mit Ilan
Pappe, online-Zeitung
Schattenblick,
15.12.2011.
[liv]
„Antisemit!“, S. 108.
[lv]
Zuckermann, Moshe:
Israelkritik ist kein
Antisemitismus,
Friedens.Journal,
2/2011, S. 9.
[lviii]
„Antisemit!“, S. 181f.
Literatur-Verzeichnis
Vortrag LIS:
(Es sind
hier ausschließlich die
Namen von israelischen
oder jüdischen Autoren
angegeben, die zum
Umkreis der „neuen“
Historiker gehören.)
Zu
Israel und Zionismus
allgemein:
Chomsky, Noam: Offene
Wunde Nahost. Israel,
die Palästinenser und
die Nahostpolitik,
Hamburg 2003
Diner, Dan: „Keine
Zukunft auf den Gräbern
der Palästinenser“. Eine
historische Bilanz der
Palästina-Frage, Hamburg
1982
Meyer, Hajo G.:
Judentum, Zionismus,
Antizionismus. Versuch
einer
Begriffsbestimmung,
Berlin 2009
Pappe, Ilan:
Wissenschaft als
Herrschaftsdienst. Der
Kampf um die akademische
Freiheit in Israel,
Hamburg 2011
Prior, Michael:
Zionismus and the State
of Israel, London 1999
Zuckermann, Moshe:
Sechzig Jahre Israel.
Die Genesis einer
politischen Krise des
Zionismus, Bonn 2009
Mythen des Zionismus und
ihre Widerlegung:
Flapan,
Simcha: Die Geburt
Israels. Mythos und
Realität, München 2006
Rose, John: Mythen des
Zionismus. Stolpersteine
auf dem Weg zum Frieden,
Zürich 2006
Sand, Shlomo: Die
Erfindung des jüdischen
Volkes. Israels
Gründungsmythos auf dem
Prüfstand, Berlin 2010
Segev, Tom: Die ersten
Israelis. Die Anfänge
des jüdischen Staates,
München 2008
Das
Jahr 1948 -
Unabhängigkeit Israels,
Krieg und Vertreibung
der Palästinenser:
Morris,
Benny: The Birth of the
Palestinian Refugee
Problem 1947 - 1949,
Cambridge 1987
Pappe, Ilan: Die
ethnische Säuberung
Palästinas, Frankfurt
2007
Zum
Holocaust:
Burg,
Abraham: Hitler
besiegen. Warum Israel
sich vom Holocaust lösen
muss, Frankfurt/Main
2009
Novick, Peter: Nach dem
Holocaust. Der Umgang
mit dem Massenmord,
München 2012
Segev, Tom: Die siebte
Million. Der Holocaust
uns Israels Politik der
Erinnerung, Reinbek 1995
Zertal, Idith: Nation
und Tod. Der Holocaust
in der israelischen
Öffentlichkeit,
Göttingen 2011
Zuckermann, Moshe:
Zweierlei Holocaust. Der
Holocaust in den
politischen Kulturen
Israels und
Deutschlands, Göttingen
2004
Israels Kriege:
Maoz,
Zeev: Defending the Holy
Land. A Critical
Analysis of Israels
Security and Foreign
Policy, University of
Michigan 2009
Heutige Situation:
Halper,
Jeff: Ein Israeli in
Palästina. Widerstand
gegen Vertreibung und
Enteignung. Israel vom
Kolonialismus erlösen,
Berlin 2010
Hessel, Stéphane: Empört
Euch!, Berlin 2011
Kimmerling, Baruch:
Politizid. Ariel Sharons
Krieg gegen das
palästinensische Volk,
Kreuzlingen/ München
2003
Verleger, Rolf: Israels
Irrweg. Eine jüdische
Sicht, Köln 2008
Zertal, Idith/ Eldar,
Akiva: Die Herren des
Landes. Israel und die
Siedlerbewegung seit
1967, München 2007
Zimmermann, Moshe: Die
Angst vor dem Frieden,
München 2007
Antisemitismus:
Zuckermann, Moshe:
„Antisemit!“ Ein Vorwurf
als
Herrschaftsinstrument,
Wien 2010
Deutsche und Israel:
Cil
Brecher, Daniel: Der
David - Der Westen und
sein Traum von Israel,
Köln 2011
Archäologen und
Zionismus:
Finkelstein, Israel/
Silbermann, Neil.: David
und Salomon. Archäologen
entschlüsseln einen
Mythos, München 2006
dieselben: Keine
Posaunen vor Jericho.
Die archäologische
Wahrheit über die Bibel,
München 2003