Zwischen Doppelmoral und Lebenslügen
Anmerkungen zum deutsch-israelischen Verhältnis
anlässlich des 50jährigen Jubiläums der Aufnahme
diplomatischer Beziehungen
Arn
Strohmeyer
Wenn
ein renommierter jüdischer Historiker wie Yakov Rabkin –
ein Spezialist für die Geschichte des Judentums –
schreibt, dass sich Deutschlands „permanenter Kniefall
vor dem Staat Israel aus dem Mythos speist, Israel
repräsentiere die Juden in aller Welt und sei ihre
natürlich Heimat“, dann muss das zu denken geben. Rabkin
fährt fort: „Die Hilfe, die der deutsche Staat heute den
Opfern des Holocaust leistet, verbessert deren
Lebensumstände; Deutschlands Blankounterstützung für
den Staat Israel hingegen unterminiert nicht nur die
Zukunft der Einwohner Israels, sondern ignoriert auch
die Lehren, die viele Deutsche aus dem Holocaust gezogen
haben.“
Rabkin,
weist hier auf den Kern des deutsch-israelischen
Verhältnisses hin, das mit der Aufnahme diplomatischer
Beziehungen vor 50 Jahren (am 12. März 1965) nun groß
gefeiert wird. Es war wichtig und richtig, dass
Deutschland (genau gesagt die Bundesrepublik
Deutschland) nach dem monströsen Verbrechen des
Holocaust durch die Nazis versuchen musste, sein
Verhältnis zu den Juden wieder zu bereinigen (soweit das
nach dem Geschehenen überhaupt möglich war) und dass
dabei auch Entschädigungen gezahlt werden mussten.
Andererseits haben die deutsche Politik und die meisten
Deutschen aus ihren Schuldgefühlen heraus den Staat
Israel in seiner politischen Realität bis heute nicht
angemessen wahrgenommen. Denn es bleibt die Frage, wie
weit Israel die Juden und das Judentum
repräsentiert, es ließen sich hier sehr viele jüdische
Stimmen anführen, die Israel genau diesen Anspruch
bestreiten.
Zum
anderen haftet diesem Staat von seinem Anfang an der
Makel eines großen Unrechts an, weil seine Gründung nur
mit der Vertreibung eines anderen Volkes (der
Palästinenser) und der Zerstörung von dessen
Gesellschaft und Kultur möglich war. Oder anders gesagt:
Die Entstehung des Staates Israel war kein „Wunder“, wie
oft behauptet worden ist, sondern beruhte darauf, dass
Juden einem anderen Volk dasselbe Schicksal bereiteten,
unter dem sie selbst so lange gelitten hatten. Und
dieser von exzessiver Gewalt begleitete Prozess dauert
bis heute an, und Israel forciert ihn durch seine
Besatzungs-, Landraub- und Siedlungspolitik nach
Kräften.
Dass
Israel sich zum alleinigen Vermächtnisverwalter des
Holocaust erklärte, musste verwundern, denn die
vorstaatliche jüdische Gemeinschaft in Palästina (der
Jischuw) hatte am Schicksal der Bedrängten und
Verfolgten in Europa wenig Anteil genommen. Der
israelische Historiker Tom Segev hat diese
Interesselosigkeit und Untätigkeit in seinem Buch „Die
siebte Million“ ausführlich beschrieben. Auch sein
jüdischer Kollege Saul Friedländer warf den Zionisten in
Palästina völliges Versagen bei der Rettung europäischer
Juden vor, weil für sie die Gründung und der Aufbau des
israelischen Staates absoluten Vorrang genossen hätten.
Dazu kam, dass die Zionisten für die Überlebenden des
Holocaust eher Verachtung übrig hatten, weil diese als
typische Vertreter des schwachen, feigen und
opportunistischen Diaspora-Judentums galten, die sich
von den Nazis „wie Lämmer hätten zur Schlachtbank“
führen lassen. Im jungen Staat Israel hing man dem Ideal
des „neuen Juden“ an, eines starken, selbstbewussten und
wehrhaften Menschentyps.
Auch in
Israel selbst gibt es Kritik daran, dass dieser Staat
sich zum „Alleinerben“ des Holocaust erklärt hat. So
schreibt der frühere Präsident der mächtigen Jewish
Agency und Sprecher des israelischen Parlaments (der
Knesset), Abraham Burg: „Die zionistische Reaktion
erfolgte umgehend. Israel erklärte sich zum Erben der
Opfer, zu ihrem alleinigen offiziellen Vertreter in der
Welt und ernannte sich zum Sprecher der ermordeten
Millionen. Wir bürgerten sechs Millionen Tote ein. Das
junge Israel, das als gesunde Alternative zur krankenden
Diaspora gedacht war, hielt den Holocaust-Opfern posthum
vor: ‚Wir haben es Euch gesagt!‘ und transplantierte
ihre abgetrennten Organe in seinen jungen Körper. Von
einer neuen Alternative zur Diaspora in Osteuropa
verwandelte sich das junge bahnbrechende Israel in ein
Land mit der Mentalität einer alten jüdischen, für immer
verfolgten Kleinstadt im Nahen Osten. Israel trauerte
nicht nur, sondern verwandelte sich von einem
zukunftsorientierten Staat in eine Gesellschaft, die eng
mit ihrer blutigen, traumatischen Vergangenheit
verknüpft war.“
Deutschland akzeptierte ohne Einschränkung die
israelische Version des Holocaust, die alle anderen
Opfer ausblendete und den Genozid zu einer
ausschließlich und „einzigartigen“ jüdischen
Angelegenheit macht, wie der israelische Historiker
Shlomo Sand schreibt: „Vom letzten Viertel des 20.
Jahrhunderts an verschwinden beinahe alle Opfer, die von
den Nazis nicht als ‚Semiten‘ bezeichnet wurden. Der
industrielle Mord wurde zur ausschließlich jüdischen
Tragödie. Die westliche Erinnerung an die
Konzentrations- und Vernichtungslager entledigte sich
fast gänzlich aller anderen Opfer, darunter geistige
Behinderte, Sinti und Roma, Angehörige des
kommunistischen und sozialistischen Untergrunds, Zeugen
Jehovas, polnische Intellektuelle sowie sowjetische
Kommissare und Offiziere. Bis auf die Homosexuellen
vielleicht wurden all jene, die die Nazis parallel zur
systematischen Ermordung der Juden austilgten, durch die
hegemonialen Erinnerungsnetzwerke ein weiteres Mal
ausgelöscht. Wie konnte es dazu kommen, und wie prägt
diese neue Erinnerungskonstruktion die heutige jüdische
Identität?“
Für
Deutschland bedeutet der Holocaust, „ewige Schuld“ auf
sich zu nehmen, wie es der israelische Ministerpräsident
Levi Eshkol 1965 (dem Datum der Aufnahme der
diplomatischen Beziehungen!) formulierte: die deutschen
Verbrechen an den Juden seien nicht sühnbar und erlegten
Deutschland eine ständige moralische Verpflichtung auf,
die vor allem darin bestehe, jeden möglichen Beitrag zur
Stärkung Israels zu leisten, nicht zuletzt Israel bei
der für seine Verteidigung nötigen Ausrüstung zu helfen.
Diesen Anspruch hat die Bundesrepublik bis heute
getreulich und widerspruchslos erfüllt. Eshkols Worte
wurden sozusagen der Leitsatz der deutsch-israelischen
Beziehungen.
Deutschland hat also beides akzeptiert: die Tatsache,
dass Israel kein „normaler“ Staat war und ist, sondern
ein kolonialistischer Siedlerstaat, der „danach strebt,
die einheimische Bevölkerung durch eine eingewanderte
Siedlerbevölkerung vollständig zu ersetzen. Die Grenzen
werden stets weiter nach vorn verschoben und die
einheimische Bevölkerung auf stets kleiner werdenden
Flächen zusammengedrängt, um ihr Land und ihre
Ressourcen für die Siedlerbevölkerung freizumachen.
Charakteristisch für siedlerkolonialistische Gebilde
sind neben territorialer Expansion ein ausgeprägter
Rassismus in der Siedlerbevölkerung und die Behauptung,
das Land sei menschenleer gewesen, als die Siedler
kamen.“ (Petra Wild) Das zionistische Projekt war also
von Anfang mit allergrößter Gewalt verbunden – die
deutsche Politik hat es nicht interessiert, sie wollte
es wohl nicht wissen oder hat es ganz bewusst nicht zur
Kenntnis genommen. Und Deutschland hat auch
widerspruchslos akzeptiert, dass Israel beanspruchte,
der Vermächtnisverwalter des Holocaust zu sein und hat
es entsprechend bevorzugt behandelt. Wie das
zusammenpasst – Vermächtnisverwalter der Holocaust und
aggressiver und gewaltsamer Siedlerstaat – die Frage ist
nie gestellt worden.
Aber die
Folgen einer solchen deutschen Politik waren in vieler
Hinsicht mehr als bedenklich. Um dies zu verdeutlichen
muss man bis zum Zusammenbruch des Hitlerstaates
zurückgehen. Denn auch nach 1945 lebte der
Antisemitismus fort. Es gab keinen Aufschrei des
Entsetzens, als durch Zeitungen, Radio und Wochenschauen
bekannt wurde, was sich an Grauenvollem in den
Konzentrations- und Vernichtungslagern ereignet hatte.
Die Menschen schwiegen, die große Sprachlosigkeit
verhüllte, was geschehen war. Man wollte von nichts
gewusst haben. Schon damals wurde gefordert, einen
„Schlussstrich“ zu ziehen.
Langsam
verschob sich aber das antijüdische Stereotyp: Aus dem
Vorurteil, dass die Juden eine große Finanz- und
Wirtschaftsmacht seien, zog man nun den Schluss, dass
sie beim Wiederaufbau helfen könnten. Juden und alles
Jüdische wurden von der Mehrheit und von offizieller
Seite zunehmend positiv bewertet, was nicht ins Bild
passte, wurde verdrängt. „Der angelernte Antisemitismus
ließ sich durch dessen Tabuisierung zum angelernten
Philosemitismus ummünzen“, schrieb Günter Grass in
seiner Poetik-Vorlesung Schreiben nach Auschwitz
über diese Zeit. Der Philosemitismus wurde Konsens unter
den Vertretern von Politik, Medien und Kirchen, was aber
gar nichts darüber aussagte, ob dieser Wende auch ein
Realitätsgehalt zukam und innerlich vollzogen war – es
handelte sich dabei weniger um Juden als vielmehr um ein
opportunistisches politisches Bekenntnis. Der
deutsch-jüdische Historiker Frank Stern beschreibt die
Wende so: „Das antijüdische Stereotyp kippte in der
Öffentlichkeit sozusagen um in ein pro-jüdisches. Es
entsteht das philosemitische Syndrom, ohne dass deswegen
der Antisemitismus verschwindet.“
Der
Philosemitismus hatte vor allem die Funktion, den
demokratischen Charakter der zweiten deutschen Republik
in ihrer Anfangsphase zu legitimieren, denn das
Misstrauen der westlichen Staaten war noch groß. Wie
fragwürdig dieser Philosemitismus damals schon war, hat
die deutsch-jüdische Politologin Eleonore Sterling 1965
– also sechzehn Jahre nach Gründung der Bundesrepublik
in einem Artikel für DIE ZEIT beschrieben: „Der
Philosemitismus ist heute fast nur noch die Hülle
dessen, was damals gefordert wurde. Er ist nicht der
Ausdruck einer freien Atmosphäre, sondern deren Ersatz.
Er bedeutet die Ausnutzung eines Symbols, das
stellvertretend als vollendet bezeugen soll, was
tatsächlich erst in Ansätzen vorhanden ist: eine
wirkliche Demokratie und eine positive Haltung gegenüber
der jüdischen Minderheit. Der Philosemitismus – ähnlich
wie auch der Antikommunismus – gehört zum
Bekenntnischarakter der noch nicht verwirklichten
deutschen Demokratie.“
Viele
plapperten also philosemitische Parolen nach, ohne aber
im Inneren ihren Antisemitismus abgelegt zu haben. Der
Philosemitismus war also keine neue bereinigte
Einstellung zu Juden, er hatte lediglich eine
kathartische Aufgabe, indem er das schlechte Gewissen
erleichterte, Distanz schuf und dabei half, sich in die
neuen Verhältnisse zu integrieren: „Indem man nun nicht
mehr Antisemit war, gehörte man zum neuen, anderen
Deutschland, von dem ja zunehmend die Rede war. Indem
man sich ostentativ dem ehemaligen Opfer zugesellte,
hoffte man, dessen jetzige Vorteile mit genießen zu
können. Indem man betonte, Juden seien auch Menschen,
meinte man, selbst zum Humanisten zu werden. Indem man
sich in das religiöse Büßergewand hüllte, glaubte man,
die braune Weste weiß gewaschen zu haben. Wenn man nicht
so recht wusste, wie man sich opportun den politischen
Erfordernissen folgend als Anti-Nazi darstellen sollte,
konnte man ja zumindest Philosemit sein. (...) Hätte die
US-Militärverwaltung nicht jene Vielzahl von
Untersuchungen durchgeführt, so hätten wir sicherlich
sehr viel weniger beweiskräftiges Material über solche
Entwicklungen zur Hand“, schrieb Frank Stern.
Der
Philosemitismus setzte sich in der jungen Bundesrepublik
immer mehr durch und bestimmte auch später – bis zur
Kanzlerin Angela Merkel – die offizielle Politik,
besonders natürlich im Verhältnis zu Israel. Er wurde
sozusagen Staatsräson. Israel musste bedingungslos
unterstützt werden. Mit Blick auf die 50er Jahre merkte
Frank Stern an: „Die philosemitische Meinung war – so
wenig präzise sie auch sein mochte –
legitimitätsstiftend, und dabei blieb sie hochgradig
ambivalent. Man kommt nicht umhin, ständig ihre
Tiefenschichtung und Zielrichtung zu hinterfragen, ja
den wohl zwangsläufig irrationalen Charakter
philosemitischer Inhalte und Aussagen festzustellen. Mit
dem verklärten und verklärenden Bild, dem
romantisierenden Porträt der ‚ehemaligen jüdischen
Mitbürger‘ passte man sich so ganz den biedermeierlichen
Schematisierungen im offiziellen Geschichtsbewusstsein
der Adenauer-Ära an. Das historische Bewusstsein wurde
philosemitisch verkleistert und das Phänomen des
Philosemitismus gesellschaftlich in nicht geringem Maße
eine deutsche Selbst-Therapie: Der Versuch, sich etwas
zu befreien von der furchtbaren Vergangenheit – eine
deutsche Kur gegen einen deutschen Schmerz.“
Wie wenig
sich die offizielle Haltung seitdem verändert hat, wie
immobil und starr sie sich allen angemessenen
Forderungen nach Veränderung und Einsicht in die
Realitäten widersetzt, belegen Sätze, die der Soziologe
Walter Hollstein schon Anfang der 70er Jahre
niedergeschrieben hat, die aber nach wie vor gültig
sind: „Die schreckliche Tat der Vergangenheit [der
Holocaust] hat in der Gegenwart ein schlechtes Gewissen
geschaffen, und das schlechte Gewissen hat – nicht nur
in Deutschland – den Antisemitismus von einst in den
Philosemitismus von heute umschlagen lassen. Man glaubt,
das Verbrechen von weiland dadurch sühnen zu können,
dass man die Juden heuer hoch lobt und hochleben lässt.
Diese Haltung hat sich kollektiv auf den Staat Israel
übertragen, dem in der deutschsprachigen Öffentlichkeit
immer wieder seine demokratische Qualität und sein
Vorbild-Charakter attestiert werden. Von allem und
jedem, das ein negatives Bild auf Struktur und Politik
Israels werfen könnte, wird dabei bewusst abstrahiert.“
Und
weiter schrieb Hollstein: „So kommen in den meisten
Darstellungen der Entstehung und Entwicklung Israels
die Araber gar nicht erst ins Bild. Es geht vielen (...)
Autoren quasi wie den ersten Zionisten: Sie vergessen
oder ignorieren ganz einfach die Existenz der
Palästinenser. In solcher Optik heißt es dann etwa:
‚Israel versteht seine Rückkehr in das Land der Väter
als die Erfüllung der alten, den Vätern gegebenen
Verheißung.‘ Was an politischer Problematik, an Unrecht
und Elend mit dieser ‚Rückkehr‘ verbunden war und noch
immer ist, wird keines Gedankens gewürdigt. Derlei
massive Verdrängung kann wohl nur tiefenpsychologisch
mit dem Wunsch des Schuldbeladenen nach Exkulpierung
erklärt werden.“
Und man
muss folgern: Moral aber ist unteilbar. Wenn sie das
nicht mehr ist, degeneriert sie zur Schein- oder
Doppelmoral. Denn wenn die Verantwortung, die
notwendigerweise aus den deutschen Verbrechen folgt,
sich nur auf Juden und Israel bezieht, also nicht
universalistisch auch auf alle Menschen der Welt, wird
sie fragwürdig. Hollstein schreibt: „Moral verwandelt
sich in Scheinmoral, wenn Praktiken der Gewaltanwendung,
Vertreibung und Folter den Israelis zugestanden werden,
um sich dergestalt von der eigenen schrecklichen Schuld
der Vergangenheit Erlösung erkaufen zu können.“
Doppelmoral kennzeichnet denn auch das deutsche
Verhältnis zu Israel von Anfang an bis heute. So äußerte
Franz Josef Strauß nach dem Juni-Krieg von 1967, in dem
Israel weitere arabische und palästinensische Gebiete
erobert hatte, dass die deutsche Lieferung von Waffen an
Israel „nicht nur eine Pflicht der Wiedergutmachung ist,
sondern dass eine Unterstützung Israels gerade auf dem
Gebiet, wo es um Blut geht, moralisch und politisch von
besonderer Tragweite sein muss. Weil Millionen Juden
durch deutsche Waffen umgebracht worden sind, ist das
ein Stück Wiedergutmachung auf dem ureigentlichen
Gebiet, auf dem im deutschen Namen besonders gesündigt
worden ist.“ Wiedergutmachung für den Holocaust durch
die Lieferung von deutschem Tötungsgerät – das war die
Moral der damals in Bonn Regierenden!
Die
umfangreichen Waffenlieferungen und die enge
militärische Zusammenarbeit blieben eine Konstante in
den deutsch-israelischen Beziehungen, sie wurden schon
1952 – natürlich streng geheim! – aufgenommen, die
diplomatischen Beziehungen aber erst 1965. Die
bedingungslose Unterstützung Israels wurde – unter
Ausblendung der politischen Realitäten in diesem Staat –
von allen deutschen Regierungen fortgeführt. Ein
Musterbeispiel an Nicht-Wahrnehmung der Realitäten und
an Doppelmoral lieferte Kanzlerin Angela Merkel in ihrer
Rede am 18. März 2008 im israelischen Parlament ab. Im
Mittelpunkt ihrer Ausführungen standen unter Rückgriff
auf den Holocaust die moralische Legitimierung der
gegenseitig engen Beziehungen und die ebenfalls sehr
enge militärische Kooperation. Merkel bescheinigte
diesem Staat, der das Territorium der Palästinenser seit
fast 50 Jahren besetzt hält und dort ein brutales und
völkerrechtswidriges Besatzungsregime betreibt, das in
vielen Resolutionen von der UNO verurteilt worden ist,
„für Frieden und Sicherheit“ einzustehen. Außerdem lobte
sie Israel für die erfolgreiche Integration von
Zuwanderern in sein Gemeinwesen – wohl wissend, dass
Palästinensern die Zuwanderung bzw. Rückkehr in ihre
Heimat verwehrt ist, ja, dass auch ihre
Bewegungsfreiheit innerhalb der palästinensischen
Gebiete und nach Israel äußerst beschränkt ist.
Die
Kanzlerin pries die „einzigartigen Beziehungen“ zwischen
Deutschland und Israel, die ihren „Ursprung in den
[Werten] haben, die wir gemeinsam teilen, die Werte von
Freiheit und Demokratie und Menschenwürde.“ Auf die
Millionen Palästinenser in den besetzten Gebieten, die
keinerlei Menschen- oder politische Rechte besitzen,
musste diese Rede wie blanker Hohn wirken. Selbst in
Israel gab es Kritik. Der renommierte Historiker Tom
Segev bescheinigte Merkel für ihre Rede
„Realitätsverlust“. Der israelische Politiker Yossi
Beilin kommentierte empört: „So eine Freundschaft
brauchen wir nicht.“
Die
Leidtragenden dieser Politik sind die Palästinenser –
die „Opfer des zweiten Grades“ oder die „Opfer der
Opfer“. Sie beklagen sich zu Recht, dass sie durch die
Gründung Israels den Preis für den Holocaust bezahlen
mussten, er bestand in der Vertreibung ihres Volkes aus
seiner Heimat und der Zerstörung ihrer Gesellschaft und
Kultur. Der Palästinenser Edward Said, einer der besten
Kenner der Problematik des Nahen Ostens übte heftige
Kritik an der deutschen Position: „Deutschland spielt
eine besondere Rolle. Eine ganze Nation von
Palästinensern wurde im Laufe der letzten
Jahrhunderthälfte verdrängt und enteignet, vor allem auf
Grund des europäischen Antisemitismus. Was den Juden
Europas (besonders durch Deutsche) widerfuhr, war eine
Katastrophe, für die das palästinensische Volk – das an
der Katastrophe keinen Anteil hatte – mit der Zerstörung
seiner Gesellschaft im Jahre 1948 und ab 1967 mit der
militärischen Okkupation des ihm verbliebenen Landes
bezahlen musste. Die offizielle deutsche Haltung zu
Problemen des Nahen Ostens hält sich eng an die
vorgegebenen Leitlinien amerikanischer Politik, die sich
auch in der Europäischen Union durchgesetzt haben – auch
wenn die Amerikaner in ihrer politischen und
wirtschaftlichen Unterstützung Israels sehr viel weiter
gehen als die Europäer.“
Weiter
schreibt Said: „Gewiss, es war richtig, dass das
deutsche Volk Reparationen zahlte, aber warum glaubt man
in Deutschland, der vollkommen gerechtfertigte Kampf um
die palästinensische Selbstbestimmung ließe sich
entweder ignorieren oder nur mit bloßen Erklärungen hier
und da unterstützen? Die Deutschen sind aufgefordert,
die notwendige Verbindung zwischen ihrer Geschichte und
unserer zu ziehen (und die nicht zu leugnen) und dann
den notwendigen Schluss zu ziehen, Deutschland hat noch
eine Verantwortung, der es sich nicht länger entziehen
kann.“ Said schrieb diese Zeilen schon im Jahr 2002, an
Deutschlands Position gegenüber Israel und den
Palästinensern hat sich seitdem nichts geändert. Ganz im
Gegenteil: Wer heute die hier zitierten Zeilen
öffentlich äußert, muss damit rechnen, als „Antisemit“
diffamiert zu werden.
Die
deutsche Politik gegenüber Israel ist vom
Philosemitismus diktiert. Aber über die Zusammenhänge
von Antisemitismus und Philosemitismus öffentlich
nachzudenken, gilt in der philosemitisch geprägten
deutschen Atmosphäre schon selbst wieder als
„antisemitisch“. Einige Juden haben diese Scheu nicht
und sprechen aus, was sie denken. Schon Sigmund Freud
hatte den Philosemitismus „heuchlerisch“ genannt, weil
er alte Vorurteile gegen die Juden hinter
großsprecherischen Gesten für sie verberge. Die Ursache
für den deutschen Philosemitismus sind – psychologisch
gesehen – nicht aufgearbeitete Schuld und nicht
geleistete Trauerarbeit, ein Sachverhalt, auf den
Alexander und Margarete Mitscherlich schon in ihrem
berühmten Buch Die Unfähigkeit zu trauern (zuerst
erschienen im Jahr 1967) hingewiesen hatten. Trauer ist
ein seelischer Vorgang, schrieben sie, „in dem ein
Individuum einen Verlust mit Hilfe eines wiederholten,
schmerzlichen Erinnerungsprozesses langsam zu ertragen
und durchzuarbeiten lernt, um danach zu einer
Wiederaufnahme lebendiger Beziehungen zu den Menschen
und Dingen seiner Umgebung fähig zu werden.“ Trauern
kann man aber nur um eine Person, ein Objekt oder ein
Ideal, das man geliebt hat. Im Fall der Deutschen waren
das der „Führer“ Adolf Hitler und seine „Ideale“, in
deren Namen unvorstellbare Grausamkeiten begangen worden
sind. Hitlers Tod, seine Niederlage und seine völlige
Entwertung durch die alliierten Sieger bedeuteten für
die meisten Deutschen den Verlust eines narzisstischen
Selbst-Objekts, d.h. eine Verarmung und Entwertung des
eigenen Selbst.
Die
Mitscherlichs schrieben: „Um nach dem Untergang des
Hitlerreiches die Angst, die Schuld und die Scham zu
vermeiden, wurden seelische Abwehrvorgänge von der Art
der Verdrängung, der Verleugnung, der Projektion wie
z.B. nicht die anderen, sondern wir waren die
unschuldigen Opfer etc. eingesetzt. Wenn überhaupt
Erinnerung sein musste, geschah das meist als
Aufrechnung der eigenen Schuld gegen die Schuld der
anderen. Die bedauernswerten Opfer waren dann im Grunde
wir selber.“
Die große
Mehrheit der Deutschen trauerte nicht, sondern wehrte
nur mit aller Kraft das Erlebnis einer melancholischen
oder depressiven Verarmung und den seelischen
Zusammenbruch ab, d.h. sie verdrängte möglichst alles,
was mit der eigenen Anteilnahme an den Geschehnissen des
„Dritten Reiches“ zu tun hatte. Als Folge konstatierten
die Mitscherlichs einen lähmenden psychologischen
Immobilismus in der westdeutschen Gesellschaft. Die
Trauerarbeit kann also nur gelingen, wenn das Objekt, um
das getrauert wird (im deutschen Fall Hitler und das,
was er für die Deutschen verkörperte) als Bestandteil
der eigenen (historischen) Identität anerkannt wird.
Damit
hängt natürlich eng die Frage der Aufarbeitung der
Schuld zusammen, die die Deutschen gegenüber den meisten
Völkern in Europa nach dem von ihnen begonnenen Krieg
auf sich geladen hatten – speziell natürlich auch
gegenüber den Juden. Wird Schuld nicht bewusst
aufgearbeitet, dann kann man mit ihr nicht rational und
kontrolliert umgehen. Was aber – darauf hat der
deutsch-jüdische Philosoph Ernst Tugendhat hingewiesen –
zur Folge hat, dass man sich seinem Gegenüber so
verhält, dass man alles tut, was er glaubt, was man zu
tun hätte. Man gibt also die Autonomie des eigenen
Urteilens preis, und das Gegenüber hat so die Chance,
die Schuld zu manipulieren. Tugendhat schreibt: „Es gibt
Menschen und auch Staaten, die auf dem irrationalen
Schuldgefühl eines anderen virtuos wie auf einem Klavier
spielen können. So tun es auch die Israelis mit den
Deutschen.“ Man kann dieser Schuld nur entgehen, wenn
sie rational aufgearbeitet wird. Dann besteht nicht mehr
die Notwendigkeit, sich den – u.U. auch irrationalen
Wünschen des anderen – zu unterwerfen. Der Handelnde
behält dann sein autonomes Urteilvermögen. Die Frage
lautet dann: Wie kann ich dem anderen helfen? Wo liegen
seine Interessen?
Wie sehr
die deutsche Politik sich von den Israelis manipulieren
lässt, belegt eine Schilderung des Journalisten Werner
Sonne. Als in Berlin die Lieferung von weiteren atomar
ausrüstbaren U-Booten zur Diskussion stand, warnte der
General Klaus Naumann vor dieser „Schenkung“ aus
Steuergeldern an Israel, weil die Israelis damit eine
atomare Zweitschlagskapazität bekommen würden. Naumann
erinnerte sich später, dass Bundeskanzler Helmut Kohl
diese Bedenken nicht gelten ließ: „Kohl wischte das
einfach beiseite.“ Der Bundeskanzler begründete seine
Entscheidung so: „Wenn die Israelis das fordern, dann
werden wir das machen.“ Die israelische Delegation sei
bei den Verhandlungen über die U-Boote ziemlich
„unverschämt“ aufgetreten, erinnerte sich Naumann
später, aber die Israelis bekamen, was sie wollten.
Dieses
„Einknicken“ der Deutschen vor den Israelis, führt Ernst
Tugendhat auf die irrationale Verarbeitung der deutschen
Schuld am Holocaust zurück. Für das „Einknicken“
gegenüber Juden (ganz allgemein) führt Tugendhat noch
einen anderen Grund an, nennt ihn aber vorsichtig eine
Hypothese. Könnte es nicht sein, so fragt er, dass
fortdauerndes irrationales Schuldbewusstsein und
fortdauernder unterschwelliger Antisemitismus sich
wechselseitig am Leben erhalten? Das schließe aber die
These ein, dass ein verbreiterter Antisemitismus in
Deutschland fortdauere. Tugendhat zögert aber mit dieser
Aussage, weil er selbst keine empirischen Untersuchungen
hierüber angestellt habe und weil er selbst während
seines vierzigjährigen Aufenthaltes in der
Bundesrepublik keine antisemitischen Erfahrungen gemacht
habe. Fazit: Es kann kein Zweifel bestehen, dass
zwischen Philosemitismus auf der einen Seite und nicht
erfolgter oder misslungener (pathologischer)
Trauerarbeit sowie nicht rational aufgearbeiteter Schuld
ein kausaler Zusammenhang besteht.
Und auch
Philosemitismus und Antisemitismus hängen – so Ernst
Tugendhat – eng zusammen. Ersterer gründet in der Angst,
als Antisemit zu erscheinen und hat also im
Antisemitismus seinen Grund. Man kann sich vom
Antisemitismus nicht befreien, wenn man Juden für nicht
kritisierbar hält. „Das sind Trivialitäten“, schrieb
Tugendhat 2010, „aber in Deutschland besteht ein
Aufholbedarf, um aus dem Gespinst von Antisemitismus und
Philosemitismus herauszukommen.“ Ansätze hierzu gibt es
kaum, denn das würde ja bedeuten, dass man Israel
öffentlich kritisieren dürfte und es „normale“
Beziehungen zwischen beiden Staaten geben würde. Aber
sind die möglich zwischen einem Deutschland, das seine
Schuld noch nicht aufgearbeitet hat und deswegen einem
verlogenen Philosemitismus huldigt und einem Staat, der
mit seiner Besatzungspolitik über drei Millionen
Menschen hinter Mauern und Stacheldrahtzäunen wegsperrt,
der sich weigert, seine endgültigen Grenzen festzulegen,
weil er immer noch auf Landraub und Expansion aus ist
und der nicht einmal Nicht-Juden im eigenen Land volle
Bürgerrechte gewährt? Bevor beide Staaten ihre
Lebenslügen – ihre jeweils eigenen und die im Verhältnis
zum anderen – nicht aufgearbeitet haben, kann wohl von
„Normalität“ keine Rede sein.
Auch und
gerade auf der Seite Israels nicht. Moshe Zuckermann hat
immer wieder darauf hingewiesen, dass die Israelis auch
keine wirkliche Trauerarbeit geleistet haben. Weil sie
den Holocaust in anderen Begriffen als denen der
„Schuldzuweisung“ nicht zu erinnern vermögen, bedarf es
hierzu des Hasses auf neue Schuldige. Abraham Burg
ergänzt diesen Gedanken. Er glaubt, dass die Israelis
den Deutschen zu früh verziehen hätten, was sich sehr
negativ auf die jüdische Identität ausgewirkt habe. Die
Wut und Rachegefühle habe man deshalb auf die Araber und
speziell auf die Palästinenser verlagert, die man zu den
„neuen Nazis“ gemacht habe, an ihnen lasse nun Israel
seine Hysterie und Aggressionen aus. Das bedeutet aber,
dass die jüngste Geschichte und die Gegenwart sehr eng
miteinander vermengt werden, soll heißen, dass der
Konflikt Israels mit den Palästinensern vor allem im
Zusammenhang mit dem Holocaust gedeutet wird. Das führt
aber unweigerlich zur Nicht-Wahrnehmung, ja Verleugnung
wesentlich realer Ursachen des Palästina-Konflikts und
seiner Austragungsformen.
Der
deutsch-jüdische Historiker Dan Diner hat diesen
Sachverhalt schon vor Jahren aufgezeigt: Um eine
nationalstaatlich-jüdische Existenz in einem von
Palästinensern bewohnten Land aufzubauen, mussten sich
die Zionisten kolonialer Mittel bedienen. Die arabischen
Politiker wehrten sich verständlicherweise gegen die
Verdrängung. Obwohl die Palästinenser die Reagierenden
waren, wurden sie von der Wahrnehmung her sehr bald in
die Rolle des Angreifers versetzt. Entsprechend ihrer
Jahrhunderte langen Erfahrung stellten und stellen sich
die neu in Palästina zugewanderten Juden als die
Hassobjekte und Angriffsziele – also als die Opfer –
dar. Diese historische Verkehrung von Täter und Opfer
bezeichnet Diner als ein „fundamentales Grundmotiv des
Palästina-Konflikts.“ Diese Verkehrung machte es auch
möglich, dass die Israelis ihre Schuld, die
Palästinenser im Verlauf des zionistischen
Kolonisationsprozesses verdrängt und vertrieben zu
haben, leugnen konnten, was dazu führte, dass bis heute
ein erbitterter Streit um Fakten und Tatsachen geführt
wird (etwa um die Nakba 1948) und weniger um die Deutung
des Geschehens.
Diner
schreibt: „Das Grundmuster in der Konfliktwahrnehmung
der überwiegenden Mehrheit der israelischen Juden ist im
Wesentlichen Verleugnung des Geschehens – der Mittel und
Maßnahmen des Kolonisationsprozesses, wie er gegen die
arabisch-palästinensische Bevölkerung des Landes zur
Herbeiführung eines jüdisch-nationalistischen
Staatswesens durchgesetzt wurde; schließlich einer
palästinensischen Existenz überhaupt. Ersetzt wird diese
verleugnete Wirklichkeit in Palästina durch Deutungen,
die mit den schrecklichen und wirklichen Erfahrungen der
Juden, ihrer Verfolgung bis hin zum Versuch ihrer
totalen Vernichtung in der Diaspora in Verbindung
stehen. Sie wirken sich hinsichtlich der Wahrnehmung der
Realität wie eine Plombe aus: sie dichten ab.“
Israelische Juden und Juden in der Diaspora deuten
infolge dieser Verleugnung den Konflikt mit den
Palästinensern und den arabischen Staaten ringsum im
Zusammenhang mit dem Antisemitismus und dem Holocaust.
Als Grund für diese Übertragung bietet sich der
koloniale Charakter des Konfliktes selbst an, der nicht
kompromissfähig ist. Es gibt nur ein „Wir“ oder „Sie“ –
es geht also nicht um territoriale Zugeständnisse,
sondern um die nackte kollektive Existenz israelischer
Juden und Araber im Land. Deshalb wird der Konflikt auch
mit solcher Verbissenheit geführt. In diesem totalen
Charakter des Konflikts sieht Diner das wirkliche
Einfallstor für Bilder und Metaphern der
Judenvernichtung in Europa: „So wird etwa eine
eventuelle militärische Niederlage Israels notwendig als
eine Auslöschung des Kollektivs angenommen. Eine solche
Niederlage zu verhindern, erfordert wiederum, den
Konflikt mit allen verfügbaren Mitteln zu führen – als
präventive Ausübung erwarteter arabischer Gewalt. Und
wenn im Konflikt die Vernichtung des einen durch den
anderen angelegt ist, die kolonialen Ursprünge und
Verlaufsformen dieser Gewalt aber jüdischer- und
israelischerseits hartnäckig geleugnet werden, dann
lässt sich die Wirklichkeit um und in Palästina nur als
Fortsetzung der bisherigen Geschichte außerhalb
Palästinas deuten. Die Bedeutung des wirklichen
Konflikts um Palästina wird dabei unerheblich. Er stellt
nur noch bloßes Material bereit für eine Sinngebung,
deren Koordinaten sich in der Geschichte Europas
befinden, nicht aber im Vorderen Orient, am Ort des
tatsächlichen Geschehens.“
Der
Ausgang aus diesem Konflikt kann – so Diners Prognose –
nur ein düsterer sein, denn das von der Erfahrung des
Holocaust geprägte Bewusstsein im diesem Konflikt läuft
auf ein sicheres Verhängnis hinaus. Nach dem Modell der
sich selbst erfüllenden Prophezeiung, könne das ständige
Bemühen, das Verhängnis zu verhindern, nur dazu
beitragen, es herbeizuführen. Soweit Dan Diner, der mit
diesen Aussagen bestätigt, dass der Zionismus ein
ethnozentrisches und isolationistisches politisches
System ist – ja, die Partikularität steigerte sich noch
nach der jüdischen Katastrophe in Europa in einen
kollektiven Rückzug von den Nicht-Juden.
Das hier
von Diner beschriebene Deutungsmuster – also die
Vermischung des Traumas der nationalsozialistischen
Judenvernichtung mit der kolonialen, von Gewalt
geprägten Situation, die die zionistischen Zuwanderer
mit ihrem Projekt auf palästinensischem Land geschaffen
haben – besagt anders formuliert, dass sich die
Wahrnehmung der europäischen Geschichte in den
Palästina-Konflikt hineingeschoben hat. Nicht zuletzt
dadurch ist er unlösbar geworden.
Die
deutsche Politik hängt teilweise auch diesem
Deutungsmuster an, akzeptiert es zumindest. Deutsche
Israel-Verteidiger und -Propagandisten gehen noch einen
Schritt weiter: sie leugnen den kolonialen Anteil des
Konflikts völlig und beschränken ihn aus ihren
philosemitischen Schuldgefühlen heraus ausschließlich
auf den Aspekt des Antisemitismus. So können sie wie die
Zionisten die Palästinenser und die Araber in die Nähe
der Nazis bringen oder sie sogar als die „neuen Nazis“
ansehen, obwohl diese mit dem Holocaust nichts zu tun
hatten. Sie mussten mit dem Verlust ihres Landes und der
Zerstörung ihrer Gesellschaft und Kultur den Preis für
die deutschen Verbrechen zahlen. Aber die deutschen
philosemitischen Israel-Propagandisten tun sich damit
keinen Gefallen, weil man sich eben mit dieser Sicht auf
den Konflikt in Palästina den Blick auf seine wahren
Ursachen und seinen Fortgang verbaut. Die Israelis tun
sich auch keinen Gefallen, wenn sie die Opfer der
Kolonisation (die Palästinenser) mit Tätern oder sogar
mit NS-Tätern gleichsetzen, sich selbst aber als die
wahren Opfer wahrnehmen. Dann ist eine Ende des
Konflikts nicht möglich.
Aus dem
Gesagten ergibt sich: Das offizielle deutsche
Israel-Bild stimmt nicht, es hat mit der Realität kaum
etwas zu tun. Der Holocaust überlagert immer noch alles.
Israel wird deswegen in Deutschland sehr oft als
defensiver Vorposten gegen zunehmenden Antisemitismus
wahrgenommen. Daher rührt immer noch die Sympathie für
diesen Staat. Das Vorrücken des äußerst aggressiven
Islamismus verstärkt dieses positive Bild: Israel als
die zivilisierte Insel inmitten der Barbarei. Es wird
dabei völlig übersehen, dass Israel selbst ein äußerst
aggressiver Militärstaat ist, der rücksichtslos um die
Vorherrschaft im Nahen und Mittleren Osten kämpft und
seine kolonialistische Besatzungspolitik über die
Palästinenser mit brutaler Härte, ja mit äußerster
Grausamkeit durchführt. Aber Israel wendet Europa sein
friedliches und „demokratisches“ Gesicht zu, die
bararischen Realitäten der Besatzung werden
ausgeblendet, sein aggressives kriegerisches Vorgehen
wird als legitime „Selbstverteidigung“ wahrgenommen. Die
israelische Propaganda (Hasbara) tut alles, dass allein
dieses geschönte Bild wahrgenommen wird. Und Deutschland
steht bedingungslos hinter Israel, seine „Sicherheit“
ist deutsche Staatsräson (Angela Merkel). Dass die
deutsche Politik damit auch die israelische Besatzungs-
und Landraubpolitik mitträgt, versteht sich von selbst –
ein klarer Verstoß gegen das Grundgesetz, in dem es im
Grundrechtskatalog sowie in den Artikeln 25 und 26 klar
definiert heißt, dass das Völkerrecht unmittelbar
geltendes Recht ist. Dort steht: „Handlungen, die
geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das
friedliche Zusammenleben der Völker zu stören,
insbesondere die Führung eines Angriffskrieges
vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter
Strafe zu stellen.“ Nimmt man diesen Artikel ernst, kann
man die deutsche Unterstützung für Israels völkerrechts-
und menschenrechtswidrige Politik nur als Lebenslüge der
deutschen Politik bezeichnen.
Der
Politologe Mohssen Massarat hat Deutschlands
Komplizenschaft mit Israel so beschrieben: „Die
Bedrohung der Existenz Israels stellt sich im Lichte der
Analyse als ein Popanz heraus, den Tel Aviv, Washington
und Berlin mit großem propagandistischen Aufwand
aufgebaut haben. Im Ergebnis legitimieren die USA und
Deutschland auf jeden Fall Israels Besatzungsmacht und
dessen Monopol an Atombomben. So gesehen, erklärte
Angela Merkel im März 2008 in der Knesset nicht Israels
Sicherheit, sondern eben dessen Besatzungsmacht und
nukleares Monopol, letztlich das zionistische Ziel ‚Erez
Israel‘ [Groß-Israel], zur deutschen Staatsräson. Ein
berechtigtes Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung
Israels wird aber nicht durch nukleare Erst- und
Zweitschlagkapazität und eine Sicherheitspolitik gegen
die Staaten im Mittleren und Nahen Osten, sondern nur
durch eine Sicherheitspolitik hergestellt, die mit
diesen Staaten gemeinsam aufgebaut wird. Es ist hohe
Zeit für die Vorbereitung einer Konferenz für
Kooperation und gemeinsame Sicherheit im Mittleren und
Nahen Osten nach dem Muster der Konferenz über
Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa 1975.“
Angesichts einer so verwirrenden Problematik, die es zu
lösen gilt, erscheint die Aufnahme diplomatischer
Beziehungen zwischen beiden Staaten fast wie eine
Randerscheinung oder Fußnote. Die Aufnahme der
Beziehungen kam denn auch wohl kaum aus einem echten
Geist der Versöhnung zustande, es spielten handfeste
Interessen eine Rolle. Deutschland brauchte Israel, weil
es sein Image in der Welt aufbessern musste, und Israel
brauchte Deutschland vor allem aus materiellen Gründen.
Wie Levi Eshkol es formuliert hatte: Deutschland sei
wegen des Holocaust moralisch verpflichtet, jeden
möglichen Beitrag zu leisten, dass Israel ein starker
Staat wird. Mit „Beitrag“ und „stark“ waren hier Geld
und Waffen gemeint. Der damalige deutsche Botschafter in
Israel, Rolf Pauls, verstand das auch so und erklärte:
Er halte den Appell an unsere moralischen
Verpflichtungen für durchsichtig, denn die Israelis
sagten Moral, meinten aber Kasse. Daran hat sich – siehe
die Lieferung bzw. Schenkung der Milliarden teuren
U-Boote – bis heute nichts geändert.
Die
Aufnahme der diplomatischen Beziehungen hatte auch sehr
mit viel Geld und Waffen zu tun. Die Bundesrepublik
hatte Israel seit Jahren unter strengster Geheimhaltung
Waffen und militärisches Gerät geliefert, ja, Israel
durch das Geheimabkommen zwischen Konrad Adenauer und
Ben Gurion, das die Zahlung von drei Milliarden D-Mark
vorsah, zur Atommacht gemacht. Als die Waffenlieferungen
bekannt wurden, war die bundesdeutsche Nahost-Politik
nur noch ein Scherbenhaufen, denn die arabischen Staaten
(außer Ägypten, das aber den DDR-Staatsratsvorsitzenden
Walter Ulbricht nach Kairo einlud) brachen die
diplomatischen Beziehungen zur Bundesrepublik ab und
erkannten die DDR an. Eine Katastrophe für die deutsche
Außenpolitik, die sich durch die Hallstein-Doktrin
selbst Fesseln angelegt hatte, denn diese bestand aus
dem Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik
gegenüber der DRR in der internationalen Staatenwelt. In
dieser Situation beschloss Bundeskanzler Ludwig Erhard –
wohl aus einer Trotzreaktion heraus – die Aufnahme
diplomatischer Beziehungen zu Israel. Wahrhaftig kein
rühmlicher Auftakt für das später von offizieller Seite
so hoch gelobte Verhältnis.
Man muss
kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass bei den
Jubiläumsfeierlichkeiten das übliche Ritual abgespielt
wird und alle wirklichen Probleme und Differenzen beider
Seiten und im gemeinsamen Verhältnis unter den
philosemitischen Teppich gekehrt werden. Lebenslügen und
Doppelmoral werden auch weiterhin – wie lange noch? –
die deutsch-israelischen Beziehungen beherrschen.
Die
deutsche Bevölkerung scheint den Regierenden in Berlin
in der realistischen Einschätzung Israels inzwischen
weit voraus zu sein. Eine Umfrage der
Bertelsmann-Stiftung, die im Januar 2015 veröffentlicht
wurde, hat ergeben, dass 62 Prozent der Deutschen die
Politik der israelischen Regierung negativ bewerten, 48
Prozent haben eine schlechte Meinung von Israel, nur 36
Prozent bewerten Israel positiv. Dass ein große Mehrheit
der Israelis die Politik der deutschen Regierung
gegenüber Israel positiv bewertet, verwundert nicht,
angesichts deren Bestreben, kritik- und bedingungslos
hinter diesem Staat zu stehen.
12.März 2015