Was gilt für einen
Wissenschaftler: die Wahrheit oder
die Solidarität mit Israel?
Michael Wolffsohn hat sich als
Historiker mit einem Kommentar in
BILD vollständig disqualifiziert
Arn Strohmeyer
Michael Wolffsohn ist ein
deutsch-jüdischer Historiker und
Hochschullehrer, also
Wissenschaftler. Wissenschaftler
sind von ihrem Berufsethos her zur
Suche nach der Wahrheit
verpflichtet. Das ist das oberste
Gebot für diesen Berufsstand seit
den Zeiten der Aufklärung. Natürlich
ist das ein hoher Anspruch, und es
ist kein Geheimnis, dass
Wissenschaft nicht selten zur
Dienerin bestimmter Ideologien und
Interessen wird. Michael Wolffsohn
ist ein Musterbeispiel für einen
Wissenschaftler, der das Gebot der
Wahrheitssuche offenbar völlig
aufgegeben hat und nur noch
Interessen dient. Bisweilen tritt er
in die Niederungen der öffentlichen
Diskussion über den Nahost-Konflikt,
und da ist ihm selbst BILD als
Medium nicht zu schmutzig.
In diesem Blatt hat er jetzt einen
Kommentar geschrieben, der –
beurteilt man ihn von der Warte der
Wahrheit oder Wissenschaft aus –
schlicht ein Offenbarungseid ist. Er
behauptet unter der Überschrift
„Intifada und Nahostkriege in
Deutschland und Europa“, dass der
palästinensische Terrorismus (er
nennt das „Messer- und Auto-Intifada“)
längst Westeuropa erreicht hätte:
„Besonders die Methoden der
Palästinenser sind zu weltweit
angewandten Terror-‚Modellen‘
geworden.“ Da wirft er alle
Terrorakte – seien sie nun in Paris,
Nizza, Berlin oder Hamburg und von
wem auch immer begangen – in einen
Topf und macht die Palästinenser
dafür verantwortlich. Er schreibt:
„Die Messerattacke des
Palästinensers in Hamburg und alle
Terrorakte des sogenannten
‚Islamischen Staates‘ oder von
al-Qaida beweisen zunächst einmal
eine Tatsache, die in Deutschland
und woanders gern übersehen wird:
Ganz offensichtlich haben diese
Terrororgien mit Israel eigentlich
weniger als nichts zu tun.“
Also: Palästinenser, „Islamischer
Staat“ und al-Qaida, das ist für
Wolffsohn alles eins, wobei die
Palästinenser das „Terror-Modell“
erfunden haben, aber mit Israel hat
das alles wiederum gar nichts zu
tun. Dann fragt er, was hat den
Palästinensern ihr jahrzehntelanger
Terror gegen Israel gebracht? Nichts
politisch Positives, dafür jedoch
sechshunderttausend und bald eine
Million jüdischer Siedler im
westjordanischen Palästina.“ Hier
versteigt er sich zu der Behauptung,
dass nicht die Ziele und die Politik
des Zionismus die Ursache für den
israelischen Raub an
palästinensischem Land sind, sondern
der palästinensische Terrorismus.
Dann würde ja auch das Gegenteil
gelten: Wenn sich die Palästinenser
brav und demütig in ihr Schicksal
ergeben und sich nicht – auch mit
Gewalt – gegen die jüdische
Unterdrückung wehren würden, gäbe es
keine jüdische Besiedlung des
Westjordanlandes. Glaubt Michael
Wolffsohn das wirklich?
Das ist eine solche Verzerrung der
Realität des Nahost-Konflikts, wie
sie schlimmer nicht denkbar ist.
Kein Wort schreibt er über Israels
Gewaltpolitik gegenüber den
Palästinensern: Besatzung,
Unterdrückung, Demütigungen,
Entmenschlichung und Dämonisierung
dieses Volkes, das Israel 1948 aus
seiner Heimat vertrieben und dabei
seine Kultur zerstört hat und dessen
Land es täglich weiter raubt. Und
die Vertreibung geht auch weiter.
Nur eine Zahl, die die wirkliche
Situation anschaulich macht: 4,5
Millionen Palästinenser leben im
israelischen Herrschaftsbereich
(Westjordanland und Gazastreifen) –
durch Mauern und Zäune eingesperrt –
ohne alle bürgerlichen und
politischen Rechte. Die Anwendung
von Menschenrechten und des
Völkerrechts für dieses Volk ist
inzwischen in Israel zu einem
verächtlichen Fremdwort geworden.
Wer sich auf das internationale
Recht beruft, wird als „Verräter“
betrachtet – so die israelische
Soziologin Eva Illouz.
Dass der Wissenschaftler Michals
Wolffsohn mit keinem Wort auf die
reale Lage in Israel/Palästina
eingeht und auch nicht nach den
Ursachen des palästinensischen
Terrorismus fragt, disqualifiziert
ihn für seinen Berufsstand
vollständig. Denn auch Terrorismus
(es gab und gibt auch jüdischen
Terrorismus) hat Ursachen und die
hat ein Wissenschaftler aufzuzeigen
und einem Millionen-Publikum in
einem Boulevard-Blatt nicht
demagogische Propaganda vorzusetzen.
Aber man kann Michael Wolffsohns
Motive sogar verstehen, wenn
natürlich auch nicht rechtfertigen
oder entschuldigen.
Die oben schon genannte israelische
Soziologin Eva Illouz hat darauf
hingewiesen, in welchem Konflikt
sich jüdische Intellektuelle
grundsätzlich befinden. Für sie gilt
der Imperativ der Hypersolidarität
mit dem Judentum bzw. mit Israel.
Der jüdische Gelehrte Gerschom
Scholem hat dieses Gebot die „Liebe
zur jüdischen Nation und zum
jüdischen Volk“ genannt oder auch
hebräisch „Ahabath Israel“. Den
Mangel an Ahabath warf Scholem in
einer berühmt gewordenen Kontroverse
Hannah Arendt wegen ihrer
Berichterstattung über den
Eichmann-Prozess vor, sie berief
sich dagegen auf die Unabhängigkeit
des Denkens.
Die jüdische geistige Tradition war
seit der Aufklärung vorrangig
universalistisch gewesen. Der
Holocaust und die Gründung des
Staates Israel haben diese Tradition
unterbrochen oder sogar beendet,
weil nun die partikularen Interessen
Israels im Vordergrund standen. Was
aber die Möglichkeit, Israel oder
die jüdische Gemeinschaft zu
kritisieren, für jüdische
Intellektuelle sehr eingeschränkt
hat. Eva Illouz schreibt: „Eine
Kritik am jüdischen Volk ist nur
dann zulässig, wenn sie in einen
Code der Liebe und Solidarität
eingebettet ist.“ Was ja heißt: Wer
unter den Bedingungen der
Hypersolidarität dennoch kritisiert,
verliert die Solidarität der
jüdischen Gemeinschaft. Oder er
setzt sich sogar dem Vorwurf des
Antisemitismus oder Antizionismus
(„selbsthassende Jude“) aus.
Eva Illouz fasst den Konflikt der
jüdischen Intellektuellen so
zusammen: „Der jüdische
Intellektuelle befindet sich in
einem noch vetrackteren Dilemma als
der nichtjüdische, weil er zwischen
zwei gleich mächtigen und explizit
moralischen Geboten hin- und
hergerissen ist, dem der Wahrheit
und dem der Solidarität. Wer die
Wahrheitsposition bezieht und die
Wahrheit auch ausspricht,
unterminiert damit die Solidarität
der Gruppe, wie sie sich nicht nur
in der Bejahung der Liebe zur Gruppe
ausdrückt, sondern auch in der
Anteilnahme an ihren kollektiven
Mythen und Geschichten.“
Michael Wolffsohn hat sich für die
Hypersolidarität, also die Liebe zu
Israel entschieden – aber gegen das
Ethos seiner Wissenschaft, in erster
Linie immer der Wahrheit
verpflichtet zu sein.
(Sie Zitate stammen aus dem Buch von
Eva Illouz: Israel, Frankfurt/ Main
2015) |