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„Methodisch
betriebener Wahnsinn“
Was Israel zu seinem gnadenlosen Vorgehen gegen Gaza
antreibt untersucht Norman G. Finkelstein in seinem neuen
Buch
Arn Strohmeyer
Alle
paar Jahre schlägt Israels hoch gerüstete Kriegsmaschinerie
wieder gegen den Gazastreifen los. In Israel beschreibt man
diese grausamen Überfälle, die schon Tausende von
Palästinensern das Leben gekostet und das Gebiet zu einem
Trümmerfeld und Elendsquartier gemacht haben, mit einer
zynisch-poetischen Metapher: „Es ist Zeit, in Gaza wieder
mal das Gras zu mähen!“ Die schrecklichen Folgen einer
solchen „Gartenarbeit“ sind den Israelis offenbar völlig
gleichgültig. Sie, die in jedem kleinen Grenzscharmützel
gleich einen neuen Holocaust wittern, empfinden gegenüber
den Leiden anderer keiner Empathie. Die Folgen der
israelischen Attacken sind strategisch gewollt: den
Gazastreifen mit jeder militärischen Aktion ein Stück weiter
zerstören und auf diese Weise die Bildung eines
palästinensischen Staates verhindern. Dass diese israelische
Rechnung wohl aufgehen wird, hat selbst die UNO bestätigt:
Spätestens im Jahr 2020 wird dieses größte Freiluftgefängnis
der Welt unbewohnbar sein.
Der amerikanisch-jüdische Politologe Norman G. Finkelstein
untersucht in seinem neuen Buch „Methode und Wahnsinn. Die
Hintergründe der israelischen Angriffe auf Gaza“ das
israelische Vorgehen gegen den palästinensischen
Küstenstreifen und seine Bewohner. Der Ablauf ist fast immer
der gleiche: Selbst wenn mit der Hamas ein
Waffenruhe-Abkommen (das auch eingehalten wird) vereinbart
wurde, findet Israel einen Vorwand, die Hamas-Führer im
Gazastreifen so zu provozieren (etwa durch willkürliche
Verhaftungen oder die Ermordung von führenden
Hamas-Funktionären), dass eine neue Gewalteskalation beginnt
und Israel gegen den Streifen losschlagen, also wieder
einmal das „Gras mähen kann.“
Finkelstein begründet, warum Israel gar kein Interesse an
einer langfristigen Waffenruhe hat: „Eine solche Waffenruhe
würde die Aufmerksamkeit auf den in Worten und Taten zum
Ausdruck gekommenen Pragmatismus der Hamas lenken, den
internationalen Druck auf das verhandlungsunwillige Israel
steigen lassen und somit das strategische Ziel Israels
untergraben, sich das Westjordanland einzuverleiben.“ Was
bedeutet: Israel muss auch gerade dann losschlagen, wenn es
eine ernst gemeint palästinensische Friedensoffensive
abzuwehren gilt.
Israel hat noch ein anderes Argument für seine Angriffe auf
den Gazastreifen: die Wiederherstellung seiner
„Abschreckungsfähigkeit“. Das wurde besonders nach der
Schlappe der israelischen Armee im Libanon-Krieg 2006 gegen
die Hisbollah deutlich. Mit „Abschreckungsfähigkeit“ ist
nicht gemeint, dass Israel in der Lage sein müsse, eine
akute tödliche Bedrohung für seine eigene Existenz
abzuwenden, sondern „Abschreckung“ bedeutet: Die Araber
müssen so eingeschüchtert werden, dass sie niemals –egal,
was Israel auch tut – gegen diesen Staat aufbegehren können.
Ariel Sharon hat diesen Sachverhalt in dem kurzen
klassischen Satz zusammengefasst: „Die Abschreckung ist
unsere wichtigste Waffe – sie müssen Angst vor uns haben!“
Dass die Wiedererlangung der „Abschreckungsfähigkeit“ gegen
einen Gegner erzielt wird, der sich gegen Israels
militärische Übermacht gar nicht wehren und mit seinen
primitiven, selbst gebastelten und deshalb völlig
zielungenauen Raketen nur symbolischen Widerstand leisten
kann, ohne Israel dabei größere Verluste an Menschen oder
materielle Zerstörungen zufügen zu können, interessiert dort
nicht. Ganz im Gegenteil: Gaza wurde und wird immer wieder
zum Angriffsziel, weil es weitgehend wehrlos ist. Auf diese
Weise kann Israel jedem Risiko für die eigenen Armee, die
ein konventioneller Krieg bedeuten würde, aus dem Weg gehen.
Dass ausgerechnet die durch Israels ständige Überfälle und
die seit 2007 andauernde völlige Abriegelung des
Gazastreifens (Blockade) in Armut und Elend gestoßene
Bevölkerung das Ziel und Opfer abgeben muss, Israels
„Abschreckungsfähigkeit“ wiederherzustellen, ist an Zynismus
nicht zu übertreffen, den Finkelstein zu Recht als „Rückfall
in die Barbarei“ bezeichnet.
Israels Verteidiger bringen gegen den Raketenbeschuss der
Hamas (oder anderer islamischer Gruppen) das Argument vor,
dass dieser Staat ein „Recht auf Selbstverteidigung“ habe.
Finkelstein, der die Raketen der Hamas als bestenfalls
„frisierte Feuerwerkskörper“ bezeichnet. antwortet darauf
mit einer militärischen und einem völkerrechtrechtlichen
Gegenaussage. Sein militärisches Argument, das die eklatante
Asymmetrie der Stärken beider Seiten im Jahr 2014 betont,
lautet: „Die Hamas hatte keine Raketen in ihrem Arsenal,
keine Verbündeten, von denen sie welche hätte beziehen
können, [wegen der Blockade] keine Möglichkeit, welche in
den Gazastreifen hineinzuschmuggeln, und keine Ressourcen,
um selbst welche herzustellen. Von daher gehört die
Vorstellung, die Hamas habe Tausende Raketen auf Israel
abgefeuert (und weitere Tausende in geheimen Waffenlagern
bereitgehalten), während Israel nur dank des wunderbaren
[Luftabwehrsystems] Iron Dome von Verwüstung
verschont geblieben sei, wohl ins Reich der Fabel.“
Finkelsteins völkerrechtliche Argumentation verdient es,
hier ausführlich wiedergegeben zu werden, weil das „Selbstverteidigungs“-Argument
gerade auch in Deutschland sehr viele Anhänger hat – sogar
die Kanzlerin benutzt es ständig. Der Autor sieht in der
Aussage der „Selbstverteidigung“ einen grundsätzlichen
Widerspruch: Denn wie kann Israel behaupten, sich selbst zu
verteidigen, wenn es die Feindseligkeiten gegen Gaza ja
selbst alle vom Zaun gebrochen hat? Finkelstein argumentiert
dann folgendermaßen: Nach dem Völkerrecht ist es einer
Besatzungsmacht verboten, das Streben nach Selbstbestimmung
gewaltsam zu unterdrücken, wohingegen es einem Volk nicht
verboten ist, bei seinem Streben nach Selbstbestimmung
Gewalt anzuwenden. In einem Rechtsgutachten von 2004 hat der
Internationale Gerichtshof das Recht des palästinensischen
Volkes auf Selbstbestimmung ausdrücklich bestätigt und
Israel dazu verpflichtet, das Selbstbestimmungsrecht dieses
Volkes zu respektieren. Folglich kann Israel sich nicht das
Recht anmaßen, das palästinensische Streben nach
Selbstbestimmung gewaltsam zu unterdrücken.
Auch kann Israel mit Verweis auf die Tatsache, dass sich
dieser Kampf um Selbstbestimmung im Rahmen einer Besatzung
abspielt, nicht behaupten, ihm als Besatzungsmacht stünde es
rechtmäßig zu, der Besatzung, solange sie besteht, Geltung
zu verschaffen. Finkelstein verweist in diesem Zusammenhang
auf eine Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes von
1971, die besagte, dass Südafrika das Recht verwirkt hatte,
seine Besatzung Namibias fortzuführen, weil es sich
weigerte, in redlicher Absicht über deren Aufhebung zu
verhandeln. Daraus folgt: Auch Israel hat es versäumt, in
redlicher Absicht über ein Ende der Besatzung der
palästinensischen Gebiete zu verhandeln. Gemäß dem
Präzedenzfall Namibia ist auch die israelische Besatzung
illegal. Sein einziges „Recht“, das Israel geltend machen
kann, besteht darin, seine Besatzung unverzüglich zu
beenden.
Finkelsteins weitere Argumentation: Zwar behauptet Israel,
es habe das Recht, sich gegen den Hamas-Beschuss zu
verteidigen, was aber Israel dabei in Wirklichkeit für sich
beansprucht, ist das Recht, seine Besatzung fortzuführen.
Würde Israel darauf verzichten, das palästinensische Streben
nach Selbstbestimmung gewaltsam zu unterdrücken, ließe sich
die Besatzung nicht länger aufrechterhalten, und der
Beschuss Israels hätte ein Ende. Anders gesagt: Gäbe Israel
seine Besatzung auf, würde sich eine Gewaltanwendung
erübrigen. Die gebetsmühlenartige Beschwörung des
israelischen „Rechts auf Selbstverteidigung“ dient nur der
Ablenkung. Die eigentliche Frage ist doch: Hat Israel das
Recht, Gewalt anzuwenden, um an seiner illegalen Besatzung
festzuhalten zu können? Die Antwort lautet nein.
Argumente, die man sich merken sollte, um der hohlen und
stupiden Litanei von dem „Recht auf Selbstverteidigung“
entgegentreten zu können. Finkelstein ist ansonsten was die
Lösung des Konflikts angeht, eher pessimistisch. Militärisch
ist Israel so überlegen, dass gewaltsamer Widerstand der
Palästinenser keine Erfolgsaussichten hat. Auch die
diplomatischen Chancen für eine Lösung schätzt er gering
ein: „Die Palästinenser können sich von der Diplomatie nicht
einmal ein ungerechtes Friedensabkommen erhoffen, geschweige
denn ein gerechtes.“ Auch von einer Anklage beim
Internationalen Strafgerichtshof hält er nichts, weil die
Gesinnung dieses Gerichts eher Israel-freundlich sei.
Was bleibt? Finkelstein schlägt nach dem Vorbild der
amerikanischen Bürgerrechtsbewegung eine gewaltige, aber
völlig gewaltlose Demonstration aller Bewohner des
Gazastreifens vor den israelischen Grenzabsperrungen vor –
die Kinder vorneweg. Auf den Transparenten müssten Losungen
stehen wie „Hört auf, uns die Luft abzuschneiden!“ und
„Schluss mit der illegalen Gaza-Blockade!“ Eine schöne Idee,
aber ob sie Israel zum Einlenken bringen würde, ist doch
eher zweifelhaft. Aber dieser Zweifel ist keine Kritik an
Finkelsteins sehr wichtigem Buch, das ein unerlässlicher
Beitrag zum Verständnis von Israels barbarischer Politik
gegenüber den Palästinensern im Allgemeinen und dem
Gazastreifen im Besonderen ist.
Norman, G. Finkelstein: Methode
und Wahnsinn. Die Hintergründe der israelischen Angriffe aus
Gaza, Laika Verlag Hamburg, ISBN 978-3-944233-62-8, 19 €
26.03.2016
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