Wenn die Werte der USA und Europas zur
Doppelmoral und Heuchelei werden
Michael Lüders hat eine brillante Analyse der westlichen
Politik im Orient vorgelegt / „Israel riskiert seine
Selbstzerstörung“
Arn
Strohmeyer
Es
gibt eine alte Volksweisheit, die besagt, Dummheit ist
eine Gabe Gottes, man soll sie nur nicht missbrauchen.
Wenn dieser Spruch stimmt, dann tut der Westen,
besonders seine Vormacht die USA, außenpolitisch ständig
alles, diese Gottesgabe reichlich zu missbrauchen.
Belege dafür liefert der Nahost- und Islam-Experte
Michael Lüders in seinem neuen Buch „Wer den Wind sät.
Was westliche Politik im Orient anrichtet“ in Hülle und
Fülle. Man fragt sich bei der Lektüre dieses
außergewöhnlichen Textes immer wieder, wie große Mächte
wie die USA und die EU so kurzsichtig auf den eigenen
Vorteil bedacht und langfristig so blind gegen eigene
Interessen agieren können. Das Handlungsmuster dabei
wiederholt sich in schöner Regelmäßigkeit – aus den
eigenen Fehlern zu lernen ist offenbar völlig
ausgeschlossen.
Der
Ablauf, der sich über Jahrzehnte nicht verändert hat,
sieht dann so aus: Am Anfang steht die Einteilung in
Gute und Böse. Die USA und ihre Verbündeten – also der
Westen – stehen natürlich immer auf der Seite der
Vernunft und Moral, sie treten für die universellen
Werte Freiheit, Menschenrechte und Demokratie ein. Den
„Anderen“ auf der Gegenseite wird Irrationalität,
Fanatismus und Grausamkeit unterstellt. Der Westen
kämpft selbstverständlich stets für die Sache des Guten,
was aber nur ein ideologischer Vorwand ist, denn in
Wirklichkeit geht es um seine geostrategische Hegemonie,
um Absatzmärkte für die eigene Wirtschaft, um Ressourcen
und Rohstoffe sowie um die Sicherung der Transportwege
zu ihrer Beschaffung. Um dies zu gewährleisten, ist die
westliche „Wertegemeinschaft“ dann auch bereit,
Allianzen mit den Herrschern übelster Diktaturen
einzugehen.
Widersetzt sich ein Land der westlichen Vorherrschaft,
wird es zunächst wie der Iran unter den Mullas, Syrien
unter Assad und der Irak unter Saddam Hussein, Libyen
unter Gaddafi oder z.Zt. auch Putins Russland mit
Sanktionen überzogen. Wobei das Ziel immer ist, einen
Regimewechsel im westlichen Sinne herbeizuführen, was
aber so gut wie nie gelingt. Der nächste Schritt der
Bestrafung sind dann Militärinterventionen – siehe
Afghanistan, Irak und Syrien. Sind diese Staaten dadurch
erst erschüttert oder gar beseitigt, hat man ein
politisches Vakuum geschaffen, in das nun die
verschiedensten um die Macht kämpfenden Gruppen
hineinstoßen. Es beginnen unerklärte schmutzige Kriege
unter dem Signum des „Kampfes gegen den Terrorismus“.
Lüders
fragt: „Gibt es eine einzige militärische Intervention
des Westens, die nicht Chaos, Diktatur und neue Gewalt
zur Folge hatte?“ Er gibt die Antwort: „Auf die
westliche Einmischung oder Intervention folgt stets die
Herrschaft von Militärs, Milizen und Warlords, von Clans
und Stämmen, von religiösen und ethnischen Gruppen –
mithin Kleinstaaterei, Selbstzerstörung und Barbarei. In
diesem Umfeld gedeihen unterschiedliche Gruppen von
Dschihadisten, denen der Koran als Rechtfertigung von
Willkür, Eroberung und Terror dient. Der sogenannte
„Islamische Staat“ ist für die hier geschilderte
Entwicklung das beste Beispiel. Ohne die amerikanische
Ursünde – den völkerrechtswidrigen Einmarsch in den Irak
2003 mit der anschließenden Zerstörung seines
Zentralstaates und seiner Sicherheitsorgane – gäbe es
heute den „Islamischen Staat“ und seinen Terror im Irak
und in Syrien nicht.
Aber
nicht nur das: Die USA haben die Terrororganisationen,
die sie heute mit allen Mitteln bekämpfen, zum Teil
selbst ins Leben gerufen und stark gemacht. Aus den
Muhadschedin in Afghanistan, die für ihren Kampf gegen
die sowjetischen Eroberer Waffen und Geld aus Washington
bekamen, wurden später die Taliban und die Al-Qaida. Ein
Ableger von Al-Qaida ist auch der „Islamische Staat“,
der sich heute noch aus dem reichlichen amerikanischen
Waffenarsenal in Syrien und Irak bedient, das Washington
der Gegenseite geliefert hat: den guten „Dschihadisten“
und der irakischen Armee, und die der IS nun auf seinen
Eroberungszügen erbeutet.
Michael
Lüders kann bilanzieren: „Der Westen und hier besonders
die USA haben den Zerfall ganzer Staaten vorangetrieben
oder ausgelöst und sie haben zum Erstarken radikaler
islamischer Bewegungen maßgeblich beigetragen, von den
Taliban und Al-Qaida bis hin zum ‚Islamischen Staat‘.
Mit anderen Worten: Der Westen schafft sich seine
terroristische Bedrohung zum Teil selbst.“ Die Folge ist
ein endloser Krieg, der aber gewollt ist, weil er die
Profite der Rüstungsfirmen in die Höhe treibt, den
Machtzuwachs von Regierungen und Geheimdiensten
absichert und die Überwachung der Bürger legitimiert.
Dass der Steuerzahler letzten Endes für diesen Irrsinn
aufkommen muss, versteht sich von selbst.
Lüders
widmet einige Kapitel auch der völlig einseitigen
Politik des Westens gegenüber Israel, denn hier werden
die absurden Widersprüche vollends zur Methode. Auch
hier werden ständig die hehren westlichen Werte
verkündet, aber angesichts der nicht nur
völkerrechtswidrigen, sondern zutiefst
menschenverachtenden Politik Israels gegenüber den
Palästinensern werden Begriffe wie Freiheit,
Menschenrechte und Demokratie völlig entwertet und
entpuppen sich als reine Heuchelei und Doppelmoral.
Lüders rückt die Dinge ins richtige Licht, wenn er
schreibt: „Müssten irgendwo auf der Welt Menschen
jüdischen Glaubens unter ähnlichen Bedingungen leben wie
die Palästinenser unter israelischer Besatzung, würden
sie Vergleichbares durchleiden wie die Bewohner des
Gazastreifens im Sommer 2014, gäbe es einen Aufschrei
des Entsetzens in der westlichen Politik und
Publizistik.“
Zu der
Heuchelei und Doppelmoral im Verhältnis des Westens zu
Israel gehört auch die Dämonisierung der Hamas. Denn
diese Organisation hat in den letzten Jahren immer
wieder versichert, dass sie bereit sei, Israel
anzuerkennen, wenn dieser Staat seinerseits bereit sei,
den Palästinensern einen Staat und ihre Rechte
zurückzugeben. Ein Faktum, das in der westlichen Politik
und in den westlichen Medien lieber verschwiegen wird.
Was soll die Hamas mehr anbieten? Lüders zitiert in
diesem Zusammenhang den israelischen Historiker Avi
Shlaim, der die absurde politische Logik und Moral des
Westens so beschreibt: „Die internationale Gemeinschaft
verhängt Wirtschaftssanktionen nicht gegen den Besatzer,
sondern gegen denjenigen, der unter der Besatzung lebt,
also nicht gegen den Unterdrücker, sondern gegen den
Unterdrückten. Wie schon so oft in der tragischen
Geschichte Palästinas würden die Opfer für ihr Unglück
selbst verantwortlich gemacht.“ Avo Shlaim nennt eine
solche Politik „schamlos“.
Und das
geschieht alles unter dem Banner einer Politik, die
beansprucht, für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte
einzustehen. Der Gipfel des Zynismus ist dann die
israelische Forderung an die Palästinenser, Israel als
„jüdischen Staat“ anzuerkennen. Hier wird von den
Palästinensern gefordert, die Herrschaft einer
Minderheit über die Mehrheit anzuerkennen. Oder schärfer
formuliert: Die Palästinenser sollen ihrer dauerhaften
Entrechtung zustimmen. Lüders schreibt: „Die
Kolonialmacht verlangt gewissermaßen von den
‚Eingeborenen‘ ein klares Bekenntnis, dass sie keine
Einwände gegen ihren Status als Rechtlose erheben. Auf
eine solche Idee wäre nicht einmal das britische Empire
gekommen.“ Der Autor sieht Israel auf dem Weg in eine
Ethnokratie, in eine Neuauflage der Apartheid unter
anderem Vorzeichen, was zur Selbstzerstörung dieses
Staates führen kann. Dass Deutschland Israel auf diesem
Weg gehorsam begleitet, ist der eigentliche Skandal.
Lüders konstatiert: „Somit schließt sich der Kreis:
Deutsche Politiker lernen aus der Geschichte, indem sie
Israel Waffen zum Freundschaftspreis liefern, die
anschließend auf Palästinenser gerichtet werden.“
Der Autor
schließt mit einem düsteren Worst-case-Szenario: „Der
‚Islamische Staat‘ erklärt den Kampf um Jerusalem zur
Glaubenspflicht, der Konflikt um Palästina verschränkt
sich mit dem Vormarsch des ‚Islamischen Staates‘.
Sollten jüdische und muslimische Extremisten gemeinsam
die Region in Brand setzen, wird alles denkbar. Auch ein
großangelegter Angriff auf Israel, ein Land mit
Atomwaffen.“ Wenn dieses Szenario Wirklichkeit würde,
was nicht zu hoffen ist, hätte der Westen auch hieran
ein gerüttelt Maß an Schuld. Seine Unfähigkeit, die
Realitäten im Nahen Osten zu sehen, die einseitige Sicht
von gut und böse zu überwinden, die Zeichen der Zeit zu
erkennen und mit Diplomatie, Interkulturalität und
Pragmatismus zu handeln, lässt nicht auf eine Besserung
der Situation hoffen. Eher im Gegenteil. Der unendliche
Krieg in dieser Region wird zur Regel, aber er kann auch
eines Tages sehr schnell zum Weltbrand werden. Diese
verhängnisvolle Entwicklung mit analytischer Schärfe
aufzuzeigen, ist das große Verdienst von Michael Lüders,
der den Mut hat, gegen die Übermacht des Mainstreams
anzuschwimmen und viel Unangenehmes mitzuteilen, das
aber leider wahr ist.
Michael
Lüders: Wer den Wind sät. Was westliche Politik im
Orient anrichtet, C.H. Beck-Verlag München 2015, 14,95
Euro
12.05.2015