„Das Ziel ist, eine
Atmosphäre der Angst zu
schaffen, die jede Kritik an
Israel unmöglich macht“
Die
Adorno-Preisträgerin Judith
Butler hat sich schon 2004
ausführlich zum
Antisemitismus-Vorwurf geäußert
Arn Strohmeyer
Die
amerikanisch-jüdische
Philosophin Judith Butler wird
am 11. September in der
Frankfurter Paulskirche der
Theodor-Adorno-Preis verliehen
bekommen, der alle drei Jahre an
Persönlichkeiten vergeben wird,
die in der Nachfolge der
Kritischen Theorie der
Frankfurter Schule stehen. Der
Generalsekretär der Zentralrats
der Juden in Deutschland,
Stephan J. Kramer, eröffnete
daraufhin in gewohnter Manier
eine verbale Schlammschlacht
gegen die angesehene
Wissenschaftlerin. Eine
„Israelhasserin“ sei sie, die
von „moralischer Verderbtheit“
geleitet sei. Dem Kuratorium,
das die Preisverleihung
beschlossen hatte, unterstellte
Kramer, „moralisch nicht
gefestigt“ zu sein. Man kennt
den hasserfüllten Ton dieser
Leute und man muss fragen:
Schadet dieser Zentralrat nicht
der Sache, der er eigentlich
verpflichtet ist, nämlich die
Interessen der Juden in
Deutschland zu vertreten, wenn
er sich zum so einseitigen,
propagandistischen Sprachrohr
Israels macht?
Natürlich durften
auch die Hamas und die Hisbollah
in Kramers Verbalattacke nicht
fehlen. Butler hatte sie vor
Jahren als „soziale Bewegungen“
bezeichnet, die wegen ihres
Kampfes gegen Kolonialismus und
Imperialismus im weitesten Sinne
zur globalen Linken gehörten,
ohne sich aber mit den Zielen
dieser Organisationen zu
identifizieren. Es reicht heute
offenbar, in politischen
Analysen die Worte Hamas und
Hisbollah zu benutzen, um von
Leuten wie Kramer gleich in die
Nähe des Leibhaftigen gestellt
zu werden. Dabei vergessen diese
Ideologen oder sie übersehen es
ganz bewusst, dass Israel es
war, das diese Organisationen
ins Leben gerufen und sie
letzten Endes zu kleinen
Machtfaktoren im Nahen Osten
gemacht hat.
Israel hat die
Hamas, die aus der
Muslim-Bruderschaft im
Gazastreifen hervorgegangen ist,
zunächst sogar finanziell und
politisch unterstützt, um sie
als Konkurrenz zur PLO
aufzubauen. Erst als die Hamas
sich der ersten Intifada
anschloss, trennten sich die
Wege. Die Hisbollah ist als
Widerstandsorganisation gegen
die israelische Besatzung großer
Teile des Libanon von 1982 bis
zum Jahr 2000 hervorgegangen.
Ohne Israels verhängnisvolle
Politik gegenüber den
Palästinensern und seinen
anderen Nachbarn gäbe es beide
Organisationen überhaupt nicht.
Was die verbalen
Ausfälle gegen Judith Butler
angeht, so hat diese nicht erst
jetzt sehr klug und unpolemisch
gegen solche Vorwürfe Stellung
genommen, sondern ihre Position
schon 2004 in dem Aufsatz „Der
Antisemitismus-Vorwurf, Juden,
Israel und die Risiken
öffentlicher Kritik“ (in dem von
Doron Rabinovici, Ulrich Speck
und Natan Sznaider
herausgegebenen Suhrkamp-Band
„Neuer Antisemitismus? Eine
globale Debatte“) dargelegt. In
diesem Text setzt sie sich
äußerst kritisch mit den
Israel-Ideologen auseinander,
die so schnell mit dem
Antisemitismus-Vorwurf bei der
Hand sind, und stellt deren
wirkliche Absichten bloß. Man
darf als sicher annehmen, dass
es viel mehr Argumente dieser
Art von Judith Butler sind, die
den Zentralrat veranlassen, sich
auf die jüdische Philosophin aus
allen Rohren einzuschießen, als
die inzwischen mehr als
abgedroschenen Reizworte Hamas
und Hisbollah.
Zunächst
beschreibt Judith Butler ihre
ethische Grundposition, die für
sie der Ausgangspunkt ihres
politischen Denkens und Handelns
ist. Sie formuliert sie in Form
einer Frage: „Werden wir
schweigen (und ein Kollaborateur
illegitimer gewalttätiger Macht
sein), oder werden wir unsere
Stimme erheben (und zu denen
zählen, die taten, was in ihren
Kräften stand, um illegitime
Gewalt zu verhindern), selbst
wenn das laute Aussprechen ein
Risiko für uns darstellt?“ Die
Kritik an Israel entspringe
genau diesem ethischen Ansatz,
der keineswegs unempfindlich für
jüdisches Leiden in der
Vergangenheit sei, sondern ganz
im Gegenteil gerade aus der
Erfahrung des Leidens hervorgehe
und sich deshalb das Ziel setze,
dass „das Leiden selbst
vielleicht ein Ende hat, damit
etwas, das wir zu Recht die
Unantastbarkeit des Lebens
nennen könnten, gerecht und
wahrhaft gewürdigt werden kann.
Die Tatsache großen Leidens
rechtfertigt weder Rache noch
legitime Gewalt, sondern muss im
Sinne einer Politik mobilisiert
werden, die das Leiden
universell verringern will,
einer Politik, der es darum
geht, die Unantastbarkeit des
Lebens aller Menschenleben
anzuerkennen.“
Judith Butler
analysiert dann, wie der
Antisemitismus-Vorwurf in sehr
vielen Fällen (natürlich gibt es
auch wirklichen Antisemitismus,
der bekämpft werden muss)
zustande kommt: indem dem
Sprechenden oder Schreibenden
Absichten unterstellt werden,
die er gar nicht geäußert hat:
„Der ‚So-und-So‘ hat eine
wirkliche Erklärung gegenüber
der israelischen Besatzung der
palästinensischen Gebiete
abgegeben, und das muss
bedeuten, dass ‚So-und-So‘ in
Wirklichkeit Juden hasst oder
diejenigen anfeuern will, die
das tun.“ Der Trick beim
Vorbringen des
Antisemitismus-Vorwurfes besteht
also darin, wie Judith Butler
schreibt, auf die vorgebrachte
kritische Aussage gar nicht
einzugehen, sondern ihr eine
versteckte Bedeutung zu
unterstellen, die mit der
ursprünglichen Aussage gar
nichts zu tun hat: „Auf diese
Weise muss die ausdrückliche
Behauptung gar nicht mehr gehört
werden, denn das, was man hört,
ist die versteckte Behauptung,
die verborgen unter der
ausdrücklichen mitgeteilt wird.“
Der Antisemitismus wird von
demjenigen, der die Kritik an
Israel vernimmt, dem Sprechenden
oder Schreibenden also erst
später zugeschrieben, ist eine
nachträgliche Interpretation,
die vom Inhalt der
ursprünglichen Aussage gar nicht
gedeckt ist.
Die gewollte und
beabsichtigte Folge eines
solchen Vorgehens ist die
Schaffung einer Atmosphäre der
Angst vor dem
Antisemitismus-Vorwurf, die eine
offene Diskussion über die
Politik Israels nicht mehr
zulässt. Die Gesellschaft und
jedes Individuum soll Zensur
üben, was bedeuten würde: „Man
könnte auf der Grundlage des
Wunsches, antisemitische
Ansichten und Einstellungen
nicht weiter stärken zu wollen,
zu dem Schluss kommen, dass
bestimmte Vorgehensweisen des
israelischen Staates -
Gewalttätigkeiten und Mord an
Kindern und Zivilisten - nicht
missbilligt werden dürfen,
sondern unkommentiert und
unbeanstandet hingenommen werden
müssen, und dass auch die
Fortsetzung dieser
Gewalttätigkeiten unbehelligt
vom Protest und der Empörung der
Öffentlichkeit geduldet werden
muss, aus Angst, irgendein
Protest gegen sie würde auf
Antisemitismus hinauslaufen,
wenn nicht gar selbst
Antisemitismus sein.“ Was auf
eine vollständige Immunisierung
der israelischen Politik
hinausliefe, sei sie auch noch
so gewalttätig.
An anderer Stelle
führt Judith Butler diesen
Gedanken weiter aus und
beschreibt die Gefahr, die die
Drohung mit dem
Antisemitismus-Vorwurf und die
Angst der Menschen davor, als
Antisemiten angeprangert zu
werden, bedeutet: Letzten Endes
Einschüchterung, Kontrolle und
Überwachung, welche Inhalte in
Bezug auf Israel in der
Öffentlichkeit verbreitet werden
dürfen und welche nicht. Es
bedeutet aber auch: „Wenn wir
aus Angst davor, als
antisemitisch etikettiert zu
werden, unsere Kritik begraben,
überlassen wir denen die Macht,
die den freien Ausdruck
politischer Überzeugungen
beschneiden wollen.“
Der
Antisemitismus-Vorwurf verfolgt
also vor allem die Absicht, die
politische Debatte mundtot zu
machen: „Die Drohung,
‚antisemitisch‘ genannt zu
werden, zielt darauf ab, auf der
Ebene des Subjekts zu
kontrollieren, was man laut
auszusprechen bereit ist, und
auf der Ebene der Gesellschaft
im ganzen einzugrenzen, was in
der Öffentlichkeit
zulässigerweise laut
ausgesprochen werden darf und
was nicht. Dramatischer ist,
dass diese Drohungen die
definierenden Grenzen der
Öffentlichkeit bestimmen, weil
sie die Grenzen des Sagbaren
festlegen (...) Der Ausschluss
solcher Kritik wird praktisch
die Grenzen des Öffentlichen
selbst verankern, und die
Öffentlichkeit wird sich selbst
als eine verstehen, die sich
angesichts unübersehbarer und
illegitimer Gewalt nicht offen
und kritisch ausspricht - es
denn natürlich, eine gewisse
Zivilcourage setzt sich durch.“
Judith Butler
weist auch immer wieder darauf
hin, dass Judentum und Zionismus
eben nicht dasselbe sind und
dass nicht alle Juden ihre
jüdische Identität mit Israel
verbinden. Angesichts der
„außergewöhnlichen Bandbreite
der Zerrissenheit“ bei diesem
Thema unter Juden fragt sie:
„Und was nun, wenn man die
Kritik am israelischen Staat im
Namen seines Judentums
vorbringt, im Namen der
Gerechtigkeit, und zwar gerade
weil eine derartige Kritik ‚für
Juden am besten‘ zu sein
scheint?“ Und sie folgert
daraus: „Aus Angst vor einer
möglichen Aneignung zu
schweigen, heißt gerade, die
Gleichsetzung von Zionismus und
Judentum intakt zu lassen,
während es eben die Trennung von
Zionismus und Judentum ist, die
die Bedingungen für kritisches
Denken in dieser Frage
garantiert. Den Mund zu halten
aus Angst, vor einer
antisemitischen Aneignung, die
man für gewiss hält, heißt sich
der Möglichkeit begeben, den
Antisemitismus mit anderen
Mitteln zu schlagen.“
Das ist eine
große Stimme der Vernunft und
der Humanität. Die Aussagen
Judith Butlers enthüllen das
Vorgehen des Zentralrates in
aufklärerischer Weise, obwohl
sie 2004 sicher noch nicht an
diese Konfrontation gedacht hat.
Aber die Methoden und das
Vorgehen der Verfechter einer
aggressiven Israel-Ideologie
sind ja nicht neu.
Judith Butler ist
eine sehr würdige Trägerin des
Adorno-Preises.