Der Streit um die historische Wahrheit
In Bremen formiert sich der
Widerstand gegen die Nakba-Ausstellung /
TAZ machte den Anfang
Arn Strohmeyer
Bremen feiert
sich gerade als Reaktion auf die PEGIDA-Proteste als
„weltoffene, liberale und tolerante Stadt“. Aber die
ersten Reaktionen auf die Ankündigung, dass am 18.
Februar in der Stadtbibliothek die Nakba-Ausstellung
eröffnet wird, lassen da doch berechtigte Zweifel an
dieser Aussage aufkommen. Nakba ist ein arabisches Wort
und bedeutet Katastrophe. Der Begriff steht heute für
die Vertreibung von 800 000 Palästinensern – die Hälfte
dieses Volkes! – in den Jahren 1947/48 durch jüdische
Truppen. Israelische Historiker haben die Vorgänge
dieser Zeit inzwischen gründlich erforscht, was nicht
zuletzt deswegen möglich war, weil Israel nach fast
sechzig Jahren wenigstens zum Teil die Archive mit den
authentischen Dokumenten für die wissenschaftliche
Arbeit freigegeben hat.
Zu nennen sind vor allem drei israelische
Historiker, die Licht in die Vorgänge der Jahre 1947/48
gebracht haben: Simcha Flapan, Benny Morris und Ilan
Pappe. Vor allem das inzwischen zum Standardwerk
gewordene Buch von Ilan Pappe „Die ethnische Säuberung
Palästinas“ gibt genau Auskunft über die Nakba – es
liegt auch in Deutsch vor. Pappes Resümee: Die ethnische
Säuberung wurde auf Anordnung der zionistischen Führung
durchgeführt. Direkt nach dem Beschluss der UNO im
November 1947, Palästina zu teilen, begannen noch
während des britischen Mandats und vor der
Gründung des Staates Israel die Angriffe auf die
Palästinenser. Sie wurden angeführt von dem späteren
Verteidigungs- und Außenminister Moshe Dayan und den
späteren Ministerpräsidenten Menachem Begin und Yitzhak
Rabin. Das Ergebnis des Vorgehens der zionistischen
Verbände: Elf Stadtviertel und 531 palästinensische
Dörfer wurden zwangsgeräumt, viele völlig zerstört. 800
000 Menschen mussten fliehen oder wurden vertrieben. Es
kam zu Plünderungen und Massakern. Letzten Endes hat die
Nakba die palästinensische Gesellschaft und ihre
Jahrhunderte alte Kultur zerstört, Ohne die Kenntnis
dieser Vorgänge kann man den Nahost-Konflikt gar nicht
verstehen.
Genau diese Beschreibung der Ereignisse
ist der Inhalt der Ausstellung, die nun ab 18. Februar
in der Bremer Stadtbibliothek gezeigt wird. Die
offizielle israelische Darstellung, die behauptet, dass
die Palästinenser „freiwillig“ ihre Heimat verlassen
hätten, um den viel später erst anrückenden arabischen
Armeen Platz zu machen, ist in Deutschland weit
verbreitet. Nun kommt die palästinensische Sicht in Form
dieser Ausstellung zu Wort – und das darf offenbar nicht
sein. Es verträgt sich nicht mit dem Selbstverständnis
vieler Deutscher, dass auf Israels Geschichte ein
Schatten fällt. Es erhebt sich deshalb jedes Mal ein
Sturm der Entrüstung von bestimmter Seite, wenn die
Nakba-Ausstellung in einer deutschen Stadt gezeigt wird.
Es sind immer dieselben Gruppen, die da protestieren und
das Zeigen der Ausstellung mit allen Mitteln verhindern
wollen: Die jüdischen Gemeinden, die Deutsch-Israelische
Gesellschaft und konservative und antideutsche Kreise,
die überall „Antisemitismus“ wittern, wenn Kritik an der
israelischen Politik oder der offiziellen
Geschichtsdarstellung dieses Staates geübt wird.
Das Paradoxe, das diese selbst ernannten
Israel-Versteher und -Verteidiger nicht zur Kenntnis
nehmen wollen: Die in der Ausstellung dargebotenen
Fakten sind so gut wie ausschließlich von israelischen
Historikern erarbeitet worden, der Katalog belegt das in
überzeugender Weise. Was natürlich den
Antisemitismus-Vorwurf, der auch immer schnell mit der
Ausstellung in Verbindung gebracht wird, ad absurdum
führt. Oder anders gesagt: Sind wir in Bremen schon so
weit, dass man nicht über die Arbeiten israelischer
Wissenschaftler diskutieren darf? Natürlich ist die
Nakba-Ausstellung einseitig, weil sie – erarbeitet von
israelischen Historikern – den Blick auf die
palästinensische Seite der Ereignisse lenkt, aber die
offizielle israelische Version war auch einseitig, aber
es hat nie jemand gegen sie protestiert. Die
Palästinenser haben genauso das Recht, zu Wort zu kommen
wie die Israelis. Erst aus der Gegenüberstellung beider
Narrative kann ein fruchtbarer Dialog entstehen.
So sehen es im Übrigen auch die beiden
israelischen Historiker Simcha Flapan und Ilan Pappe.
Sie weisen darauf hin, dass es einen guten Grunde gebe,
warum die Erkenntnis und die Verbreitung der
historischen Wahrheit gerade im Fall des Nahen Ostens so
notwendig sind: Weil mit den historischen Mythen und
Legenden der Frieden unmöglich ist. Der Israeli Simcha
Flapan begründet das so: „Es gilt, die
propagandistischen Denkstrukturen aufzulösen, die so
lange verhindert haben, dass in meinem Land die Kräfte
des Friedens an Boden gewinnen konnten. Die Aufgabe, die
den Intellektuellen und den Freunden beider Völker
[Israelis und Palästinensern] zufällt, besteht nicht
darin, Ad-hoc-Lösungen anzubieten, sondern die Ursachen
des Konflikts in das Licht einer aufklärenden Analyse zu
tauchen, in der Hoffnung, dass man es auf diese Weise
schafft, die Verzerrungen und Lügen, die mittlerweile zu
sakrosankten Mythen geronnen sind, aus der Welt zu
schaffen.“ Und: „Wenn die Klischees und falschen Mythen
ihren Platz im Denken der Jüngeren behaupten, ist die
Katastrophe unausweichlich.“
Sein Kollege Ilan Pappe stimmt Flapan zu
und schreibt: „Es ist unsere Pflicht, dieses Verbrechen
gegen die Menschlichkeit, das Israel leugnen und die
Welt vergessen machen wollte, aus der Vergessenheit zu
holen, und zwar nicht nur als längst überfällige
historiographische Rekonstruktion oder professionelle
Aufgabe. Meiner Ansicht nach ist es eine moralische
Entscheidung, der allererste Schritt, den wir tun
müssen, wenn wir wollen, dass Versöhnung jemals eine
Chance haben und Frieden in den zerrissenen Ländern
Palästina und Israel Fuß fassen sollen.“
In der so „weltoffenen und toleranten
Stadt“ Bremen sehen bestimmte Leute das ganz anders,
denn dort braut sich offenbar gerade ein Proteststurm
gegen die Ausstellung zusammen – wohl mit der Absicht,
sie in letzter Sekunde noch zu verbieten. Den Anfang
machte am Dienstag gleich die TAZ mit einem langen
tendenziösen Artikel des Autors Jan-Paul Koopmann, der
offenbar die Exponate noch gar nicht gesehen hat. Und
vom Nahost-Konflikt fehlt ihm auch jede Kenntnis. So
schreibt er: Zahlreiche(!) Palästinenser seien gezwungen
gewesen, wegen kriegerischer Auseinandersetzungen und
systematischen Landkaufs in die Nachbarländer zu
fliehen. Das ist eine sehr beschönigende Darstellung,
denn die Palästinenser – das ist lange bekannt und das
belegt auch die Ausstellung – wurden vertrieben und ihr
Land wurde ihnen geraubt. Die UNO hatte dem Staat Israel
56 Prozent des Landes zugeteilt, am Ende des Krieges
1949 besaß es aber 72 Prozent!
Dann schreibt der TAZ-Autor, die
Ausstellung sei umstritten, weil sie so viele Fakten
unterschlage. Etwa die Tatsache, dass Juden nach der
israelischen Staatsgründung aus arabischen Staaten
vertrieben worden seien. Der TAZ-Schreiber sollte die
Bücher der beiden jüdischen Historiker Tom Segev und
John Bunzl lesen, die zu diesem Thema übereinstimmend
schreiben, dass Israel diese Menschen unter Aufwendung
von viel Geld und dem Einsatz von Mossad-Agenten aus
diesen Ländern geholt hätte, weil der junge Staat im
Krieg 1948/49 viel Land erobert hatte, ihm aber die
Menschen (Bauern und Soldaten) fehlten, um diesen Boden
auch bebauen und verteidigen zu können.
Der Auszug der Juden aus den moselmischen
Staaten wird in der Ausstellung auch gar nicht
unterschlagen, er ist auf Tafel neun beschrieben. Wenn
der Autor behauptet, auch palästinensische Milizen
hätten Morde begangen, ist das unbestritten (nur wer war
der Angreifer und wer der Verteidiger?), diese Fakten
sind auf der Tafel vier dargestellt. Auch dass
palästinensische Flüchtlinge in den arabischen
Nachbarländern politisch instrumentalisiert wurden,
verschweigt die Ausstellung nicht – siehe Tafel zehn und
elf.
Die Ausstellung ist noch gar nicht in
Bremen angekommen und schon beginnt also die
Geschichtsklitterung. Man möchte von der gegnerischen
Seite eine klare Widerlegung der von Flapan, Morris und
Pappe vorgebrachten Fakten hören und keine wütende „Antisemitismus“-Polemik
– aber Fehlanzeige. Es geht nur darum, eine Diskussion
über die Exponate möglichst überhaupt zu verhindern. Die
Bremer Nahost- und Friedensgruppen, die die Ausstellung
in die Stadt geholt haben, haben gute Argumente auf
ihrer Seite. Denn Israel und die jüdische Seite kommen
in den Tagen der Ausstellung im Rahmenprogramm reichlich
zu Wort. Zur Eröffnung am 18. Februar spricht neben der
palästinensischen Botschafterin auch der
deutsch-jüdische Psychologe, Professor Rolf Verleger aus
Lübeck. Am 1. März kommt der israelische Historiker Ilan
Pappe zu einem Vortrag nach Bremen. Bei der
Podiumsdiskussion am 4. März wird auf der Seite der
Ausstellungsbefürworter die israelische Historikerin
Tamar Amar-Dahl mit diskutieren. Und am 17. März wird
der israelische Anthropologe und Friedensaktivist Jeff
Halper aus Jerusalem in Bremen sprechen. Ein
einseitiges, „antisemitisches“ Programm? Es ist wohl
eher so, dass die Gegner der Ausstellung ein sehr
einseitige Israel-Bild haben, in dem das kritische und
zum Frieden bereite Israel gar nicht vorkommt.
Angesichts des zu erwartenden Sturms, der
sich gegen die Nakba-Ausstellung offenbar zusammenbraut,
ergeben sich Fragen, die die Mitglieder der Bremer
Nahost- und Friedensgruppen gern beantwortet hätten: Wer
versucht aus welchen Motiven heraus und mit welchem
Demokratieverständnis eine sachliche Debatte über die in
der Ausstellung angesprochenen historischen und
aktuellen Fakten zu verhindern? Wer blockiert seit
Jahren unsere Veranstaltungen, bei denen wir viele
Israelis zu Gast hatten? Wer verunglimpft Referenten
jüdischen und christlichen Glaubens als „Antisemiten“
oder „selbsthassende Juden“? Warum isoliert sich das
offizielle Israel in der Welt immer mehr? Wer predigt
auf Festtagsreden Toleranz, Integration usw. und
praktiziert im politischen Alltag das genaue Gegenteil?
Warum wird in Teilen der israelischen Presse und
Wissenschaft die israelische Politik viel schärfer
kritisiert als in Deutschland? Wer ruft im Netz auf,
Veranstaltungen zu stören, und kübelt Schmutz über
Personen aus, die sachlich Kritik an der
Siedlungspolitik, täglicher Unterdrückung eines ganzen
Volkes und an Schikanen, Zerstörungen von Häusern und
Plantagen, willkürlichen Verhaftungen und Landraub
kritisieren? Alles Tatbestände, die völkerrechtswidrig
sind und auch gegen die Menschenrechte verstoßen?
Wir wünschen uns eine über diese Dinge
eine sachliche Auseinandersetzung mit offenem Visier.