Deutschland, Israel und der
Antisemitismus:
Eine Diskussion in Absurdistan – Israelis mahnen
Realitätsbewusstsein an
Arn Strohmeyer
Bundesregierung und die Regierungsparteien haben zum 70.
Geburtstag Israels eine Resolution verabschiedet, die die
üblichen Formeln abspult: Lob für die Aufbauarbeit des Staates
und seine Demokratie, Erinnerung an den Holocaust,
Schuldbekenntnis und die Beschwörung der deutschen Verantwortung
für die Existenz und Sicherheit Israels. Kritik an der
Landraubpolitik, der rechtwidrigen Besatzung und der
Unterdrückung von Millionen Palästinensern kommen in dem Text
nicht vor. Und natürlich ist in solchen Texten – ob direkt oder
indirekt ausgesprochen – immer die rituelle Formel vermerkt,
dass Kritik an der israelischen Politik „israelbezogener
Antisemitismus“ sei. Erstarrte Dogmen also, die seit Jahrzehnten
heruntergeleiert werden und kaum einen Bezug zur Realität haben.
Wie absurd die offizielle deutsche Position ist, die auch von
den Freunden und Anhängern Israels geteilt und mitgetragen wird,
bestätigen inzwischen auch israelische Juden. Da meldete sich
jetzt der junge Israeli Yossi Bartal mit Artikeln und in
Interviews zu Wort, der im angeblich so „antisemitischen“
Stadtteil Berlin Neukölln lebt, und trifft ein paar
Feststellungen, die so gar nicht zu den von Politik und Medien
verbreiteten Klagen über zunehmenden Antisemitismus passen.
Yossi Bartal konstatiert: Es mag einzelne unschöne Vorfälle
gegeben haben, aber im Großen und Ganzen lebe man – Israelis,
Palästinenser, Syrer und andere Immigranten – in Neukölln recht
friedlich zusammen. Und gerade Israelis liebten diesen Stadtteil
wegen seiner ethnischen Vielfalt sehr und würden nie in einen
„eher homogenen Bezirk der Stadt“ ziehen. Natürlich gebe es auch
Antisemitismus, aber die meisten in Neukölln lebenden Israelis
würden bestreiten, dass der Antisemitismus ihr Leben hier
bestimme oder sie in Angst versetze. Die wohlgemeinten Warnungen
vor der Bedrohung jüdischen Lebens sähen sehr viele Israelis
nicht nur als überdramatisierte Darstellung an, sondern auch als
Verneinung oder Ablehnung ihres Aufenthaltsrechts in Berlin.
Denn die Botschaft laute dann: „In der Diaspora habt ihr kein
Existenzrecht. Nur in Israel seid ihr sicher! Da gehört ihr
hin!“
Ganz entschieden wehrt sich Yossi Bartal gegen Bestrebungen,
Kritik an der israelischen Politik mit Antisemitismus
gleichzusetzen. Denn sehr viele Israelis seien gerade aus
Protest gegen diese Politik nach Berlin gezogen und nun müssten
sie sich von den selbsternannten Beschützern Israels hier
anhören, „Antisemiten“ zu sein.
Zwei prominente Israelis setzten zur selben Zeit der absurden
deutschen Debatte noch eins drauf: der frühere israelische
Botschafter in Deutschland Shimon Stein und der renommierte
israelische Historiker Moshe Zimmermann. In einem Artikel für
DIE ZEIT bezeichnen sie – mit Blick auf die Bundestagsresolution
– das deutsche Ritual, sich auch in Fragen der Außenpolitik
ständig auf den Holocaust zu beziehen, als immer wieder
„problematisch“. Und sie fragen: „Was hat die Beziehung zu
Israel mit dem (auch im Bundestagsbeschluss behandelten)
Antisemitismus zu tun? Sie konstatieren: „Die neue Kategorie ‚israelbezogener
Antisemitismus‘ sorgt für Verwirrung, weil quasi automatisch
jede Diskussion um die Politik Israels mit Antisemitismus
verzahnt wird.“ Und wieder stellen sie die Frage: „Was hat das
eine mit dem anderen zu tun?“
Stein und Zimmermann mahnen, deutsche Verantwortung gegenüber
Israel dürfe nicht nur kritiklos und lobhudelnd hinter der
israelischen Politik stehen, sondern müsse auch auf die Gefahren
und die Gefährdung hinweisen, denen die israelische Demokratie
durch die fundamentalistische Politik der derzeit dort
Regierenden ausgesetzt sei. Zur deutschen Verantwortung
gegenüber Israel gehöre es so gesehen, die „europäischen Werte“
Liberalismus und Toleranz von Israels Politikern einzufordern,
denn die eigentliche und wesentliche Frage betreffe heute die
Existenz der Demokratie in Israel. Aus dieser massiven Kritik an
der deutschen Israel-Politik folgt für die beiden Autoren eine
weitere Forderung an die deutsche Seite: Sie soll nicht nur mit
kleinlauten Lippenbekenntnissen die Siedlungspolitik
kritisieren, sondern entschlossen und mutig gegen sie vorgehen.
Denn die Palästinenser hätten genauso, ein Recht auf nationale
Selbstbestimmung und damit auf ihren Staat, dessen Schaffung
nicht zuletzt deshalb so wichtig sei, weil Israel nur so vor der
Selbstzerstörung bewahrt werden könne.
Dieser Text der beiden Israelis und auch die Aussagen von Yossi
Bartal enthalten gleich ein ganzes Bündel von Ohrfeigen für die
deutsche Israel-Politik und die Antisemitismus-Diskussion in
diesem Land. Stein und Zimmermann fordern nicht mehr und nicht
weniger als einen radikalen Kurswechsel. Aber die
Bundestagsresolution der Regierungsparteien und Äußerungen des
neuen Außenministers Heiko Maas machen keinerlei Hoffnung, dass
sich etwas ändern könnte. Schuldbekenntnis und
Geschichtsklitterung werden weiterhin den Blick auf die Realität
trüben und den Deutschen ein ideales Bild des Staates Israel
vortäuschen. 11.05.2018
Antisemitismus-Debatte - Der Mythos vom No-go-Neukölln -
Yossi Bartal (...) Israelis wohnen Tür an Tür mit
palästinensischen und türkischen Familien, lernen in
Sprachschulen gemeinsam mit Syrern, engagieren sich bei der
Flüchtlingshilfe, tanzen bei Partys zu orientalischen Beats
gemeinsam mit anderen Menschen aus dem Nahen Osten.
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Mehr Kritik wagen - Über Israels Existenzrecht hinaus: Der
deutschen Außenpolitik muss es um die Demokratie des Landes
unter Netanjahu gehen. - Gastbeitrag von Shimon Stein
und Moshe Zimmermann
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