„Lügenpresse“ oder
kritikloser Philosemitismus?
Die deutschen Medien und
Israel – ein besonderes Problem
Arn Strohmeyer
Da ist neuerdings viel von
der „Lügenpresse“ in Deutschland die Rede, erst im
Zusammenhang mit der Ukraine, dann mit Syrien und den
Flüchtlingen. Aber merk- und denkwürdiger Weise ist
bisher die deutsche Berichterstattung über den Konflikt
Israels mit den Palästinensern (und die Rolle
Deutschlands dabei) in diesem Zusammenhang noch nicht in
den Fokus der öffentlichen Diskussion geraten. Denn hier
gibt es am allermeisten zu kritisieren. Nun weiß man
aber, aus welcher politischen Ecke der Vorwurf der
„Lügenpresse“ kommt, insofern sollte man diesen Begriff
nicht benutzen, da er den politischen Zielen der
rechtsextremen Pegida und AfD Vorschub leistet:
Ressentiments und Hass gegen alles Fremde zu erzeugen,
besonders gegen Flüchtlinge. Da ist zum Teil längst
überwunden geglaubtes übelstes völkisches und
rassistisches Denken im Umlauf.
Aber auch wenn man den
Begriff „Lügenpresse“ nicht benutzt, ist die deutsche
Berichterstattung über Israel und den Nahen Osten mehr
als kritikwürdig. Allerdings sollte man hier auch nicht
pauschalisieren und alles über einen Kamm scheren. Es
gibt Unterschiede und auch rühmliche Ausnahmen. Die
Bandbreite etwa zwischen der Springer-Presse, deren
Journalisten ihre Loyalität zu Israel in ihrem
Arbeitsvertrag unterschreiben müssen, und einigen
liberalen und linken Blättern ist doch groß. Und auch in
einigen Beiträgen der Fernseh- und Rundfunkanstalten hat
man schon vorsichtige Kritik an der israelischen Politik
sehen oder hören können, zumeist aber leider im
Spätprogramm oder in den nur von Minderheiten gesehenen
Sendern. Dennoch gilt so gut wie allgemein: Die
deutschen Medien verhalten sich Israel gegenüber zumeist
sehr opportunistisch. Es fehlt bisher aber eine
gründliche empirische Untersuchung zu diesem Thema, die
auf realistischen und nicht rein ideologisch-politisch
instrumentalisierten Ausgangsbegriffen – etwas zur
Frage: was ist Antisemitismus? – beruhen müsste.
Wenn man den deutschen
Medien also eine opportunistisch-unkritische Haltung zu
Israel und seiner Politik bescheinigen kann, so hat das
seinen Grund: Die deutsche Politik gegenüber diesem
Staat und so auch die Einstellung der meisten Medien
sind auf Grund der deutschen Geschichte philosemitisch.
Das klingt auf den ersten Blick positiv, auf den zweiten
aber nicht mehr, denn dieser Philosemitismus ist aus
mehreren Gründen problematisch. Denn Moral ist
unteilbar. Wenn sie das nicht mehr ist, degeneriert sie
zur Schein- und Doppelmoral. Wenn die Verantwortung, die
notwendigerweise aus den deutschen Verbrechen folgt,
sich nur auf Juden und Israel bezieht, also nicht auch
universalistisch auf alle Menschen – also auch auf die
Palästinenser, dann wird sie fragwürdig. „Moral“,
schreibt der deutsche Soziologe Walter Hollstein,
„verwandelt sich in Scheinmoral, wenn Praktiken der
Gewaltanwendung, Vertreibung und Folter den Israelis
zugestanden werden, um sich dergestalt von der eigenen
schrecklichen Schuld der Vergangenheit Erlösung
freikaufen zu können.“
Was die Philosemiten nicht
sehen oder nicht sehen wollen, ist wie eng
Antisemitismus und Philosemitismus zusammen hängen. Der
Philosemitismus lässt sich immer aus dem Antisemitismus
erklären und ableiten, weil der Philosemitismus seinen
Nährboden, aus dem er stammt, immer im Antisemitismus
hat. Oder anders gesagt: Im Philosemitismus steckt immer
ein nicht überwundener oder verdrängter Antisemitismus.
Zwischen beiden besteht eine dialektische Beziehung.
Eine klassische Definition dieses Verhältnisses hat der
Literaturwissenschaftler Carsten Peter Thiede geliefert:
„Der Philosemitismus erweist sich lediglich als eine
andere Art des Antisemitismus, da er einerseits die
antisemitischen Positionen erst zu bestätigen hat, ehe
er sie negieren kann, andererseits aber auch ein
Idealbild vom Juden entwirft, das dieser letztlich nicht
erfüllen kann und deshalb einem antisemitischen
Rückschlag Vorschub leisten muss. Zudem arbeitet der
Philosemitismus genau wie der Antisemitismus mit dem
Mittel der Stereotypisierung. Statt der Auflösung ergibt
sich lediglich eine spiegelbildliche Verkehrung.“
Es ist der deutsch-jüdische
Philosoph Ernst Tugendhat, der immer wieder darauf
hingewiesen hat, wie eng Antisemitismus und
Philosemitismus zusammenhängen und wie sehr der
Philosemitismus das Verhältnis zu Juden verfälscht. Er
schreibt: „Wenn man es verbietet, bestimmte Menschen
oder eine Nation kritisieren zu dürfen, gewinnt man ein
unfreies Verhältnis zu ihnen, man wickelt sie
gewissermaßen in Watte. In Wirklichkeit lässt sich
Kritik von Antisemitismus klar unterscheiden. Antisemit
ist, wer Juden schon als solche, einfach weil sie Juden
sind, für schlecht hält. Wer hingegen Juden, nur weil
sie Juden sind, für gut, für nicht kritisierbar erklärt,
ist, was man als einen Philosemiten bezeichnen kann. Es
ist leicht zu sehen, dass der Philosemitismus in der
Befürchtung gründet, als Antisemit zu erscheinen und
also im Antisemitismus seinen Grund hat. Man kann sich
vom Antisemitismus nicht befreien, indem man Juden nicht
für kritisierbar hält, sondern nur, indem man sich zu
ihnen wie zu normalen Menschen verhält, die wie alle
Menschen je nach den Umständen, in dem, was sie tun,
kritisiert und gelobt werden können.“
Tugendhat hat sich auch
eingehend mit dem Problem der deutschen Schuld gegenüber
den Juden und dessen Auswirkung auf das
deutsch-israelische Verhältnis beschäftigt und geht
deshalb in seiner Kritik am Philosemitismus noch weiter.
Er stellt fest: „Wird Schuld nicht bewusst
aufgearbeitet, dann kann man mit ihr nicht rational und
kontrolliert umgehen. Was aber zur Folge hat, dass man
sich seinem Gegenüber so verhält, dass man alles tut,
was er glaubt, was man zu tun hätte. Man gibt also die
Autonomie des eigenen Urteilens preis, und das Gegenüber
hat so die Chance, die Schuld zu manipulieren.“
Tugendhat schreibt weiter: „Es gibt Menschen und auch
Staaten, die auf dem irrationalen Schuldgefühl eines
anderen virtuos wie auf einem Klavier spielen können. So
tun es auch die Israelis mit den Deutschen.“ Man kann
dieser Schuld nur entgehen, wenn diese Schuld rational
aufgearbeitet wird. Dann besteht nicht mehr die
Notwendigkeit, sich den – u.U. auch irrationalen –
Wünschen des anderen zu unterwerfen. Der Handelnde
behält dann sein autonomes Urteilsvermögen. Die Frage
lautet dann: Wie kann ich dem anderen helfen? Wo liegen
seine Interessen? Tugendhat hat her sehr gut
beschrieben, was mit Opportunismus im Verhalten
gegenüber Israel gemeint ist.
Diese Zusammenhänge scheinen
vielen deutschen Journalisten wie auch den
verantwortlichen Verlegern und Intendanten nicht bewusst
zu sein. Dieses Nicht-Wissen beziehungsweise
Nicht-Wissen-Wollen sowie die Angst, in den Verdacht des
„Antisemitismus“ zu geraten, hält sie von einer der
Realität angemessenen Wahrnehmung der Vorgänge in
Israel/Palästina und einer entsprechenden
Berichterstattung ab. Wann etwa hätte man in deutschen
Medien (Zeitungen, Rundfunk, Fernsehen) eine
realistische Darstellung der Praktiken der israelischen
Besatzungspolitik gelesen, gehört oder gesehen? Also:
Barrikaden und Checkpoints der Armee, Einsätze von
Kampfhubschraubern und Düsenjägern gegen Zivilisten,
gezielte Ermordungen und militärische Übergriffe wie
nächtliche Razzien der Soldaten in palästinensischen
Häusern, ständige Verhaftungen von Palästinensern (auch
von Kindern), die Praxis der unbefristeten
Administrationshaft, die verheerenden Zustände für
Palästinenser (zur Zeit 7 000) in israelischen
Gefängnissen einschließlich Folter sowie die Zerstörung
von inzwischen 60 000 palästinensischen Häusern – ganz
zu schweigen vom ständigen Raub palästinensischen Landes
für den Bau weiterer Siedlungen.
Welcher deutsche Journalist
traut sich angesichts solcher Fakten einmal öffentlich
zu fragen: Ist es nicht vollkommen unehrlich so zu tun,
als wäre Israels Besetzung nicht selbst ein brutaler
Gewaltakt gegen drei Millionen Zivilisten? Im übrigen
kann man nicht nur durch eine dieser Realität nicht
angemessene Berichterstattung und Kommentierung ein
völlig falsches Bild von der israelischen Politik
erzeugen, sondern auch durch Weglassen und
Nicht-Berichten. Also: Nichts hören, nichts sehen und
deshalb auch nichts sagen! Schweigen eben. Die
wichtigste Regel, die für die deutsche Berichterstattung
über den Konflikt Israels mit den Palästinensern in den
Medien gilt, ist: Die Begriffe Judentum, Zionismus und
Israel werden grundsätzlich gleichgesetzt, es wird also
in der Umkehrung nicht zwischen Antisemitismus,
Antizionismus und Kritik an der israelischen Politik
unterschieden, was ganz automatisch zu falschen
Schlussfolgerungen führen muss.
Ansonsten übernehmen die
meisten deutschen Medien unhinterfragt die Grundregeln
und Maximen israelischer Politik, die der israelische
Anthropologe und Friedensaktivist Jeff Halper einmal so
formuliert hat: Israel ist das Opfer des Hasses von
Seiten der friedensunwilligen Araber und kämpft um seine
Existenz. Der Kern des Konflikts ist der
palästinensische Terrorismus. Als friedensliebende
Demokratie und Opfer von Aggressionen trägt Israel keine
Verantwortung für Entstehung und Andauern des Konflikts.
Da die Bedrohung von Israels Existenz existentiell ist
und Israels Politik ausschließlich der Sorge um seine
Sicherheit gehorcht, ist es jeder Verantwortlichkeit für
seine Handlungen gemäß den Konventionen von Menschen-
und Völkerrecht oder UNO-Resolutionen enthoben. Es gibt
keine Besatzung. Da eine politische Lösung nicht möglich
ist, muss bei jeder zukünftigen Regelung die Kontrolle
über das ganze Land, einschließlich der Palästinenser,
Israel vorbehalten bleiben. Sollte es zu Bildung eines
palästinensischen Staates kommen, darf er nicht
lebensfähig und nur semi-souverän sein.
Da hier grundsätzlich Täter
und Opfer vertauscht werden, führt das im deutschen
Journalismus dann oft zu einer ganz eigenen, an George
Orwells „1984“ erinnernden Sprache, die man von den
Israelis übernommen hat und die kritiklos benutzt wird.
Diese Sprachregelungen hat Rainer Rupp kürzlich sehr gut
beschrieben: In Ergänzung zu Halper besagen sie kurz
zusammengefasst: Die Israelis sind immer die Guten, die
sich nur „verteidigen“, wohingegen die Araber
(Palästinenser) stets die Bösen und die Aggressoren
sind, die offenbar kein Recht haben, Widerstand zu
leisten oder sich zu verteidigen. Wenn Palästinenser
oder Libanesen israelische Besatzer töten, ist das
„Terrorismus“, wenn israelische Soldaten
palästinensische oder libanesische Zivilisten töten, ist
es „legale Selbst-Verteidigung“. Den Begriffen Hamas und
Hisbollah muss grundsätzlich die Bezeichnung
„radikal-islamische Terrororganisation“ hinzugefügt
werden, die von Iran und Syrien unterstützt werden. Bei
der Berichterstattung über Israel dürfen die „besetzten
Gebiete, nicht eingehaltene UNO-Resolutionen,
Menschenrechtsverletzungen, Genfer Konvention, Apartheid
oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ nicht
verwendet werden. In jedem Beitrag muss das
„Existenzrecht Israels“ erwähnt werden (im Völkerrecht
gibt es diesen Begriff allerdings überhaupt nicht), aber
niemals darf man von einem „Existenzrecht der
Palästinenser“ sprechen. Außerdem muss Israel immer als
die „einzige Demokratie im Nahen Osten“ beschrieben
werden, wohingegen es sich bei den arabischen Staaten
grundsätzlich um „rückständige arabische Diktaturen“
handelt.
Eine solche
Berichterstattung und Kommentierung wird dem Konflikt
Israels mit den Palästinensern in keiner Weise gerecht,
ja sie übernimmt – vielleicht unbewusst – oft sogar den
israelischen Rassismus gegenüber den Arabern. Beispiel:
Jedem Anschlag eines Palästinensers auf einen Israeli
wird breiter Raum eingeräumt, ist zumindest eine Meldung
wert. Töten Israelis Palästinenser, wird das in den
seltensten Fällen erwähnt. Eine solche Berichterstattung
entspricht der völlig einseitig auf Israel
ausgerichteten deutschen Politik. Dass diese aber eine
große Mitschuld an der Notlage der Palästinenser und am
Nicht-Zustandekommen einer gerechten Friedenslösung hat,
steht außer Zweifel.
Weitsichtige und
universalistisch denkende Juden blicken da sehr viel
weiter. So schrieb der frühere Direktor des American
Jewish Congress und heutige Präsident des US-Middle East
Project Henry Siegman einmal: „Wenn westliche Länder vor
dem Hintergrund ihrer Schuld am Holocaust glauben, ihre
Hinnahme eines solchen Ergebnisses [dass die
Palästinenser angeblich schuld am Nicht-Zustandekommen
eines Friedensabkommens sind und so ihre weitere
Vertreibung berechtigt ist] sei ein Akt der Freundschaft
mit dem jüdischen Volk, so könnte es keinen größeren
Irrtum geben. Die Palästinenser aufzugeben, kann keine
Sühne dafür sein, die Juden Europas aufgegeben zu haben.
Und es würde auch nicht der Sicherheit Israels dienen.
Die Erwartung, unkritische Unterstützung werde zu einer
größeren Bereitschaft Israels führen, für den Frieden
Risiken auf sich zu nehmen, steht im Widerspruch zur
Geschichte dieses Konflikts. Diese hat vielmehr gezeigt:
Je kleiner der Widerspruch ist, den Israel von seinen
Freunden im Westen erhält, desto kompromissloser wird
sein Verhalten gegenüber den Palästinensern.“
Wann wird ein deutscher
Journalist den Mut haben, ähnliche Sätze zu schreiben?