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Generalangriff auf die Mythen des Zionismus
Der israelische Historiker Shlomo Sand: Die
Juden hatten nie den Wunsch, ins Heilige Land zurückzukehren
Arn Strohmeyer
Die Sehnsucht nach Zion ist eines der
Fundamente der zionistischen Ideologie. Aus dem Verlangen,
in die „alte Heimat“ zurückzukehren, aus der die Juden 70 n.
Chr. nach dem Aufstand gegen die Römer und der Zerstörung
des zweiten Tempels vertrieben worden sein sollen, leiten
die Zionisten u.a. ihren „historischen Anspruch“ auf „Erez
Israel“ (Groß-Israel) ab. Auf diesem „Territorium der Väter“
wollten sie von Anfang an ihren souveränen jüdischen Staat
errichten, obwohl auf ihm seit mehr als tausend Jahren eine
Bevölkerung lebte, die in ihrer absoluten Mehrheit arabisch
war.
Der israelische Historiker Shlomo Sand, der
schon in seinem Buch „Die Erfindung des jüdischen Volkes“
die Grundfesten des Zionismus erschüttert hatte, setzt
dieses ideologiekritische Anliegen in seinem neuen Buch „Die
Erfindung des Landes Israel“ fort. In seinem ersten Buch
hatte Sand folgende Feststellungen getroffen: 1. Ein
jüdisches Volk hat es nie gegeben, denn ein Volk definiert
sich durch die alle ihre Mitglieder einenden
kulturell-säkularen Inhalte, weshalb man ihm durch Aneignung
einer Sprache oder einer Alltagskultur auch beitreten kann.
Dem „jüdischen Volk“ kann man aber nur durch Konversion
beitreten, weil es eine von der Religion bestimmte
Gemeinschaft ist. Wenn es ein jüdische Volk gäbe, müsste man
auch von einem „buddhistischen“ oder „evangelischen“ Volk
sprechen können. 2. Eine Vertreibung der Juden aus ihrer
„Heimat“ durch die Römer hat es nie gegeben, weil eine
solchen Praxis bei diesen völlig unüblich war. Die Römer
brauchten vielmehr die Bevölkerung der von ihnen
unterworfenen Gebiete, um Steuern aus ihr herauszupressen.
Es gibt auch keinerlei historische Belege für eine
Vertreibung. 3. Die These, dass die Juden aus einem einzigen
geographischen Gebiet stammten (eben Erez Israel), ist
falsch. Denn das Judentum war vom 2. Jahrhundert v.u.Z. bis
zum 8. nachchristlischen Jahrhundert eine dynamisch
missionierende Religion. Im afrikanischen und asiatischen
Raum existierten zahlreiche zum Judentum übergetretene
Königreiche. Es gibt also keine „Urheimat“, aus der alle
Juden stammen, kein „Land der Väter“.
Die Sehnsucht nach Zion als konkretem
geographischem Raum, der sich aus der Bibel herleitet,
entlarvt Sand nun als reinen von den Zionisten erfundenen
Mythos, der allein dem Zweck diene, die Inbesitznahme des
Territoriums moralisch zu legitimieren. Der Zionismus
bediene sich dabei etlicher Elemente des jüdischen Glaubens,
um seinen Anspruch auf das Land zu rechtfertigen. Er
schreibt: „Denn die Revolte des jüdischen Nationalismus
gegen den jüdischen Glauben ging von Anfang an mit einem
Prozess der Instrumentalisierung einher, der die Begriffe,
Werte, Symbole, Feste und Riten eben dieses Glaubens immer
stärker in Beschlag nahm. Der säkulare Zionismus war bereits
in der frühesten Phase seines Siedlungswerkes auf religiöse
Gewänder angewiesen – sei es in dem Bestreben, die Grenzen
der ‚Ethnie‘ zu bewahren und zu stärken, sei es, um die
Grenzen des ‚Landes der Väter‘ zu lokalisieren.“
Sand belegt mit einer großen Fülle von
Quellen und Zitaten, dass das „Erez Israel“ zionistischer
und israelischer Autoren nichts mit der Vorstellung vom
Heiligen Land der Juden in aller Welt zu tun hat. Sie hegten
zwar gegenüber diesem Glauben Gefühle tiefer Ehrfurcht und
Trauer, aber ihre Sehnsucht war rein religiöser Art. Das
Heilige Land war für sie ein „allegorischer, weniger ein
konkreter Begriff, ein innerlicher spiritueller Zustand und
nicht ein konkreter territorialer Schauplatz.“ Und dieser
Glauben besagte: erst wenn der Messias einst zurückkommt,
würden sich die Lebenden und die Toten zur kollektiven
Erlösung in Jerusalem versammeln – eine künstliche säkulare
Beschleunigung dieses Vorgangs hätte dagegen unter der
göttlichen Strafe gestanden.
Der Begriff „Erez Israel“ war niemals
deckungsgleich mit einem Staat Israel – weder in der
Vergangenheit noch in der Gegenwart. In der Bibel war „Erez
Israel“ nicht mit Jerusalem, Hebron, Bethlehem und deren
Umgebung identisch, sondern allein mit Samaria und einigen
umliegenden Landstrichen, soll heißen: dem Nordreich Israel.
Sand stellt fest: „In keinem Text oder einem anderen
archäologischen Fundstück findet sich die Bezeichnung ‚Land
Israel‘ für einen allgemein bekannten geographischen Raum,
zu keinen Zeit war das Territorium zwischen Meer und dem
Jordan unter dem Markennamen ‚Land Israel‘ bekannt.“
Die Behauptung der Zionisten, dass das Land
Israel schon in alten Texten ein klar umgrenztes,
beständiges und allgemein akzeptiertes Territorium war, ist
also ein Mythos. Sand kann belegen, dass der Begriff zuerst
in christlichen und rabbinischen Schriften in rein
theologischem und nicht politischem Zusammenhang auftaucht.
Erst die Zionisten funktionierten das theologische ‚Land
Israel‘ zu einem politischen Begriff um. Die Absicht dabei
war: 1. den Anspruch auf das Land zu rechtfertigen und 2.
mit diesem ideologischen Trick die lange nicht-jüdische Zeit
in der Geschichte des Landes zu überbrücken. Damit wollte
man die arabische Urbevölkerung des Landes als
vorübergehende und temporäre Bewohner betrachten, die kein
Anrecht auf das Land hätten, weil der Begriff „Erez Israel“
einen Anspruch auf Besitz des Bodens für sie nicht
einschließt.
Eine konkrete Sehnsucht nach dem Heiligen
Land und der Heiligen Stadt konnte es auch deshalb nicht
geben, weil das Judentum zum großen Teil aus Konvertiten in
fernen Ländern bestand, die gar nicht aus dem Heiligen Land
stammten und deshalb auch gar keine Beziehung zu diesem
„Vaterland“ hatten. Sand schreibt: „Das Verhältnis wurde im
Laufe der Jahrhunderte immer mehr ein fernes und
symbolisches, das nicht länger von einem konkreten
Bezugspunkt abhing. Die Notwendigkeit eines heiligen Ortes,
an dem eine vollkommene kosmische Ordnung herrscht, verwies
niemals auf den menschlichen Wunsch, an diesem Ort auch
tatsächlich zu leben oder ihm auch nahe zu sein. Im Fall des
Judentums ist das Spannungsverhältnis zu jenem heiligen Ort
sogar noch größer. Da die ‚Exilexistenz‘ ein Zustand ist,
aus dem sich ein Jude nicht selbst befreien kann, ist jeder
Gedanke, diesem Ort zuzustreben, von vornherein obsolet.“
Den Juden in der Diaspora ging es vielmehr
darum, ihre Identität auf die „Selbstwahrnehmung als
auserwähltes Volk“ auszurichten. Deshalb wurde ihre
spirituelle Sehnsucht nach dem Land um so größer je weniger
sie realisierbar wurde. Sand: „Das Judentum weigerte sich
schlicht, an irgendein Stück Land gebunden zu sein. Bei
aller Verehrung für das Heilige Land lehnte der jüdische
Glaube jede Versklavung durch dieses ab.“ Sand belegt diesen
Tatbestand durch die gesamte Geschichte des Judentums
hindurch, um dann zu der Feststellung zu gelangen: dass die
von den Zionisten behauptete Sehnsucht der Juden zur
Heimkehr in „ihr Land“, die sogar in der
Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel angeführt wird,
ein reiner Mythos ist. Den dringenden Wunsch, nach Zion
überzusiedeln, hat es nie gegeben. Er war immer rein
metaphysischer Natur – eine Sehnsucht nach Erlösung, die
zwar mit diesem Ort verbunden war, der aber nichts mit dem
Verlangen zu tun hatte, in dieses Land zu emigrieren und
sich dort niederzulassen. Der Spruch „nächstes Jahr in
Jerusalem“ war so gesehen ein Gebet um „baldige Erlösung“,
aber nicht ein Appell zum Handeln.
Wenn die Zionisten nun im Gegensatz dazu
behaupten, die gesamte jüdische Geschichte habe über all die
Jahrhunderte diesem einen Höhepunkt zugestrebt, dem
Erscheinen der zionistischen Idee und ihrer Bewegung und
damit auch der Wieder-in-Besitznahme des Landes, dann
mussten sie sich auch Gedanken über den territorialen
Charakter ihres Projekts machen. Dazu musste man eine höchst
wirkungsvolle kollektive Erinnerung schaffen, die ihre
Vorstellung von den Grenzen des neuen zionistischen Staates
präzisierte. Da die Bibel aber sehr unterschiedliche und
vage Auskunft darüber gab, obsiegte – natürlich dennoch
unter Berufung auf die heiligen Schriften – der Wille, das
ganze Land in den eigenen Besitz zu bringen. Auch kleine
Zwischenlösungen wurden akzeptiert, weil man das Hauptziel,
ein Groß-Israel zu schaffen, nie aus den Augen verlor. Alle
Rechtfertigungen dafür – Berufung auf die Bibel, ein
„historisches Recht“ usw. - sind ideologische Schöpfungen
der Zionisten, die keine reale Grundlage im internationalen
Recht haben, sondern allein vom Machtwillen der Zionisten
bestimmt sind.
Sand schreibt: „Das zionistische
Siedlungswerk hielt sich niemals lange mit moralischen
Feinheiten auf, die geeignet waren, die Landnahme zu
begrenzen oder gar zu verhindern. Die einzigen Grenzen, die
dem nationalen Projekt – genau wie jedem anderen
kolonisatorischem Prozess auch – gesetzt waren, waren die
Grenzen der eigenen Macht. Grenzlinien, die sich aus einem
freiwilligen Verzicht oder aus einem pazifistischem
Kompromiss mit der autochthonen Bevölkerung ergeben hätten,
gab es nicht.“
Shlomo Sand hat mit seinem neuen Buch einen
weiteren bedeutenden Baustein für unser Israel-Bild
geliefert, das unbedingt der Korrektur bedarf. Er macht
klar, dass ein Staat, der sich selbst eine „falsche“ und
rein aus Machtinteressen bestehende Ideologie seiner
Vergangenheit zulegt, auf Dauer nicht bestehen kann. Und da
Israel auch nach dieser Ideologie konsequent Politik macht,
das heißt jeden territorialen Kompromiss mit der
autochthonen Bevölkerung – den Palästinensern - ausschließt,
hat sich der jüdische Staat in eine fast ausweglose
Situation gebracht. Die Frage, ob dieser Staat mit seiner
rigiden isolationistischen Politik („wir gegen die ganze
Welt“!), die allein auf den Vorteil der eigenen Ethnie
bedacht ist, überleben kann wird immer häufiger gestellt –
auch von Sympathisanten Israels, wie zuletzt der ehemalige
amerikanische Außenminister Henry Kissinger, der dem
jüdischen Staat nur noch wenige Jahre gibt.
Die zionistische Ideologie und das
israelische Geschichtsnarrativ – tragende Säulen des Systems
– haben israelische Autoren wie Simcha Flappan, Ilan Pappe,
Shlomo Sand und andere mit ihren Arbeiten schon längst zum
Einsturz gebracht. Die Gefahr, dass auch die israelische
Politik und der sie tragende Staat an der Realität
scheitern, wird immer bedrohlicher, zumal sich nirgendwo –
weder in der Politik noch in der Ideologie – Bewegung, ein
Einlenken, ein Schritt zum Überdenken unhaltbarer
Positionen, zu Reform und zum Aufbruch zu neuen Ufern zeigt.
Überall nur ideologische und politische Abschottung,
Verschanzen hinter Mauern, um sofort „Antisemitismus“
auszumachen, wo berechtigte Kritik an Israels politischem
Irrweg auftaucht. Israel baut seinen Fortbestand nicht auf
einen Ausgleich mit seinen Nachbarn auf, sondern allein auf
militärischer Sicherheit. Aber Kreuzritterstaaten haben in
der Geschichte noch nie überlebt. Shlomo Sand sagt es gleich
am Anfang seines Buches, welchen Staat er sich für die
Zukunft wünscht: Einen, der das Unglück und die Zerstörung
anerkennt, die die Zionisten über die Palästinenser gebracht
haben. Und um weitere Katastrophen zu verhindern, müsste der
Staat, der die Nachfolge des jetzigen Israel antritt, einer
sein, der allen seinen Bürgern die gesellschaftliche und
politische Gleichstellung garantiert.
Shlomo Sand: Die Erfindung des Landes
Israel. Mythos und Wahrheit, Ullstein-Verlag Berlin 2012,
19,99 Euro |