Der Kampf mit dem Dämon der NS-Vergangenheit
Arn Strohmeyer, 21.01.2012
„Beschimpfungen mit Nazi-Analogien sind in Israel gang und gäbe / Ein Gesetz wird kaum Abhilfe schaffen können“
Ultraorthodoxe Juden haben sich Anfang Januar in Jerusalem Judensterne an die Brust geheftet, einige traten sogar in gestreifter KZ-Sträflingskleidung auf, um mit solchen NS-Symbolen gegen die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zu demonstrieren. Die Ultras behaupten, die Politik dieser Regierung sei „judenfeindlich“, ja komme der Judenverfolgung im „Dritten Reich“ gleich. Hintergrund der Proteste ist der Versuch der Ultraorthodoxen, in Bussen, Parks, Supermärkten und auf Gehsteigen die Trennung der Geschlechter durchzusetzen, was natürlich selbst die rechte Netanjahu-Regierung unter keinen Umständen zulassen kann, denn sie muss für Gleichberechtigung in der Gesellschaft sorgen. Sie glaubt nun, das Problem mit einem Gesetz in den Griff zu bekommen: Alle Anspielungen und Beschimpfungen, die einen Bezug auf das NS-Zeit haben, sollen genauso untersagt werden wie das Tragen von Nazi-Symbolen.
Man kann für Letzteres noch volles Verständnis haben, aber mit den Äußerungen und Vergleichen zur Nazi-Zeit ist es (einmal abgesehen von der möglichen Einschränkung der Meinungsfreiheit) so eine Sache, denn die sind in Israel so üblich wie Regen und Sonnenschein. Man könnte ganze Bücher mit Zitaten solcher Äußerungen vor allem von prominenten Politikern füllen, die ja immer als Beschimpfung und Verunglimpfung des politischen Gegners oder vermeintlicher Feinde gedacht sind. Und damit soll jetzt Schluss sein? Das ist nur schwer vorstellbar. Die politische Klasse würde sich damit selbst an die rhetorische Kette legen. Es gibt in Israel offenbar eine Besessenheit, Alles und Jedes mit dem Nationalsozialismus in Zusammenhang zu bringen, und damit die Realität völlig aus den Augen zu verlieren. Politisch ist das äußerst gefährlich.
Solche Äußerungen kommen seit jeher von allen politischen Seiten - je nach politischem Bedürfnis. Sie sind deshalb kaum in ein System zu bringen und drücken offenbar nur eins aus: eine zum Teil wenigstens verständliche traumatische Besessenheit von der Vergangenheit. Andererseits stecken hinter solchen Äußerungen aber massive manipulative propagandistische politische Absichten. Dem israelischen Historiker Moshe Zimmermann zufolge sollen sie Angst erzeugen. Denn Angst, existentielle Angst sei zur politischen Richtlinie, zur psychologischen Grundhaltung, zum Automatismus, zur ultimativen Ausrede, zum Alibi einer ganzen Gesellschaft geworden. Zimmermann weist auch auf die Gefahren einer solchen Haltung hin: Die Angst um die Existenz sei quasi zur Brille geworden, durch die die Ereignisse und Strömungen in der Region gesehen würden, und zwar ohne Rücksicht auf Fakten und Entwicklungen, die diese Sichtweise verändern könnten. Die Folge sei - so Zimmermann - , dass die Angst vor dem Frieden größer sei als die Angst vor dem Krieg. Das Misstrauen richte sich gegen alle Nicht-Jüdische.
Hier eine kleine Auswahl von unendlich vielen NS-Äußerungen israelischer Politiker. Schon der erste Ministerpräsident Israels, David Ben Gurion, führte sehr oft Nazi-Vergleiche an. Der ägyptische Staatschef Nasser war für ihn ein „neuer Hitler“ und die Palästinenser, von denen seine Politik über 700 000 Menschen (die Hälfte des palästinensischen Volkes!) außer Landes ins Exil vertrieben hatte, sah er als „hoffende Vollstrecker“ von Hitlers Plänen an, die Juden auszurotten. Der Führer der terroristischen Untergrundorganisation Irgun und spätere Ministerpräsident Menachem Begin setzte diese Tradition fort. Palästinenser waren für ihn „Tiere auf zwei Beinen“, was dem NS-Begriff des „Untermenschen“ entspricht. Die Nationalcharta der PLO verglich er mit Hitlers „Mein Kampf“ und den PLO-Chef Arafat titulierte er immer wieder als neuen Hitler. Den Einmarsch der Israelis 1982 im Libanon verstand er als „historischen Ausgleich“, so als wäre eine jüdische Einheit in das Warschauer Ghetto einmarschiert. Beim Angriff auf Arafats Hauptquartier im belagerten Beirut habe er sich gefühlt, so gestand er, als hätte er die israelische Armee nach Berlin geschickt, um Hitler in seinem Bunker umzubringen. Später tat es ihm Sharon gleich. Auch er verglich Arafat mit Hitler und die PLO mit dem „Dritten Reich“. Der Politiker Efi Eitam blies ins selbe Horn, wenn er meinte: „Arafat ist ein Mörder. Worin liegt der Unterschied zu Eichmann?“
Die Äußerungen, die den Holocaust - den Grundpfeiler der säkularen Religion Israels - politisch instrumentalisieren und ihn auch zur Rechtfertigung für Israels Kriege und die Besetzung der palästinensischen Gebiete anführen, sind Legion. Die Grenzen von vor 1967 wurden von vielen israelischen Politikern als die „Auschwitz-Grenze“ bezeichnet. Immer wieder werden die Araber bzw. die Palästinenser beschuldigt, einen „neuen Holocaust“ zu planen - neuerdings wird diese Absicht dem „Schurkenstaat“ Iran unterschoben. Einige Israelis gehen so weit zu behaupten, dass das Schicksal, dass sie durch die Palästinenser erleiden (!), dem jüdischen Schicksal in Auschwitz gleiche.
Besonders den Siedlern in den besetzten Gebieten gehen Nazi-Vergleiche besonders schnell von den Lippen. Als Ariel Sharon 2005 den Abzug aus dem Gazastreifen anordnete, war er plötzlich selbst der böse Nazi. Die Siedler verglichen ihre friedliche Evakuierung aus einem Gebiet, das ihnen nicht gehörte, mit der Deportation der Juden in der NS-Zeit. Sie bezeichneten Sharons Anordnung als „Verbrechen gegen die Menschheit“ und setzten ihn mit den Spitzen des NS-Systems gleich. Dem früheren Ministerpräsidenten Jitzhak Rabin hatten sie schon früher vorgeworfen, er stehe einer Regierung vor, die Judäa und Samaria (die israelische Bezeichnung für das besetzte Westjordanland) „judenrein“ machen wolle, wie Hitler es in Europa gemacht habe. Immer wieder drohten sie, sollte die Räumung der Siedlungen dort angeordnet werden, würden sie wie die „Russen in Stalingrad kämpfen“. In Hebron werden die dort wohnenden Palästinenser von den Siedlern permanent als „Nazis“ beschimpft und an den Mauern der Stadt finden sich überall Graffiti, die fordern: „Araber ins Gas!“
Völlig aus dem Rahmen fiel der Likud-Politiker Moshe Feiglin, der sich 1995 äußerst positiv über Hitler äußerte und damit im gerade stattfindenden Wahlkampf seine Partei in arge Verlegenheit brachte. Er bezeichnete Hitler in der Zeitung „Haaretz“ als „unerreichtes Genie“. Der Führer habe gute Musik geschätzt und habe gemalt - für Feiglin wohl ein Beleg dafür, dass dieser Mann auch Kultur gehabt habe. Feiglin folgerte: „Das war keine Schlägerbande, die haben Schläger und Homosexuelle lediglich benutzt.“ Feiglin weiter: Der Nationalsozialismus habe Deutschland aus einer Niederlage hin zu einem phantastischen physischen und ideologischen Status befördert. Deutschland seien durch das Hitler-Regime eine exemplarische Führung , ein anständiges Justizsystem und öffentliche Ordnung zuteil geworden. Zu solchen Äußerungen passt die Forderung eines hohen israelischen Offiziers im Jahr 2002, die Methoden, mit denen die Wehrmacht im Warschauer Ghetto vorging, zu analysieren und sich anzueignen. Man könne diese Methoden dann nutzen, um den palästinensischen Widerstand zu brechen (Haaretz 25.1.2002).
NS-Vergleiche gibt es umgekehrt aber auch auf der linken oder liberalen Seite. Der große israelische Philosoph Yeshajahu Leibowitz verpackte seine Kritik an der israelischen Politik auch in eine solche Analogie. Er zitierte den Dichter Franz Grillparzer, der einst vor Rückfällen in die Barbarei mit den Worten warnte: „Es führt ein Weg von der Humanität über die Nationalität in die Bestialität.“ Leibowitz ergänzte diesen Satz: „Das deutsche Volk ging diesen Weg bis zum Ende, und wir haben diesen Weg seit 1967 angetreten.“ Die Siedler in den besetzten Gebieten nannte er „Nazi-Juden“ - wohl die schlimmste Beleidigung, die ein Jude einem anderen Juden zufügen kann.
Ein besonnener Israeli, ein Dr. Shlomo Schmelzmann, rückte die NS-Vergleiche zurecht und warnte 1982 anlässlich der israelischen Invasion im Libanon: „Während meiner Kindheit litt ich unter Angst, Hunger und Erniedrigung, denn mein Weg führte mich vom Warschauer Ghetto nach Buchenwald. Heute höre ich viele ähnliche Töne. Ich höre ‚dreckige Araber‘ und erinnere mich an ‚dreckige Juden‘. Ich höre von ‚abgeriegelten Gebieten‘ und erinnere mich an Ghetto und Lager. Ich höre ‚zweibeinige Tiere‘ und erinnere mich an ‚Untermenschen‘. Zu viele Dinge erinnern mich in Israel an meine Kindheit.“
Jahrzehnte später bestätigte der frühere Knesset-Sprecher Abraham Burg solche Sätze: „Begriffe wie Vertreibung, Tod, Aushungern und Verfolgung gehören inzwischen zum politischen Dialog [in Israel], und nicht einmal das Kabinett bildet darin eine Ausnahme.“ Auch er führt die ständigen NS-Vergleiche auf die tief sitzende Angst der Israelis zurück: „Die Propaganda sagt uns, dass uns entweder völlige Vernichtung oder Erlösung erwartet und es nichts dazwischen gibt.“ Und: „Wir müssen uns ständig als ewige Opfer fühlen und Opfer bringen, um uns der Verantwortung für die Realität zu entziehen, mit der wir konfrontiert sind. Kein Wunder, dass jeder beliebige Feind in unseren Augen zu Hitler wird und in Israels Halle der Schande eingeht.“
Burg gibt auch eine plausible Erklärung dafür an, warum die Araber bzw. speziell die Palästinenser in israelischer Sicht die „neuen Nazis“ sind. Hier liegt - so schreibt er - eine einfach psychologische Übertagung vor. Das politische Israel habe den Deutschen viel zu früh die Verbrechen der Nazis vergeben und verziehen, nicht zuletzt wegen der Aussichten auf materielle Wiedergutmachung, und habe damit den Hass, der eigentlich den Deutschen gebührte, von diesen auf die Araber projiziert: „Aber den Arabern werden wir nie verzeihen, weil sie angeblich genauso sind wie die Nazis, schlimmer als die Deutschen. Wir haben unsere Wut- und Rachegefühle von einem Volk auf ein anderes verlagert, von einem alten auf einen neuen Feind, und so erlauben wir uns, behaglich mit den Erben des deutschen Feindes zu leben - die für Bequemlichkeit, Wohlstand und hohe Qualität stehen - und die Palästinenser als Prügelknaben zu behandeln, an denen wir unsere Aggression, Wut und Hysterie auslassen, wovon wir mehr als genug haben.“
Der amerikanisch-jüdische Historiker Peter Novick gibt in seinem schon zum Klassiker gewordenen Buch „Nach dem Holocaust“ eine ergänzende Erklärung, warum die Araber bzw. die Palästinenser zu den „neuen Nazis“ gemacht wurden. Danach hat die Führung der amerikanischen Juden im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts in Reaktion auf die Wahrnehmung veränderter Bedürfnisse (der angeblichen Tatsache, dass der Holocaust in der Welt nicht mehr angemessen wahrgenommen, ja vergessen werde und Israel immer mehr isoliert und nicht mehr hinreichend unterstützt würde) die Entscheidung gefällt, dem Holocaust einen zentralen Stellenwert einzuräumen, um den „neuen Antisemitismus“ zu bekämpfen, das umzingelte Israel zu unterstützen und ein wiederbelebtes ethnisches Bewusstsein zu begründen.
Dieses Holocaust-Deutungsmuster - so Novick weiter - erlaube jede beliebige Kritik an Israel als irrelevant beiseite zu schieben sogar das Nachdenken über die Möglichkeit zu meiden, Recht und Unrecht könnten komplex sein. In diesem propagandistischen Rahmen wurden die Araber im allgemeinen und die Palästinenser im besonderen mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht und ihnen wurde und wird unterstellt, sie wollten Israel zerstören und einen „neuen Holocaust“ in Szene setzen. Wie verzerrt und unwirklich diese Sicht auf die Realität ist, macht der Tatbestand deutlich, dass Israels angebliche Sicherheitsbedrohung gar nicht von feindlichen arabischen Streitkräften herrührt, sondern umgekehrt von einer andauernden Militärherrschaft über ein anderes Volk.
Es wird also nicht so einfach sein, mit einem Gesetz den Dämon NS-Vergangenheit und die sich darauf beziehenden Anspielungen und Vergleiche zu verjagen. Vor allem den Palästinensern gegenüber wird man wohl beim gewohnten Feindbild bleiben. Der jüdische Autor Roger Rosenblatt hat schon früher zu solchen falschen Analogien die Frage gestellt und gewarnt: „Wie viel Vergangenheit ist genug?“ Er gab die Antwort darauf mit einer neuen Frage: „An welchem Punkt hört die Hingabe an die Geschichte auf, eine Waffe gegen den gegenwärtigen und künftigen Irrtum zu sein, und wann beginnt sie, jene zu lähmen, die ihren Schutz suchen?“