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„Die Hamas ist an allem schuld“
Wie SPIEGEL-Korrespondentin Nicola Abé
die Situation im Gazastreifen nach zehn Jahren Blockade
sieht
Arn Strohmeyer
Vor zehn Jahre begann die Blockade des
Gazastreifens durch Israel: das „größte Freiluftgefängnis“
der Welt entstand oder die „Lagerhaltung“ (ware-housing) für
ein überflüssiges Volk, wie es der israelische Anthropologe
Jeff Halper nennt. Durch hohe Zäune modernster israelischer
Bauart von der Außenwelt völlig abgeriegelt, durch drei
kriegerische Überfälle Israels (2008/09, 2012 und 2014) in
eine Elendsregion gebombt – 50 Prozent der Menschen brauchen
heute Hilfe von außen, die Arbeitslosigkeit ist eine der
höchsten der Welt – das ist die heutige traurige Realität.
Man muss auch an die Vorgeschichte erinnern, wie es zu der
Blockade kam: 2006 gewann die Hamas im Westjordanland und im
Gazastreifen freie Wahlen. Ein Einheitsregierung von Hamas
und Fatah wurde gebildet, die Israel und der Westen aber
nicht anerkannten. Israel ließ sogar viele frei gewählte
Abgeordnete verhaften.
Anschließend versuchte eine
palästinensische Militäreinheit, die von der Fatah, Israel
und den USA gebildet worden war, im Gazastreifen zu
putschen. Die Hamas kam dem zuvor, der Coup misslang.
Seitdem herrschen die Islamisten, deren Organisation noch in
den 80er Jahren von Israel als Konkurrenz zur PLO gefördert
wurde, im Gazastreifen, was Israel dann zu der Blockade
veranlasste. Der zionistische Staat kontrolliert den
Streifen zu Lande, in der Luft und auf dem Wasser. Nur das
Allernötigste lässt die Besatzungsmacht in das Gebiet hinein
– zu den verbotenen Materialien gehört sogar
Kinderspielzeug.
Diese Fakten muss man kennen, um die
heutige Situation richtig beurteilen zu können.
SPIEGEL-Korrespondentin Nicola Abé weiß offensichtlich
nichts davon. Sie reduziert in ihrem Artikel zum Jahrestag
der Blockade die heutige Situation in der Elendsregion auf
den Protest junger Leute gegen die „korrupte“
Hamas-Regierung. Worin die „Korruption“ besteht, führt sie
nicht aus, das ist eben einfach so. Nun mag die Opposition
der Jugendlichen gegen das Hamas-Regime durchaus berechtigt
sein, und die Mittel, mit denen die Islamisten dem
Widerstand begegnen, sind sicherlich nicht gerade von der
feinsten demokratischen Art. Aber die Frage nach dem
Hauptverantwortlichen für die Zustände im Gazastreifen
stellt die Korrespondentin gar nicht erst. Der Tenor ihres
Artikels ist: „Man kann doch nicht alles auf die
Besatzungsmacht schieben!“ So drückt es eine Palästinenserin
aus. Mit anderen Worten: Die Hamas ist an der ganzen Misere
schuld und nicht die Besatzer, die im Übrigen in dem ganzen
Artikel nur ein einziges Mal beiläufig erwähnt werden.
Dass in einem Gebiet, dass keinen Kontakt
mit der Außenwelt haben kann und darf, in dem es an allem
fehlt und in das so gut wie nichts eingeführt werden darf
und in dem die Besatzungsmacht die ganze Infrastruktur, die
Industrie und sogar die Landwirtschaft zerstört hat,
Wirtschaft und Handel völlig am Boden liegen, auch daran ist
für Nicola Abé natürlich die Hamas schuld: „Seit dem letzten
Krieg wurde kaum Wiederaufbau geleistet, sind noch immer
zivile Infrastruktur und Wohnhäuser zerstört“, schreibt sie.
Warum wohl? Nicht weil die Palästinenser den ganzen Tag faul
herumsitzen und Tee trinken, sondern weil Israel eben kein
Material hereinlässt.
Nicola Abé sollte einmal die Arbeiten der
amerikanisch jüdischen Wirtschaftswissenschaftlerin Sara Roy
von der Harvard-Universität lesen, die sehr anschaulich
beschreibt, wie Israel jedes Mittel einsetzt und alles dafür
tut, dass sich in den besetzten palästinensischen Gebieten
keine Wirtschaft entwickeln kann – ja, sie spricht sogar von
bewusst herbeigeführter „Rückentwicklung“. (In den letzten
Tagen wurden die Zahlen bekannt, wie viele von der EU
geförderte Projekte in den palästinensischen Gebieten von
Israel zerstört worden sind.) Der Grund ist klar: Eine
funktionierende und aufstrebende Wirtschaft dort könnte eine
Keimzelle für einen entstehenden palästinensischen Staat
sein – und das will Israel mit seinem Alleinanspruch auf „Erez
Israel“ (ganz Palästina) um jeden Preis verhindern.
Von alldem findet man bei der
SPIEGEL-Korrespondentin nicht einmal eine Andeutung. Gaza
ist für sie nur interessant, weil dort Jugendliche gegen die
Hamas rebellieren. Damit findet sie ihr zionistisches und
anti-palästinensisches Weltbild bestätigt. Der zehnte
Jahrestag der Gaza-Blockade wäre aber eine gute Gelegenheit
gewesen daran zu erinnern, wie viele Vorschläge die Hamas
für einen Waffenstillstand mit Israel schon gemacht hat;
dass die Hamas keinesfalls – wie oft unterstellt – „die
Juden ins Meer jagen will“, sondern immer wieder dem
arabischen Friedensplan aus dem Jahr 2002 zugestimmt hat,
der anbot, dass alle arabischen Staaten Israel anerkennen
würden, wenn Israel im Westjordanland und im Gazastreifen
der Errichtung eines Palästinenser-Staates zustimmen würde.
Ein solcher Staat würde nur ganze 22 Prozent des
ursprünglichen Palästina ausmachen – welchen Kompromiss
können und sollen die Palästinenser sonst noch eingehen?
Israel hat beide Angebote gar nicht zur Kenntnis genommen.
Der zehnte Jahrestag der Gaza-Blockade
wäre auch ein guter Anlass gewesen, daran zu erinnern, dass
die Abriegelung dieses Gebietes ein völkerrechtswidriges
Verbrechen ist, weil hier eine Kollektivstrafe an einer
ganzen Bevölkerungsgruppe vollzogen wird. Wofür eigentlich
werden diese Menschen bestraft? Was haben sie sich zu
Schulden kommen lassen? Und wer gibt Israel das Recht, diese
Menschen von jeder humanen, zivilisatorischen Entwicklung
auszuschließen? Der Jahrestag wäre auch ein geeigneter
Anlass gewesen, Israel und die Staatengemeinschaft an ihre
Verantwortung gegenüber diesen Menschen zu mahnen, die sie
offenbar vergessen hat oder die ihr gleichgültig sind. Aber
das sind für eine SPIEGEL-Korrespondentin offenbar keine
relevanten Themen.
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