Die Tragödie des
Zionismus: von der Emanzipationsbewegung der Juden zum
siedlerkolonialistischen Apartheidstaat
Vor 125 Jahren
beschlossen die Zionisten in Basel die Gründung eines jüdischen Staates
in Palästina
Arn Strohmeyer -
26.08.2022
Der Begründer des Zionismus, der
Journalist Theodor Herzl (1860 – 1904), hat schon 1896 konstatiert: „Die
Juden, die ihren Staat wollen, werden ihn haben.“ Ein Jahr später trafen
sich im August 1897 die führenden Zionisten zu ihrem ersten Kongress in
Basel. Sie beschlossen: „Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk
die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in
Palästina.“ In diesem Satz versteckte sich schon die ganze Problematik
des zionistischen Unternehmens, das die Anhänger dieser Ideologie nun in
Angriff nahmen.
Denn erstens wollten sie nicht nur eine
„Heimstätte“ schaffen, sondern einen jüdischen Staat errichten, so hatte
Herzl es vorher auch schon in seinem Buch Der Judenstaat. Versuch
einer modernen Lösung der Judenfrage formuliert. Man hielt sich in
Basel aus taktischen Gründen sprachlich zurück, um vor allem die
arabische Welt nicht zu erschrecken und in Aufruhr zu versetzen. Und
zweitens sollte dieser Staat in einem Land gegründet werden, der von
palästinensischen Arabern bewohnt war. Der Konflikt, der bis heute
andauert, war also im dem Baseler Beschluss schon enthalten.
Die Zionisten gingen bei der Realisierung
ihres Zieles äußerst geschickt vor. Sie holten immer mehr jüdische
Immigranten nach Palästina und schufen dort Schritt für Schritt
„vollendete Tatsachen“ („faits accomplis“), die nicht rückgängig gemacht
werden konnten. Das heißt: Sie kauften Land und errichteten
vorstaatliche Institutionen: Wehrsiedlungen (Kibuzzim),
Verwaltungsorgane, Milizen (die sehr bald zu einer Armee wurden) sowie
ein eigenes, speziell jüdisches Wirtschaftssystem, das Araber
vollständig ausschloss. Geographisch strebten die Zionisten ein
Groß-Israel (Erez Israel) an, das weit über das eigentliche
Palästina hinausging und auch Teile Ägyptens, Jordaniens, Syriens, des
Irak und des Libanon einschloss. Herzl stellte sich einen jüdischen
Staat vom Nil bis zum Euphrat vor.
Die indigene Bevölkerung – die
Palästinenser – spielte in dem zionistischen Projekt, das auf ihrem
Boden stattfand, überhaupt keine Rolle. In der Sicht der Zionisten gab
es diese Menschen überhaupt nicht. Die zionistische Politikerin Golda
Meir, die später auch israelische Regierungschefin wurde, hat die
Leugnung ihres Daseins in geradezu klassischer Weise so formuliert: „So
etwas wie Palästinenser hat es nie gegeben. Es war nicht so, als wäre in
Palästina ein Volk vorhanden gewesen, das sich als ein solches
betrachtet hätte, und wir sind gekommen, hätten sie hinausgeworfen und
ihnen ihr Land weggenommen. Sie existierten nicht.“
Aber in Wirklichkeit existierten diese
Menschen sehr wohl. Unzählige Reiseberichte aus dem „Heiligen Land“ aus
den vergangenen Jahrhunderten haben ihr Leben geschildert und angemerkt,
dass sich die Palästinenser trotz der repressiven türkischen Herrschaft
eines gewissen Wohlstandes erfreuten. Die Zionisten mussten die
Palästinenser aber offensichtlich negieren, denn wie hätten sie sonst
ihre Absicht realisieren und rechtfertigen können, mitten in diesem Volk
ihren Staat gründen zu wollen, ohne die geringste Rücksicht auf diese
Menschen zu nehmen? Wobei der Begriff Negieren noch sehr milde
beschreibt, wie man wirklich mit diesen Menschen umging. So schilderte
der aus Russland stammende jüdische Schriftsteller Ahad Ha’am, der am
Ende des 19. Jahrhundert Palästina besuchte, seine Eindrücke empört so:
Die Zionisten behandeln die Araber dort „despotisch“, sie begegnen ihnen
mit Feindschaft und Grausamkeit, berauben sie ihrer Rechte, schlagen sie
schmählich ohne Grund, brüsten sich dessen sogar, und niemand wirft sich
dazwischen und gebietet ihrem gefährlichen und abscheulichen Treiben
Einhalt.“
Theodor Herzl hatte schon in seinen
Tagebüchern beschrieben, wie die Zionisten gegen die einheimischen
Palästinenser vorgehen sollten: „Die Zionisten müssen sich zunächst in
zureichender Weise den Grundbesitz der arabischen Bevölkerung
verschaffen. Die Einheimischen – insbesondere die Armen – sollen
unbemerkt über die Grenzen in Nachbarländer deportiert werden, nachdem
sie vorgängig die gröbste Kolonisierungsarbeit im Judenstaat geleistet
haben. Den Arabern darf im Judenstaat keine Arbeit gegeben werden; auch
ist es der eingeborenen Bevölkerung untersagt, von Juden erworbenes Land
zu kaufen.“
„Die Palästinenser wie Sümpfe und Malaria
bekämpfen“
Der israelische Psychoanalytiker Benjamin
Beit-Hallahmi, der ein Buch über die Sünden des Zionismus
geschrieben hat, schildert darin, wie die Zionisten die arabische
Bevölkerung Palästinas in der frühen Zeit der Besiedlung Palästinas
behandelt haben: „Sie waren nicht Teil einer Gleichung. Sie waren für
die Zionisten eigentlich gar nicht vorhanden, waren ‚unsichtbar‘ und
kamen in den Visionen und Planungen der Zionisten gar nicht vor. Die
einheimische Bevölkerung musste ausgesondert und ausgeschieden (eliminated)
werden. Der Krieg gegen die Eingeborenen (natives) war schlicht und
einfach ein Teil der Umwandlung der Natur des Landes, und sie waren ein
anderes Element der Natur, man musste sie [die Eingeborenen] erobern und
sie bekämpfen wie die Sümpfe, die Hitze und die Malaria.“
Ben-Hallahmi fügt hinzu: Die dort lebenden
Araber waren für die Zionisten nicht einmal eine Herausforderung,
sondern lediglich ein Ärgernis, ein Missstand, den man beseitigen müsse.
Wenn sie Widerstand gegen ihre Vertreibung von ihrem Land und die
brutale Behandlung leisteten, hätten die Zionisten das schlicht als
„kriminelle Gewalt“ angesehen. Dieser Widerstand sei immer „illegal“
gewesen. Palästinensische Widerstandskämpfer wurden als „Gangster,
Räuber und Banditen“ bezeichnet – später und bis heute als
„Terroristen!“ Oder sie wurden als „Invasoren und Aggressoren“
angeprangert. Mit Blick auf die Verfolgungen in der jüdischen Geschichte
hätte man in palästinensischen Widerständlern auch „heidnische
Antisemiten“ gesehen, die Pogrome gegen friedliche Juden begehen würden,
sogar der Vergleich mit der spanischen Inquisition sei benutzt worden.
Damit war die Grundkonstellation
beschrieben, die das Verhältnis der Zionisten zu den Palästinensern bis
heute bestimmt: Verachtung, Diskriminierung und Unterdrückung. Der Staat
Israel wurde gewaltsam auf Kosten der Palästinenser errichtet, also
unter völliger Missachtung der natürlichen Rechte dieses Volkes, wobei
die imperialistischen Westmächte – vor allem Großbritannien und die USA
– dabei Hilfestellung leisteten. Israel ist bis heute der typische
siedlerkolonialistische Staat. Die Arabistin Petra Wild hat diese
Staatsform so definiert: „„Der reine Siedlerkolonialismus, für den
Israel ein Beispiel ist, strebt danach, die einheimische Bevölkerung
durch eine eingewanderte Siedlerbevölkerung vollständig zu ersetzen. Die
Grenzen werden stets weiter nach vorne verschoben und die einheimische
Bevölkerung auf stets kleiner werdenden Flächen zusammengedrängt, um ihr
Land und ihre Ressourcen für die Siedlerbevölkerung freizumachen.
Charakteristisch für siedlerkolonialistische Gebilde sind neben
territorialer Expansion ein ausgeprägter Rassismus in der
Siedlerbevölkerung und die Behauptung, das Land sei menschenleer
gewesen, als die Siedler kamen.“ Bei den Zionisten lautete die Parole:
„Das Volk ohne Land kommt in das Land ohne Volk.“
Der Machtanspruch der Zionisten auf ein
arabisches Land und die gewaltsame Schaffung eines jüdischen Staates im
Herzen der arabischen Welt mit allen sich daraus ergebenden
kolonialistischen Konsequenzen machen bis heute das Wesen des
Nahost-Konfliktes aus. Israel konnte sein brutales völkerrechtswidriges
und die Menschenrechte verletzendes Vorgehen immer nur mit Mythen
rechtfertigen – angefangen mit der „Rückkehr“ der Juden nach 2000 Jahren
in ihr „eigenes“ Land und der Rechtfertigung, das Land unter Berufung
auf göttliches Geheiß in Besitz nehmen zu können (Jeremia 30,3). Würden
andere Völker ähnliche Rechte auf früher angeblich besessenes Land
anführen, würde die Welt zum chaotischen Schlachtfeld anachronistischer
Ansprüche.
Die „Rückkehr“ der Juden nach Palästina
kann historisch, anthropologisch und juristisch nicht begründet werden
(der Soziologe Walter Hollstein). Auch wenn der Staat Israel heute eine
Realität ist, die Begründungen für seine Legalität kommen alle aus dem
Mythos, also aus einer ahistorischen Betrachtungsweise. Jede Kritik an
dieser mythischen, also ahistorischen Sicht auf die eigene Geschichte
wird sofort mit dem Antisemitismus-Vorwurf abgewehrt.
Die Zionisten gingen bei der Realisierung
ihrer Pläne, in Palästina einen jüdischen Staat zu errichten, äußerst
geschickt und clever vor, sie profitierten dabei aber zweifellos auch
von der sozio-ökonomischen Rückständigkeit der Palästinenser und der
Unterstützung der großen imperialistischen Mächte. Es kann hier nicht im
Einzelnen auf alle Stationen der zionistischen Geschichte eingegangen
werden – die britische Mandatszeit von 1922 bis 1948, den
palästinensischen Aufstand 1936 – 1939, den jüdischen Terror der Irgun
und anderer Untergrundorganisationen gegen die Briten und Palästinenser,
die Teilungsresolution der UNO 1947, die Nakba mit der Vertreibung von
800 000 Palästinensern durch zionistische Truppen, die Staatsgründung
Israels im Mai 1948, den israelisch-arabischen Krieg von 1948 mit seinen
Eroberungen, Israels expansive Kriege 1967 und 1973 und die brutale
Okkupationsherrschaft über die Palästinenser und den permanenten
Landraub bis heute, um nur die wichtigsten Ereignisse zu nennen. Nicht
vergessen werden dürfen zwei Aufstände der Palästinenser (Intifadas)
gegen die zionistische Unterdrückung: 1987 und 2000/2001.
Die heutige Realität des Zionismus ist
äußerst ambivalent und zwiespältig. Auf der einen Seite ist dieser Staat
eine politische, wirtschaftliche und militärische regionale
High-Tech-Supermacht, exklusiv für Juden ist sie auch eine liberale
Demokratie nach westlichem Vorbild, nimmt man aber den gesamten
zionistischen Herrschaftsbereich, also einschließlich der besetzten
Gebiete, dann muss man von einer Ethnokratie sprechen, weil hier ein
privilegiertes Herrenvolk über ein unterworfenes und rechtloses Volk
herrscht. Israel weist heute alle Züge eines Apartheidstaates auf.
Die israelische Journalistin Amira Hass
hat jetzt in der Tageszeitung Haaretz (21.August 2022) die andere
dunkle Seite Israels geschildert. Danach verübt der zionistische brutale
Besatzungsstaat an den Palästinensern einen „Nicht-Holocaust“, das
heißt, er „missbraucht, demütigt, zerquetscht und foltert, bombardiert
und tötet, inhaftiert und vertreibt, stiehlt Wasser und Land.“ Die
Journalistin ist empört darüber, dass die westlichen Staaten sehr
schnell Sanktionen gegen missliebige Staaten verhängen, nicht aber gegen
Israel, „das den Gazastreifen mit seinen Waffen vernichtet hat und
weiterhin vernichtet und mit Science-Fiction-ähnlichen Mitteln jeden
Palästinenser ab dem Alter von einer Stunde bis nach seinem Tod
ausspioniert.“
Das ist die Realität des modernen Israel,
die zugleich die Tragödie des Zionismus ist. War die Idee des Zionismus
in seiner ursprünglichen Zielsetzung, als Reaktion auf den europäischen
Antisemitismus den Juden eine sichere Heimat zu verschaffen, noch
humanistisch orientiert, so kann seine politische Praxis, seine
umgesetzte Wirklichkeit nur als äußerst inhuman bezeichnet werden.
Der deutsche Soziologe Walter Hollstein
hat schon Anfang der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts
geschrieben: „Man kann nicht übersehen, dass sich der humanistische
Gehalt des Zionismus, der die Befreiung der Juden wollte, in der
verwirklichten Praxis nur auf unmenschliche Weise erfüllen konnte. Der
Zionismus, der aus begangenem Unrecht an den Juden entstanden war, ließ
alsdann Juden Unrecht begehen, um sich überhaupt realisieren zu können.
(…) Die Zionisten mussten, um in Palästina leben zu können, den
Palästinensern das Lebensrecht nehmen.“ Mit anderen Worten: Aus Opfern
sind Täter geworden.
Kann der Zionismus überleben? Drei
israelische Stimmen
Die Frage, ob der Zionismus als Staatsidee
Israels noch eine Zukunft hat, muss angesichts der inhumanen Politik des
israelischen Staates gegenüber den Palästinensern gestellt werden. Als
Antwort auf diese Frage sollen hier die Positionen von drei renommierten
israelischen Wissenschaftlern aufgeführt werden: der Historikerin Tamar
Amar Dahl, des Historikers Ilan Pappe und des Sozialwissenschaftlers und
Philosophen Moshe Zuckermann.
Die hier gestellte Frage ist eng mit der
anderen Frage verknüpft, ob Israel bzw. der Zionismus friedensfähig und
friedenswillig sind. Alle drei Autoren verneinen diese Frage. Um Frieden
zwischen Kontrahenten herstellen zu können, muss ein Mindestkonsens über
das Wesen des zur Debatte stehenden Konflikts bestehen: seine
Ausgangspunkte und seine Ursachen. Eine verfälschte oder manipulierte
Sicht der Geschichte schließt jeden Lösungsansatz aus. Die zionistische
Betrachtungsweise der eigenen Geschichte ist aber mystifizierend und
geschichtsfremd, weil sie von den konkreten Geschehnissen abstrahiert.
Tamar
Amar Dahl macht diesen Tatbestand in erster Linie für Israels
Friedensunfähigkeit verantwortlich. Denn der Zionismus hat den Konflikt
mit den Palästinensern vollständig entpolitisiert, das heißt, er wird
jenseits von dessen konkreter politischer und historischer Entstehung
begriffen und an einer gegen Juden als solche gerichteten
Feindseligkeit, also dem „ewigen“ Antisemitismus, festgemacht. Die
Zionisten leugnen also, dass der Streit mit den Palästinensern um
Territorium und Ressourcen geht, sondern führen den Konflikt auf die
Verfolgungsgeschichte der Juden zurück, weshalb die Palästinenser in
ihren Augen die „neuen Nazis“ sind. Die jüdische Seite leugnet also die
kolonialen Ursprünge und Verlaufsformen der Gewalt in Palästina und
deutet den Konflikt als Fortsetzung der Geschichte außerhalb
Palästinas, vor allem der Vernichtungspolitik der Nazis.
Ein solches Verständnis des Konfliktes,
das den politischen Gegner zum „ewigen Feind“ erklärt, lässt keine
Versöhnung und keinen Frieden zu. Die Friedensfrage ist für den
Zionismus eng mit dem Problem der Sicherheit verbunden, Sicherheit und
Frieden können aber nur durch militärische Stärke hergestellt werden,
also durch die militärische Kontrolle der „anderen Seite“, was die
absolute militärische Überlegenheit voraussetzt. Das bedeutet aber: Die
totale militärische Kontrolle über Eretz Israel und dessen
„Araber“ muss aufrechterhalten werden. (Ariel Sharon hat über seine
Strategie einmal gesagt: „Sie [die Araber oder Palästinenser] müssen
Angst vor uns haben.“) Tamar Amar Dahl schreibt: „Frieden wird zum
Drang, sich des politischen ‚Feindes‘ zu entledigen, er wird zum Mittel,
die Trennung von ‚den anderen‘ herbeizuführen, um endlich die ersehnte
zionistische Utopie verwirklichen zu können.“
Die Tatsache, dass der Erfolg des
zionistischen Unternehmens mit dem Schwert erkämpft wurde, verdrängen
die Zionisten aber. Kompromisse eingehen, lässt die zionistische
Ideologie nicht zu, denn jedes Zugeständnis könnte als Schwäche gedeutet
werden und der Anfang vom Ende sein. Existenzangst und Isolationsgefühle
sind die Folge. Israel befindet sich deshalb in einer heiklen
politischen Lage. „Die Geschichte steht nicht auf der Seite Israels“,
schreibt die Historikerin. Trotz seiner militärischen Stärke und der
Unterstützung des Westens werde es immer offensichtlicher, dass die
politische Ordnung Israels nicht von Dauer sein könne. Das Festhalten an
den Gründungsmythen, die Angst vor der Auseinandersetzung mit der
eigenen Vergangenheit würden eine tiefsitzende Unsicherheit über die
eigene Zukunft schaffen.
Die Legitimität des Zionismus steht auf
dem Spiel
Ilan
Pappe argumentiert ganz ähnlich. Auch er sieht bei den Israelis eine
tiefsitzende Angst vor der Auseinandersetzung mit der eigenen
Geschichte, vor allem den Ereignissen von 1948 (der Nakba, die er als
eine „ethnische Säuberung“ bezeichnet). Das Eingeständnis des brutalen
Vorgehens der Zionisten gegen die Palästinenser in jener Zeit und später
würde zwangsläufig beunruhigende Fragen nach der moralischen Legitimität
des ganzen zionistischen Projekts aufwerfen. Er schreibt: „Für Israelis
ist es daher von entscheidender Bedeutung, einen starken
Verleumdungsmechanismus aufrechtzuerhalten, der ihnen nicht nur hilft,
die von den Palästinensern in den Friedensverhandlungen gestellten
Forderungen abzuwehren, sondern auch – und vor allem – jede eingehende
Debatte über den Charakter und die moralischen Grundlagen des Zionismus
zu vereiteln.“
Das Zugeben des Unrechts, das man den
Palästinensern angetan hat und noch antut, würde auch bedeuten, die
Palästinenser als Opfer anzuerkennen, was aber den eigenen Opferstatus
beschädigen würde. Das würde aber „moralische und existenzielle
Auswirkungen auf die Psyche israelischer Juden zeitigen: Sie müssten
sich eingestehen, dass sie zum Spiegelbild ihres schlimmsten Alptraums
geworden sind.“
Es versteht sich von selbst, dass Israel,
solange es sich weigert, das Trauma der Palästinenser anzuerkennen,
nicht zu einer Friedenslösung bereit sein kann. Aber Pappe ist
optimistische: „Dabei scheint die Lösung doch recht einfach zu sein: Als
letzte postkoloniale europäische Konklave in der arabischen Welt hat
Israel keine andere Wahl, als sich freiwillig eines Tages in einen
bürgerlichen, demokratischen Staat zu verwandeln.“ Das wäre dann das
Ende des zionistischen Projekts und die Einstaaten-Lösung, in der die
Palästinenser dann volle Gleichberechtigung genießen würden.
„Der Zionismus geht seinem Ende entgegen“
Moshe Zuckermann sieht den Zionismus in
einer tiefen selbstverschuldeten Krise. Diese Ideologie hatte, so
schreibt er, die historische Wahl: entweder einer Zweistaaten-Lösung
zuzustimmen, das heißt der Anerkennung eines von den Palästinensern
errichteten souveränen Staates an der Seite Israels. Die andere
Möglichkeit ist die Errichtung eines binationalen Staates. Diese Lösung
ergibt sich automatisch, wenn die Zweistaaten-Lösung scheitert. Und sie
ist im Grunde schon gescheitert, weil durch Israels Siedlungspolitik
kein Territorium mehr für einen solchen Staat zur Verfügung steht.
In einem binationalen Staat würden Juden
und Palästinenser als gleichwertige Bürger gemeinsam leben. Aber gegen
diese Lösung gibt es in Israel nicht nur großen Widerstand, sie birgt
für den Zionismus auch große Gefahren, weil die Palästinenser in einem
solchen Staat die demographische Mehrheit mit entsprechender politischer
Macht hätten, was die Zionisten aber unter keinen Umständen zulassen
würden. Israel würde dann nicht nur ein Apartheidstaat sein, was er
jetzt schon ist, sondern vermutlich die Diktatur einer jüdischen
Minderheit über eine palästinensische Mehrheit, was wieder selbst der
Westen nicht zulassen könnte.
Zuckermann folgert: „Die Verweigerung der
Zweistaaten-Lösung bedeutet so besehen die Beschleunigung des
historischen Endes des zionistischen Projekts, wie man es bisher gekannt
hat. Nichts führt an dieser Schlussfolgerung vorbei.“ Die realen
politischen Strukturen und Entwicklungen und die ideologischen
Positionen der zionistischen Ideologie stehen also in einem eklatanten,
unversöhnlichen Widerspruch. Die zionistische Elite hat es aber bisher
geschafft, mit allerhand Rationalisierungen – diversen Erklärungen,
Apologien und Ausreden – ihrem Macht- und Herrschaftsanspruch und den
stagnierende „Status quo“ bzw. das Dogma der Alternativlosigkeit zum
gegenwärtigen Zustand zu garantieren. Sie hat es auch geschafft zu
erreichen, dass die israelisch-jüdischen Bürger diesem Kurs mehrheitlich
gefolgt sind und ihn nicht kritisch hinterfragen.
Hinter den Rationalisierungen und
Rechtfertigungen der israelischen Politik macht Zuckermann aber eine
tief liegende Angst aus: „…des Entsetzens vor der Erkenntnis, das
gesamte zionistische Projekt sei einen steilen Abhang hinuntergerollt,
und gerade jene, die seine Fahnen in überbordendem Pathos schwenken,
seine Totengräber seien, Förderer eines historischen Endes.“
Zuckermann stellt immer wieder die Frage,
warum der Zionismus seinen eigenen Untergang betreibt. Warum die
jüdischen Bürger immer wieder Parteien wählen, aus denen Regierungen
gebildet werden, die den Frieden als Realität und als politische
Verwirklichung nicht wollen? Warum widersetzt sich das zionistische
Israel der einzigen Perspektive, die ihm seinen Fortbestand als
zionistischer Staat zu garantieren vermöchte? Zuckermann bleibt die
letzte Antwort auf diese Frage schuldig. Er meint aber, der Zionismus
habe sich „von Grundantrieben anleiten lassen, die der Sicherheit, vor
allem aber der gesicherten Permanenz dieser Heimstätte durchgehend
zuwider wirkten. „Der Zionismus hat sich selbst bzw. seine proklamierten
Ziele nie wirklich ernst genommen. (…) Seine Vision ist ein Märchen
geblieben.“
Zuckermann ist deshalb überzeugt, dass der
Zionismus seinem Untergang entgegengeht. Ob es einen nicht-zionistischen
Neubeginn mit emanzipativem Horizont geben wird oder den Bewohnern
Palästinas der lange Weg einer ruchlosen, faschistisch-repressiven
Degeneration bevorsteht – Zuckermann muss es offenlassen.
Die Befürchtungen und Ängste der Israelis,
die die drei Autoren hier ansprechen, sind ganz offensichtlich in der
israelischen Bevölkerung weit verbreitet. Umfragen in der letzten Zeit
haben ergeben, dass die Mehrheit der Israelis äußerst unsicher ist, was
die Zukunft ihres Staates angeht. Einen wirklich unbelasteten, offenen
und optimistischen Blick in die Zukunft gibt es danach im zionistischen
Staat nicht. Es hängen ganz offensichtlich dunkle Wolken über dem
Zionismus.
Literatur
Amar-Dahl,
Tamar: Das zionistische Israel. Jüdischer Nationalismus und die
Geschichte des Nahost-Konflikts, Paderborn 2012
Beit-Hallahmi,
Benjamin: Original sins. Reflections on the history of Zionism, London
1992
Ha’am,
Ahad: Truth from Eretz Israel, 1891 (Die Ausführungen Ahad Ha’ams werden
ausführlich in dem Buch von Adam Shatz:
Prophets Outcast.
A Century of Dissident Jewish Writing
about Zionism an Israel,
New York 2004 aufgeführt)
Hollstein,
Walter: Kein Frieden um Israel. Zur Sozialgeschichte des
Palästina-Konflikts, Wien 1984
Pappe, Ilan: Die ethnische Säuberung
Palästinas, Frankfurt/ Main 2007
Zuckermann, Moshe: Israels Schicksal. Wie
der Zionismus seinen Untergang betreibt, Wien 2014
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