Israel steht
unter schwerem Verdacht
Arn Strohmeyer
Also doch, alles
deutet darauf hin, dass Jassir
Arafat ermordet wurde. Zwar
fehlt noch das Ergebnis der
französischen und russischen
Untersuchung, aber die Arbeit
der Schweizer Experten legt die
Gewissheit nahe, dass der
Palästinenserführer keines
natürlichen Todes gestorben ist.
Da sind Spekulationen nun Tür
und Tor geöffnet: Wer hat den
Mord befohlen und wer hat ihn
ausgeführt? Dass der
Hauptverdacht auf Israel fällt,
ergibt sich aus vielen
Anhaltspunkten. Es ist kein
Geheimnis, dass dieser Staat
seine Widersacher und Feinde
gnadenlos exekutiert. Dutzende,
wenn nicht Hunderte von
Palästinenserführern oder
Mitglieder der palästinensischen
Elite wurden auf diese Weise
liquidiert. Ehemalige
Geheimdienstchefs rühmen sich
sogar dieser Praxis und ihrer
„Erfolge“. Wobei die Israelis
zwischen „lauten“ und „leisen“
Exekutionen unterscheiden.
Erstere werden unter strengster
Abschirmung und Geheimhaltung
durchgeführt, sie sollen unter
keinen Umständen mit dem
jüdischen Staat in Verbindung
gebracht werden. Die „lauten“
werden in aller Öffentlichkeit
vollstreckt und sollen Angst und
Schrecken verbreiten.
Israel
wird auch durch ein eher
technisches Argument belastet:
Polonium kann man nicht im
nächsten Laden oder im
Supermarkt um die Ecke kaufen.
Es gehört eine hoch komplizierte
nuklear-technische Infrastruktur
dazu, dieses äußerst giftige
Material herzustellen. Für die
Atommacht Israel ist dies ein
Leichtes, die Palästinenser sind
dazu sicher nicht in der Lage.
Natürlich hatte Arafat auch im
eigenen Lager Feinde, die an
seinem Tod interessiert waren,
sie könnten aber bestenfalls
Beihilfe zum Mord am dem
Palästinenserführer geleistet
haben. Dazu kommt ein weiteres
Argument, das für Israels
Beteiligung spricht: Arafat
musste die letzten Monate seines
Lebens im Belagerungszustand
durch die israelische Armee in
seiner Residenz – der Mukata in
Ramallah– verbringen. Er war
vollständig abgeriegelt und
isoliert. Alles was ihn an
Lebensmitteln und anderen Gütern
erreichte, ging durch die
israelische Militär-Kontrolle.
Zudem gibt es
einige klare Hinweise, dass
Israel vorhatte, Arafat zu
beseitigen. Nachdem Israel mit
ihm in den 90er Jahren die
Oslo-Verträge ausgehandelt
hatte, war er nach der Ablehnung
der ihm von Israel und den USA
auf der Konferenz von Camp David
im Jahr 2000 vorgelegten
„Friedensregelung“ zur absoluten
Unperson geworden. Arafat hatte
ausgedient. Er wurde nun von
Israel für alles verantwortlich
gemacht, die zweite Intifada,
die Aktionen sämtlicher
militanten Gruppen von der Hamas
bis zu Islamischen Jihad und der
Hisbollah. Für Israels
Propaganda personifizierte sich
in Arafat der „Terror“
schlechthin. Dass der damalige
israelische Regierungschef Ariel
Sharon bisweilen auch laut über
die Beseitigung Arafats
nachdachte, ist kein Geheimnis.
Nach einer Pressekonferenz
zusammen mit dem
Oberbefehlshaber der
israelischen Armee glaubte man
wohl, die Mikrofone seien
abgeschaltet. Der General sagt
zu Sharon: „Wir müssen Arafat
beseitigen.“ Der Regierungschef
antwortete: „Ja, ich weiß.“ (Von
dem Vorgang existiert ein
Video.) Später äußerte Sharon
öffentlich, er fühle sich von
dem Versprechen befreit, Arafat
nichts anzutun.
Auch kritische
Israelis glauben daran, dass
Israel den Mord initiiert hat.
So schrieb der Friedensaktivist
und Publizist Uri Avnery 2004:
„Als ich damals von Arafats
Begräbnis zurückkam, traf ich
Jamal Zahalka, ein Mitglied der
Knesset. Zahalka, ein studierter
Pharmakologe, antwortete auf
meine Frage, ob es Mord gewesen
sei, ohne zu zögern: ‚Ja!‘ Das
war auch mein Gefühl. Aber ein
Verdacht ist noch kein Beweis.
Vor kurzem bekamen wir eine Art
Bestätigung.“ Kurz bevor er
starb, veröffentlichte Uri Dan,
ein seit fast 50 Jahren loyales
Sprachrohr Ariel Sharons, in
Frankreich ein Buch. Darin
schreibt er von einem Gespräch,
das Sharon mit US-Präsident Bush
gehabt habe. Sharon habe ihn
dabei um die Erlaubnis gebeten,
Arafat umbringen zu lassen und
Bush habe sie ihm unter dem
Vorbehalt gegeben, dass es in
einer Weise geschehen müsse, die
nicht nachgewiesen werden könne.
Als Dan später Sharon fragte, ob
es denn so geschehen sei, habe
er geantwortet: ‚Darüber soll
man lieber nicht reden.‘ Dan
nahm dies als Bestätigung.“
Soweit der israelische Publizist
Uri Avnery. Die Mordthese
vertritt auch der
französisch-israelische Autor
Ammon Kapeliouk in seiner
Arafat-Biografie.
Der letzte Beweis
für die These, dass Israel
hinter dem Mord steckt, ist noch
nicht erbracht. Vielleicht wird
dieses „Jahrhundertverbrechen“
auch nie endgültig aufgeklärt.
Aber der Verdacht allein, der
auf Israel fällt, wiegt schwer.
Was die Israelis zur Zeit an
Argumenten zu ihrer Entlastung
vorbringen, klingt wenig
überzeugend. Denn eine
„Seifenoper“ war der mutmaßliche
Mord an dem Palästinenserführer
mit Sicherheit nicht, eher ein
weiterer Schritt, der die
nahöstliche Region dem Abgrund
näher bringt. Denn er würde
belegen, dass im Nahen Osten –
und nicht nur dort – die Gesetze
des Dschungels herrschen. Es ist
ja üblich geworden, dass
westliche Regierungen (und dazu
gehört auch Israel) im Krieg
gegen mutmaßliche Terroristen,
aber auch gegen vermeintliche
Feinde außerhalb ihrer Grenzen
Todesurteile fällen und
Hinrichtungen vollziehen, die
von den Armeen und
Geheimdiensten vollstreckt
werden. „Kollateralschäden“,
also Todesfälle bei völlig
unschuldigen Menschen werden
dabei zynisch in Kauf genommen.
Nach der Werteordnung des
Westens hat eigentlich jeder
Beschuldigte in einem fairen
Prozess das Recht, sich zu
verteidigen. Aber die
gegenwärtige weltweite Praxis
der Liquidierungen beweist, dass
auf dem Globus das gnadenlose
Recht des Stärkeren und
Mächtigeren herrscht und nicht
eine zivilisierte Rechtsordnung.