Von der Unterdrückung
Israel-kritischer Positionen kein Wort
Wie der SPIEGEL mit dem Thema
Meinungsfreiheit in Deutschland umgeht
Arn Strohmeyer - 4.11.2019
Der
SPIEGEL verstand sich einst – unter seinem
Gründer Rudolf Augstein – als „Flaggschiff der
Aufklärung“. Lange ist’s her! In der Tat hatte
dieses Magazin wichtige investigative Beiträge
zur Aufdeckung politischer Skandale und damit
zur politischen Kultur der Bundesrepublik
geleistet. Und was den Nahen Osten angeht: 1982
konnte der SPIEGEL-Redakteur Siegfried
Kogelfranz eine sehr Zionismus-kritische Serie
über die Geschichte und das Schicksal der
Palästinenser mit dem Titel „Geschlagen,
vertrieben, verraten“ dort veröffentlichen. Und
der Schulfreund von Rudolf Augstein, der
israelische Publizist Uri Avnery, kam mit
kritischen Beiträgen zur israelischen Politik
immer wieder zu Wort. Solche Beiträge sind heute
undenkbar. Das Damoklesschwert des
Antisemitismus-Vorwurfs hängt offenbar drohend
über der Redaktion, sodass eine wirklich
kritische Auseinandersetzung mit dem Vorgehen
des Zionismus im Nahen Osten gar nicht mehr
möglich ist.
Jürgen Todenhöfer schreibt in seinem letzten
Buch „Die große Heuchelei. Wie Politik und
Medien unsere Werte verraten“ über dieses
Nachrichten-Magazin: „Auch der einst große
SPIEGEL ist kein Leuchtturm der freien Presse
mehr. Nicht erst seit dem Fall ‚Relotius‘ [des
Reporters, der sich Fantasiegeschichten
ausdachte]. Obwohl in manchen Ressorts immer
noch großartige Journalisten schreiben. Der
SPIEGEL, über den man früher so kräftig streiten
konnte, den man hassen und lieben konnte,
schwimmt heute in fast peinlicher Weise dem
Zeitgeist hinterher. In manchen Fragen, die ich
einigermaßen gut beurteilen kann, in der
Syrienfrage etwa, lag und liegt er so sehr
daneben, dass er einem fast leidtun kann.“
Ein Musterbeispiel für diesen Vorwurf liefert
das Magazin in seiner jüngsten Ausgabe, dessen
Titelgeschichte das Thema Meinungsfreiheit
behandelt. Dazu gäbe es in der Tat im
Deutschland des Jahres 2019 einiges zu sagen.
Interessant sind denn auch Umfrageergebnisse,
die da aufgeführt werden: dass sich 75 Prozent
befragter Autoren und Journalisten zur Situation
der freien Meinungsäußerung in Deutschland
besorgt geäußert haben (Umfrage des
PEN-Zentrums), und 55 Prozent der Bürger/innen
meinen, es gebe in Deutschland eine
Meinungsdiktatur. (Umfrage der
Friedrich-Ebert-Stiftung)
Der SPIEGEL tritt gleich selbst den Beweis für
diese sehr berechtigten Befürchtungen einer
Mehrheit in der Bevölkerung an. Denn die
Titelgeschichte des Magazins über die
Meinungsfreiheit bezieht sich so gut wie
ausschließlich auf die Fälle Bernd Lucke, Thomas
de Maizière und Christian Lindner sowie einige
Ausfälle der AfD. In allen drei Fällen hatte es
Störungen von deren Vorlesungen bzw. Vorträgen
gegeben. Reichen diese Vorfälle aus, um gleich
die Meinungsfreiheit in Deutschland in Gefahr zu
sehen? Für Zeitgenossen, die noch die 1968er
Jahre miterlebt haben, war dies nun wirklich ein
„Vogelschiss“, man muss aber auch dazu sagen,
dass die Studenten damals das Meinungsspektrum
der deutschen Gesellschaft mit ihren
Provokationen nicht eingeengt, sondern
beträchtlich erweitert haben.
Der SPIEGEL schafft es aber, den Fall, an dem
sich die Gefährdung der Meinungsfreiheit
(Artikel 5 Absatz 1 des Grundgesetzes) am
deutlichsten zeigt, mit keinem Wort zu erwähnen:
die offene und ungehinderte Diskussion über die
völker- und menschenrechtswidrige Politik
Israels gegenüber den Palästinensern, das
deutsche Verhältnis zu diesem Staat und die
damit eng zusammenhängende Frage des
Antisemitismus. Veranstalter, die Kritikern der
israelischen Position das Wort geben wollen,
haben kaum noch die Chance, Räume oder Säle
anzumieten. Und wenn sie eine Zusage haben, wird
der Druck der Israel-Lobbygruppen so groß, dass
Absagen und Raumverbote die unmittelbare Folge
sind. Staatliche Bürokraten tun sich hier
besonders hervor. Über 70 Veranstaltungen sind
solchen inquisitorischen Maßnahmen in letzter
Zeit schon zum Opfer gefallen. Besonders apart
angesichts der deutschen Geschichte ist das
Faktum, dass auch kritische Juden bzw. Israelis
von diesen antidemokratischen Maßnahmen – also
Redeverboten – betroffen sind. Die Städte
Frankfurt und München haben sich hier besonders
hervorgetan.
Deutsche maßen sich also an, Juden, die sich
Sorgen um den Staat Israel machen, die sich
deshalb kritisch mit der Politik dieses Staates
auseinandersetzen und die Einhaltung von
Menschenrechten und Völkerrecht für die
Palästinenser einfordern, in
Antisemitismus-Verdacht zu bringen und das
öffentliche Sprechen zu verbieten. Nur dem
Einspruch couragierter Richter ist es zu
verdanken, dass auf dem Rechtsweg inzwischen
Saalverbote zurückgenommen werden mussten.
Dennoch: Was für ein Trauerspiel für die
deutsche Demokratie, für das die Regierenden in
Berlin mit ihrer devoten Politik gegenüber
Israel, die jetzt im Bundestagsbeschluss zu BDS
ihren peinlichen Höhepunkt erlebte, die
Verantwortung tragen. Und dem führenden
deutschen Nachrichtenmagazin ist dieser
Tatbestand in seiner Titelgeschichte über
Meinungsfreiheit in diesem Land kein einziges
Wort wert. Ja, der SPIEGEL kommt sogar zu dem
Ergebnis: „Das also ist die gute Nachricht: Die
Meinungsfreiheit ist weiterhin intakt, die
Grundrechte sind gesichert und werden sogar
gegen kleineste Angriffe verteidigt.“ Also:
Alles in Ordnung! In welchem Land lebt und
arbeitet die SPIEGEL-Redaktion eigentlich? Man
muss aber dazu sagen, die hier vorgebrachte
Kritik gilt nicht nur für dieses Magazin,
sondern fast ausnahmslos für die ganze deutsche
Medienlandschaft, die die Tabuisierung jeder
Israel-Kritik mitmacht.
Wenigstens einen guten Gedanken enthält der
SPIEGEL-Bericht: Wenn eine Gesellschaft zu große
Rücksichten auf bestimmte Sensibilitäten nehme,
schaffe sie Probleme. Der Druck des öffentlich
Unausgesprochenen könne dann wie in einem
Dampfkessel steigen und sich schließlich
entladen. Das könne auch hierzulande geschehen,
wenn ein für die Gesellschaft wichtiges Problem
nicht auf guter und sicherer
Informationsgrundlage in offener Diskussion
abgehandelt werde. Diese Sätze treffen sehr gut
auf die Problematik des deutschen Verhältnisses
zu Israel und die hier verbreitete
Antisemitismus-Hysterie zu. Aber sie stammen
nicht von einem SPIEGEL-Redakteur, sondern von
dem britischen Historiker Garton Ash und
beziehen sich auch gar nicht auf das deutsche
Verhältnis zu Juden, sondern auf Thilo Sarrazins
Äußerungen zu Muslimen.
Das Wort von der Lügenpresse macht immer noch
die Runde. Der Politologe und Betreiber eines
medienkritischen Blogs, Professor Ulrich Teusch,
lehnt den Begriff „Lügenpresse“ aber mit Recht
ab und spricht vielmehr von einer
„Lückenpresse“. Die „Lücken“ sind für ihn das
eigentliche Problem der heutigen Medienwelt. Er
konkretisiert seine Kritik: Lücken entstehen,
wenn bestimmte Nachrichten und Fakten regelrecht
und ganz gezielt unterdrückt werden. Der Begriff
bezieht sich aber auch auf die Bewertung von
Nachrichten. Soll heißen: Die eine Nachricht
wird künstlich hochgespielt, die andere wird
irgendwo gemeldet, aber bewusst unten gehalten
oder sogar weggelassen. Entscheidend ist auch
der Kontext, in dem Nachrichten erscheinen: Die
eine Nachricht wird tendenziös eingebettet, mit
einem „spin“ versehen, die andere aber nicht.
All diese Mechanismen verstärken sich
wechselseitig, und wenn sie regelmäßig auftreten
oder sich bei bestimmten Themen zu einem
flächendeckenden Phänomen anwachsen, entstehen
Narrative, also große journalistische
Deutungsmuster oder Erzählungen. In diese
Narrative werden dann alle neu einlaufenden
Informationen eingeordnet. Wenn sie ins Narrativ
passen, ist ihnen Aufmerksamkeit gewiss, falls
nicht, trifft sie das Lückenschicksal. Teusch
weist auf die Gefahren solcher Narrative hin:
„Dass Journalisten solche Narrative bedienen,
halte ich für absolut inakzeptabel und
indiskutabel.“ Ein Journalismus, der sich
Narrativen fügt, ist ein Widerspruch in sich
selbst. Er kann schlimme Folgen haben. Aber
natürlich erfordert es Courage, sich einem
dominanten Narrativ zu widersetzen, womit das
Thema Selbstzensur angesprochen ist. Als
weiteres Kriterium für die Vertrauenskrise der
Medien führt Teusch die „doppelten Standards“
an. Das heißt: Nachrichten werden in
tendenziöser Weise bewertet, es wird also mit
zweierlei Maß dabei gemessen. Alle diese
Merkmale hängen eng miteinander zusammen und
verstärken sich wechselseitig. Zudem kommen
diese Phänomene nicht zufällig zustande, sondern
sind strukturell verankert und natürlich
interessengeleitet.
Angesichts von solchen „Lücken“ in der
SPIEGEL-Titelgeschichte muss man als Ergänzung
noch einmal Jürgen Todenhöfer zitieren: „Zu oft
sehen sich unsere Medien als Verbündete der
Mächtigen. Sie decken deren Heuchelei, statt sie
zu enttarnen. Wenn sich das nicht ändert, werden
die Menschen ihre Informationen noch häufiger
jenseits der klassischen Medien suchen. Die
klassischen Medien schaffen sich dadurch selbst
ab.“