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Treueschwüre für einen
Besatzerstaat
Staatsgäste aus 50 Ländern gedenken in
Jerusalem der Holocaust-Opfer
Warum Widerspruch unbedingt angebracht ist
Arn Strohmeyer - 22.01.2020
Anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung des
deutschen Vernichtungslagers Auschwitz an das
Menschheitsverbrechen Holocaust zu erinnern, ist
eigentlich ein selbstverständliches moralisches
Gebot, allerdings sollte das Gedenken an dieses
Menschheitsverbrechen nicht routinemäßig
ausschließlich an Jahrestage gebunden sein. Die
volle Wahrheit über dieses Mega-Verbrechen ist
vermutlich zu schrecklich, als dass es
vollständig in das Bewusstsein der Menschen
eindringen könnte. Jeder Fluchtversuch vor der
Wahrheit dieses Verbrechens ist aber zum
Scheitern verurteilt. Deshalb kann es keinen
Schlussstrich geben. Nur eine offene und
schonungslose Betrachtung der eigenen Geschichte
kann von ihr frei und zukunftsfähig machen.
Ist das aber die Absicht der über 50
hochrangigen Staatsgäste aus über 50 Ländern,
die sich zur Zeit in Jerusalem versammeln, um
des Holocaust zu gedenken, dem Millionen
Menschen zum Opfer gefallen sind?
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat
schon verlauten lassen, was er in der
Gedenkstätte Yad Vashem sagen wird: Er will die
bleibende Verantwortung Deutschlands für den
millionenfachen Mord an Juden zum Ausdruck
bringen; die Lehre aus dem Holocaust müsse eine
bessere Gegenwart und Zukunft gestalten; das
Gedenken dürfe sich nicht in der schlichten
Wiederholung des „Wir haben verstanden“
erschöpfen; und schließlich will der
Bundespräsident ein Bekenntnis zur
unverbrüchlichen Solidarität zum Staat Israel
und seinen Menschen ablegen.
Das übliche Ritual also, hundert und tausendfach
von deutschen Politikern wiederholt. Und deshalb
stellen sich genau an diesem Punkt die vielen
kritischen Abers ein, die Widerspruch gegen das
Gedenken, wie es zur Zeit in Jerusalem
stattfindet, unbedingt notwendig machen. Dieser
Widerspruch kommt gerade auch von jüdischer
Seite, er soll hier zu Wort kommen.
Zunächst: Warum erinnert man bei solchen
Gelegenheiten wie jetzt in Jerusalem nur an die
ermordeten Juden? Der israelische Historiker
Shlomo Sand hat in Israel immer wieder jüdische
Israelis die Frage gestellt: „Wie viele Menschen
haben die Nazis in den Konzentrations- und
Vernichtungslagern sowie in weniger geordneten
Massakern ermordet?“ Die immer gleiche Antwort
habe gelautet; sechs Millionen. Sand hielt dem
entgegen, er meine Menschen insgesamt und nicht
allein Juden. Darauf hätten die meisten
Befragten keine Antwort gewusst. Sand selbst
gibt sie: „Es waren elf Millionen ermordete
Menschen. Doch diese Zahl der zivilen Opfer
wurde gänzlich aus dem kollektiven Gedächtnis
des Westens gelöscht.“
Als Ursache für diese Merkwürdigkeit, dass der
Tod von fünf Millionen Menschen gar nicht
stattgefunden haben soll, gibt Sand an: „Vom
letzten Viertel des 20. Jahrhunderts an
verschwinden beinahe alle Opfer, die von den
Nazis nicht als ‚Semiten‘ bezeichnet wurden. Der
industrielle Mord wurde ausschließlich zur
jüdischen Tragödie. Die westliche Erinnerung an
die Konzentrations- und Vernichtungslager
entledigte sich fast gänzlich aller anderen
Opfer, darunter geistig Behinderte, Sinti und
Roma, Angehörige des kommunistischen und
sozialistischen Untergrunds, Zeugen Jehovas,
polnische Intellektuelle und sowjetische
Kommissare und Offiziere. Bis auf die
Homosexuellen vielleicht wurden all jene, die
die Nazis parallel zur systematischen Ermordung
der Juden austilgten, durch die hegemonialen
Erinnerungsnetzwerke ein weiteres Mal gelöscht.“
Sand fragt, wie es dazu kommen konnte und gibt
die Antwort: „Der zionistisch-jüdischen Politik
genügte es nicht, dass die Erinnerung im
westlichen Bewusstsein eingeschrieben war; sie
beanspruchte Einzigartigkeit, Exklusivität und
die nationale Verfügungsgewalt über den Schmerz.
Damals begann, was zu Recht als
‚Holocaust-Industrie‘ bezeichnet wird: Diese war
darauf aus, das Leiden der Vergangenheit zu
maximieren und aus ihm so viel Prestige und
sogar wirtschaftliches Kapital zu schlagen wie
nur möglich. Deshalb wurden nach und nach fast
alle anderen Opfer ausgeblendet und der Genozid
geriet zu einer ausschließlich jüdischen
Angelegenheit.“
Aus dieser Erinnerungskonstruktion ergibt sich
ein zweites große Aber. Der israelische
Sozialwissenschaftler und Philosoph Moshe
Zuckermann sieht ein wirkliches Gedenken an die
Opfer des Holocaust nur dann als gegeben an,
wenn es der historische Opfer dieses
Mega-Verbrechens „im Stande ihres Opferseins zu
gedenken bestrebt ist“. Aufgabe wirklichen
Erinnerns sei es außerdem, politische und
ökonomische Bedingungen zu schaffen, die eine
Wiederholung von jeder Form der Gewalt und
Unterdrückung von Menschen unmöglich macht.
Zuckermann sieht dies in der israelischen
Holocaust-Erinnerung aber gerade nicht als
gegeben an. Das zionistische Israel maße sich
selbst den Opferstatus an, womit es den Begriff
des Täter-Opfer-Verhältnisses auf das
Schändlichste entleere oder sogar verkehre.
Zuckermann sieht darin eine unerträgliche, ja
„perfide“ Instrumentalisierung des Holocaust:
„Um die Politik barbarischer Unterdrückung und
fortwährender Menschenrechtsverletzungen zu
verteidigen [er meint hier Israels Politik
gegenüber den Palästinensern] werden die Opfer
der ultimativen Barbarei [die Opfer des
Holocaust] herangezogen, so als liege in ihrer
Vernichtung das Vermächtnis, den Staat der Juden
(wie er sich selbst sieht) zum Sachwalter
barbarischer Gewalt, moralischer Repression und
menschenverachtender Politik werden zu lassen.“
Israel instrumentalisiert und ideologisiert also
Zuckermann zufolge den Holocaust, um die
Gründung des Staates, seine staatliche Existenz
und die Unterdrückung der Palästinenser zu
rechtfertigen. Er wirft dem Staat Israel deshalb
sogar „Verrat“ an den Opfern des Holocaust vor:
„Wer das nicht sieht, dass Israel sich einer
Praxis verschrieben hat, die zwangsläufig immer
mehr Opfer hervorbringt, begeht Verrat an den
Opfern Israels, und insofern er den Oppressor
Israel im Namen der historischen Opfer des
Nazismus in Schutz nimmt, begeht er Verrat an
den historischen Opfern. Denn er hat nicht das
historische Wesen von Tätern im Stande ihres
Täterseins und von Opfern im Stande ihres
Opferseins erfasst, sondern lässt stattdessen
das zum Täterland verkommene Israel im falschen,
von Grund auf ideologisierten Bild des Landes
der Shoa-Opfer aufgehen. (...) Dabei handelt es
sich um eine hohle Projektion, welche nichts mit
dem Gedenken der Shoa-Opfer, nichts mit den
israelischen Shoa-Überlebenden und schon gar
nichts mit den Opfern des Staates Israel, den
Palästinensern zu tun hat.“
Die Ideologisierung des Holocaust durch Israel
hat, so Zuckermann, noch eine andere bedenkliche
Folge, die er so beschreibt: „Nicht nur bediente
man [Israel] sich dem Ausland gegenüber der ‚Shoa‘
als Argument für die (zumeist manipulative,
allemal heteronome) Durchsetzung politischer,
diplomatischer sowie militärischer und
ökonomischer Ziele, auch im innerisraelischen
Diskurs musste die ‚Shoa‘ als erbärmliche
Pathosformel zur Förderung jedes nur
erdenklichen Partikularinteresses herhalten.
Nicht übertrieben ist die Behauptung, dass
nirgends auf der Welt die Banalisierung der Shoa,
mitunter ihre Trivialisierung durch inflationäre
Verwendung in einer hanebüchenen Alltagsrhetorik
so unverhohlen skrupellos betrieben wird, wie in
dem Land, das die Einzigartigkeit, mithin die
Unvergleichbarkeit der Shoa auf seine
staatsoffiziellen Gedenkfahnen geschrieben hat.“
Ganz ähnlich argumentiert der
amerikanisch-jüdische Politologe Norman G.
Finkelstein. Der Holocaust werde von Israel zur
„perfekten Waffe“ geschmiedet, die dazu diene,
jede Kritik an der Politik dieses Staates
abzuwehren. Diese Instrumentalisierung des
monströsen Verbrechens verschaffe Israel
moralisches Kapital und einen umfassenden
Freibrief für sein politisches Handeln – gerade
auch gegenüber den Palästinensern. Aus der
Berufung auf den Holocaust leite Israel das
uneingeschränkte Recht ab, sich zu schützen, wie
es ihm beliebt: Ihm ist alles erlaubt.
Menschenrechte und Völkerrecht spielen da keine
Rolle. Alles ist „Selbstverteidigung“.
Die Gedenkstätte Yad Vashem, in der zur Zeit die
hohen Staatsgäste Israel ihre Reverenz erweisen,
ist das Symbol für das israelisch-zionistische
Verständnis des Holocaust, das rein
partikularistisch ist, sich also nur auf Juden
bezieht. Der jüdische Autor Abraham Burg, der
selbst Sohn von Holocaustüberlebenden ist und
als Präsident der Jewish Agency und Sprecher der
Knesset hohe Positionen in der zionistischen
Hierarchie bekleidet hat, schreibt fast mit
Verachtung über diesen Ort: „Für offizielle
Gäste ist in Israel der Besuch von Yad Vashem,
der bedeutendsten Shoa-Gedenkstätte des Landes,
obligatorisch. Jede Nation hat ein Denkmal für
den unbekannten Soldaten, meist dargestellt
durch einen einzelnen. Wir haben eine
Gedenkstätte für alle Opfer, für uns alle, und
sämtliche Besucher müssen kommen und mit uns
trauern. Das ist ein Ritual der neuen
israelischen Religion. Staatsgäste landen auf
dem Ben-Gurion-Airport, fahren kurz ins Hotel,
um sich frisch zu machen, einen schwarzen Anzug,
eine Krawatte und vielleicht ein große Samtkäppi
wie ein Rabbiner oder Kardinal anzuziehen und
werden dann nach Yad Vashem in Jerusalem
gebracht. Ernste Miene, ein Blumenstrauß in der
Hand, gesenkter Kopf. Ein Kantor singt das Gebet
für die Verstorbenen ‚Gott voller Gnade‘. Drei
Schritte rückwärts, dann steigen alle in ihre
Limousinen und kommen zum Eigentlichen, zu
Politik und Diplomatie. Von Zeit zu Zeit taucht
ein besonders interessanter Gast auf, dessen
Rede vorübergehend Aufmerksamkeit erregt und
Blitzlichter aufflammen lässt. Dabei mag es sich
um einen deutschen Bundespräsidenten oder das
Oberhaupt eine Staates handeln, der mit den
Nazis kollaboriert hat. Yad Vashem ist das
Schaufenster und das Tor zum israelischen
Erleben.“
Burg fügt dieser Beschreibung hinzu: „Heute ist
Yad Vashem das größte Monument nationaler
Ohnmacht, ein Denkmal der moralischen Taub- und
Stumpfheit gegenüber anderen, die
Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem ist der Pfahl,
an den wir unsere Gäste stellen, um ihnen unsere
exklusiven Shoa-Werte einzutrichtern.“ Burg
schlägt vor, diesem Ort und seinen Gebäuden
einen völlig anderen, eben universalistischen
Charakter zu geben. Auf dem Geländer dieser
Gedenkstätte sollte der internationale
Strafgerichtshof für Menschenrechte seinen Sitz
haben. Das Museum soll nicht mehr allein
partikularistisch an die jüdischen Opfer des
Holocaust erinnern, sondern soll eine
Gedenkstätte allen menschlichen Unrechts sein,
egal wo es stattfindet und wer auch immer es
begeht. Es müsse ein Ort werden, der die Potenz
des Kampfes gegen jede Gewalt ausstrahle, wo
immer sie herrsche.
Eine wunderbare Vision, aber sie wird im
zionistischen Israel mit Sicherheit nicht zu
realisieren sein. Und die 50 in Jerusalem zur
Zeit versammelten hohen Staatsgäste werden auch
kein Interesse zeigen, Burgs Idee die nötige
Anerkennung zu zollen. Man wird viele schöne
Reden halten, die alle folgenlos bleiben. Außer
Treueschwüren zu Israel und Spesen nichts
gewesen!
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