Die absurde Apartheidsituation in
Hebron mit den Augen einer
Künstlerin gesehen
Die 14. Documenta in Athen (und
Kassel) räumt den Fotografien der
Palästinenserin Ahlam Shibli großen
Raum ein
Arn Strohmeyer
Die
14. Documenta ist zwischen den
beiden Städten Athen und Kassel
aufgeteilt. Der aus Polen stammende
Kurator Adam Szymczyk hat ganz
bewusst eine sehr politische
Ausstellung gestaltet, was auch gar
nicht anders möglich ist in einer
Stadt wie Athen – dem Ort der
ultimativen Krise , in dem
Schuldenlast, Arbeitslosigkeit,
wachsende Armut, politische
Instabilität und immer noch
drohender EU-Austritt die
Alltagsrealität sind. Szymzyk hat
selbst als junger Mann in seiner
Heimat die Demokratie- und
Freiheitsbewegung miterlebt –
Ereignisse, die auch sein
Verständnis von Kunst stark
beeinflusst haben: Sie ist für ihn
die „Möglichkeit, Freiheit zu
finden“.
In diesem Sinne ist die Documenta
für ihn ein Instrument, um mit Hilfe
der Kunst in einer sich durch Krieg,
Finanzkrisen, Flüchtlingsdramen und
Rechtsruck zuspitzenden Wirklichkeit
Perspektiven aufzuzeigen. Szymczyk
lockt der „Ausnahmezustand“, den er
als Chance zum Aufbruch zu etwas
ganz Neuem sieht. Ohne Kritik an den
Zuständen einer Welt, die die
Widersprüche des Kapitalismus
erzeugt haben und weiter erzeugen,
geht das aber nicht. Hier ist eben
auch das kritische und
aufklärerische Element der Kunst
gefragt.
Bei einer solchen Sicht auf die Welt
drängt sich eine künstlerische
Stellungnahme zum Palästina-Konflikt
geradezu auf: ein anachronistischer
Siedlerkolonialismus unterdrückt
seit Jahrzehnten ein ganzes
indigenes Volk, um für sich selbst
„Lebensraum“ zu schaffen, den er dem
ursprünglich dort lebenden Volk
verweigert. Der permanente
„Ausnahmezustand“ ist hier gegeben
und ebenso der Kampf um die
Freiheit, der für die Palästinenser
zunächst ein Kampf ums nackte
Überleben ist, dann aber auch ein
Kampf um die nationale Befreiung.
Fotos zum Vergrößern
anklicken.
Die
Macher der Documenta haben diesem
Thema breiten Raum gegeben – im
wörtlichen Sinne, denn die
palästinensische Fotografin Ahlam
Shibli (Jahrgang 1970) hat im
Athener „Museum für zeitgenössische
Kunst“ (und hoffentlich auch in
Kassel) einen ganzen Raum für die
Präsentation ihrer Fotos von der
Apartheidsituation in Hebron
erhalten. Die Bilder geben die
furchtbare, weil so abgrundtief
inhumane Realität in dieser großen
arabischen Stadt wider, die mit
Unterstützung der israelischen Armee
von wenigen hundert fanatischen
jüdisch-religiösen Siedlern
terrorisiert wird.
Ahlam Shiblis Fotos tun das auf eine
sehr direkte und dennoch nicht platt
vordergründige, eher zurückhaltende
Weise. Sie schafft es, kritische
Distanziertheit und emphathische
Anteilnahme zugleich zu zeigen. Sie
praktiziert einen Stil der
„dokumentarischen Ästhetik“, bei dem
sie ihr Hauptthema aber nie aus den
Augen verliert: den Verlust, den ihr
Volk durch den israelischen
Siedlerkolonialismus erlitten hat –
den Verlust des „zu-Hause-sein“ zu
können. Und ihre Bilder schildern
den Kampf gegen diesen Verlust, die
Entwurzelung, Diskriminierung und
die soziale Ausgrenzung. Es gelingt
ihr, die Schrecken der Wirklichkeit
in Hebron auf eine allgemeinere
Ebene zu heben und so die Wirkung
noch zu erhöhen. Genau dadurch
werden ihre Fotos zu ganz
eigenständigen Kunstwerken, die man
natürlich nur als Ganzes sehen muss,
denn sie sind nur im politischen
Gesamtzusammenhang verständlich. Die
Brutalität der israelischen
Besatzung und das Elend der
palästinensischen Bevölkerung sind
in Hebron wie in einem Brennglas
konzentriert.
In einem Documenta-Statement zu
diesen Bildern heißt es: „Neben
anderem protokollieren diese Fotos
die Zeichen einer verwirrenden
doppelten Umkehrung. Auf der einen
Seite zeigen sie, wie die Siedler
das Land der Palästinenser besetzen
und sie so daran hindern, ihr
Eigentum zu nutzen. Gleichzeitig
schränken die Siedler die
Bewegungsfreiheit der Palästinenser
ein, schaffen so aber auch einen
gefängnisartigen Raum für sie
selbst. Auf der anderen Seite nutzen
die Palästinenser die ‚hardware‘ der
Abriegelung, die die Besetzung ihnen
auferlegt – etwa Metallplatten,
rasiermesserscharfer Stacheldraht,
mit Zement gefüllte Fässer, Mauern
und Zäune sowie Gitternetze usw. – ,
aber auch, um ihre eigenen
öffentlichen Räume und ihre Häuser
zu schützen, als ob die Besatzung es
erfolgreich geschafft hätte, sich
selbst zu besetzen.“
Ahlam Shiblis Fotos zeigen viele der
Total-Absurditäten, die die
israelischen Besatzung für die
arabischen Menschen in dieser Stadt
geschaffen hat und die so große
Leiden für sie bedeuten: die Mauern
und die Checkpoints, die die
Palästinenser daran hindern,
bestimmte
Straßen zu betreten, in denen ihre
Läden und Werkstätten liegen;
Straßen, die nur Juden betreten bzw.
befahren dürfen; die Metallgitter,
die die palästinensischen Familien
um ihre Höfe und darüber errichtet
haben, um sich vor dem schikanösem
Steinewerfen und Müllabladen der
Siedler zu schützen; das Haus, das
eine palästinensische Familie
verlassen musste, weil sie sich vor
den Attacken der Siedler nicht mehr
sicher fühlte; heute sind dort die
Schafe und Ziegen der Familie
untergebracht (ob die Siedler
wenigstens die Tiere verschonen?);
einen auf eine Mauer gesprayten
Spruch aus dem Alten Testament, dem
zufolge Gott dem Volk Israel das
Land hier und speziell die Stadt
Hebron zugesprochen hat. Und, und... |
|
Was die Documenta hier zeigt, ist Aufklärung
im besten Sinne – über eine Realität, die in
Deutschland weitgehend tabuisiert ist und
deren Präsentation sofort mit dem
Totschlagargument „Antisemitismus“ belegt
wird. Aber kann das Zeigen einer zweifellos
existierende inhumanen Realität
„antisemitisch“ sein? Der Kurator der
Ausstellung, Adam Szymczyk, hat besonders
mit diesem Teil der Ausstellung großen Mut
gezeigt, denn andere Präsentationen bleiben
in politischer Hinsicht unkonkret und
unverbindlich oder sind lange bekannt und
historisch längst aufgearbeitet – etwa
Dokumente zum Krieg in Biafra, die
NS-Verbrechen an Homosexuellen und die
Ungerechtigkeiten des Kolonialismus. Da
fällt es bisweilen schwer, den aktuellen
politischen Bezug zu den gezeigten Objekten
herzustellen. Im Fall Palästinas ist das
sehr gut gelungen.
14. Documenta in Athen vom 8.4. bis zum
16.7.2017, in Kassel vom 10.6. bis zum
17.9.2017.
|