Das Ende einer Illusion
Der Niedergang des Abbas-Regimes in Ramallah ist auch ein Debakel für die Palästina-Solidaritätsbewegung
Arn Strohmeyer - 2.07.2021
In Hebron im von Israel besetzten Westjordanland ist der prominente palästinensische Oppositionelle Nizar Al-Banat offenbar durch Folter ermordet worden – aber nicht von den israelischen Besatzern, sondern von der Sicherheitstruppe der palästinensischen Autonomie-Behörde (PA), also von den eigenen Leuten. Ein ungeheurer Vorgang. Nizar war schon mehrmals wegen seiner Kritik an der Politik von Präsident Abbas von dieser Truppe verhaftet und eingesperrt worden. Sein Tod ist der letzte, aber schlagende Beweis, dass im Westjordanland alles total schiefläuft: Das Abbas-Regime, das keinerlei demokratische Legitimation mehr besitzt (die für Mai angesetzten Wahlen wurden auf den Sankt-Nimmerleinstag verschoben), hält sich nur noch durch brutale Repression der eigenen Bevölkerung an der von Israel gewährten Macht.
Die Unterdrückung aller bürgerlichen und demokratischen Rechte und die enge Kooperation mit dem zionistischen Besatzer bestimmen die Politik des Abbas-Regimes– alles natürlich im Namen der „Sicherheit“! Da erhebt sich automatisch die Frage: Wie soll die Befreiung eines ganzen Volkes ohne Freiheit stattfinden? Mit einer Tyrannei und der engen Kollaboration mit dem Unterdrücker ist das wohl nicht möglich.
Der Niedergang der einst stolzen palästinensischen Befreiungsbewegung (schon unter Yassir Arafat) hat aus ihr einen Vasall und devoten Befehlsempfänger Israels gemacht. An dieser Entwicklung trägt aber auch der Westen – die USA und die EU – einen erheblichen Schuldanteil, denn er hat Milliarden von Dollar in die Schaffung solcher Strukturen gesteckt, die nur Israel nutzen und den Palästinensern kein Stück mehr Freiheit gebracht haben – ganz im Gegenteil.
Das Abbas-Regime ist mit seiner Politik der Unterordnung unter Israels Interessen aber nicht nur seinem Volk in den Rücken gefallen, sondern auch den Anhängern des palästinensischen Freiheitskampfes in der ganzen Welt, besonders auch in Deutschland. Viele couragierte Menschen setzen sich seit Jahren gegen allergrößte Widerstände für die Realisierung der Rechte der Palästinenser ein, nehmen große Nachteile dafür in Kauf und müssen sich von den mächtigen Israel-Anhängern als „Antisemiten“ diffamieren lassen.
Die Enttäuschung muss deshalb groß sein, dass das Abbas-Regime ganz offensichtlich das Ziel der Befreiung seines Volkes längst aufgegeben hat, lieber mit dem Unterdrücker paktiert und die Privilegien, die sich aus dieser Kollaboration ergeben, genießt. Vielleicht waren die Freunde und Unterstützer in der Palästina-Solidaritätsbewegung zu naiv und haben sich Illusionen hingegeben, wenn sie meinten, die Palästinenser als Gesamtheit – die PA eingeschlossen – unterstützen zu müssen. Man hat sich mit Kritik an der PA zu lange zurückgehalten, um der palästinensischen Sache nicht zu schaden und Israel keine billige Propaganda-Munition zu liefern. Das erweist sich heute als ein verhängnisvoller Fehler.
Der Tod von Nizar al-Banat hat für klare Fronten gesorgt. Die Zeit von Präsident Abbas und seinem Regime ist ganz offensichtlich endgültig abgelaufen, ihnen darf keine Unterstützung der Palästina-Solidarität mehr zukommen. Die Sympathie und die Hilfe müssen den neuen, jungen Kräften in Palästina gelten, die wirklich die Freiheit und die Realisierung der universalen Rechte für dieses Volk anstreben. Palästina steht vor einer großen Wende, wenn nicht vor einer Revolution. Sie ist unbedingt notwendig.
Das alles sind keine neuen Erkenntnisse. Schon vor gut 25 Jahren hat der große palästinensische Intellektuelle Edward Said diese Entwicklung analysiert und die Folgen prognostiziert. Er ging davon aus, dass die palästinensische Führung im Oslo-Abkommen nichts für ihr Volk erreicht, sondern ganz im Gegenteil alle Ansprüche auf die Rechte dieses Volkes aufgegeben hat. Er schrieb 1994: „Das palästinensische Versagen, das sich im Oslo-Abkommen zeigt, besteht darin, dass schlecht ausgebildete, in ihrer Sichtweise hoffnungslos beschränkte und unmoderne Führer und – leider auch das – ein ganzes Volk ein dummes und knebelndes Abkommen mit einem Gegner eingegangen ist, der mehr über die Palästinenser weiß, als wir über jenen Gegner wissen.“
Und weiter: „In welcher Welt leben Yassir Arafat und Abu Mazen [der jetzige Präsident Abbas], wenn sie das gesamte Jahr 1993 über ständig ihr Vertrauen und ihre Zuversicht in Israel verkündet haben – ein Israel, das unser Volk enteignet hat und bis auf die jetzige Minute fortfährt, Land zu beschlagnahmen, Siedlungen auszudehnen, zu töten und Tausende Palästinenser in Haft zu halten? Diese palästinensische Politik ist das Ergebnis nicht nur von Ignoranz und Unfähigkeit, sondern auch von Unterwürfigkeit und dem totalen Fehlen einer realistischen Selbsteinschätzung. Arafat kann nichts ohne israelische Erlaubnis tun.“ Said bezeichnete schon das Regime unter Arafat als „grausam, korrupt und unfähig“ und konstatierte, dass keine andere Befreiungsbewegung in der Geschichte sich derart an ihre Feinde verkauft habe.
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