Solidarität mit Iris Hefets!
Von Arn Strohmeyer
Kann man Äußerungen
einer Jüdin aus Israel "Antisemitismus" vorwerfen? So paradox das
klingen mag, es geschieht. Anlass war ein Artikel, den die in die in
Berlin lebende Israelin Iris Hefets kürzlich in der TAZ unter der
Überschrift "Pilgerfahrt nach Auschwitz" veröffentlicht hat. Darin
kritisiert sie die offiziell vom israelischen Staat geförderten
Schülerreisen in das frühere NS-Vernichtungslager. Die Reisen, die
ursprünglich nur von israelischen Eliteschulen betrieben wurden,
seien heute ein "fester Bestandteil jeder israelischen
Pubertätsbiographie" geworden. Wörtlich heißt es dann weiter: "Bevor
ein junger Israeli zur Armee geht, muss er mindestens einmal Suff,
Sex und die Auschwitz-Reise erlebt haben. Wenn diese Voraussetzungen
erfüllt sind, kann er seinen Armeedienst leisten und hinterher in
Indien ausflippen."
Harte Worte
zweifellos, die aber offenbar die israelische Wirklichkeit
widerspiegeln. Iris Hefets schließt dann eine grundsätzliche Kritik
am israelischen Umgang mit dem Holocaust an. Sie nennt ihn "Shoa-Kult"
und eine "Art Religion mit festen Ritualen". Auschwitz werde
"mystifiziert" und mit einer "heiligen Aura" des Unantastbaren
umgeben. In Wirklichkeit handele es sich bei diesem Völkermord aber
nicht um eine esoterisches Ereignis, sondern um ein "modernes, gut
dokumentiertes und recherchiertes Verbrechen, das Menschen an
anderen Menschen verübt haben." Aber, fügt die Autorin hinzu, vielen
Deutschen käme die Mystifizierung des Holocaust sehr gelegen, weil
sie sich dann nicht mit dem eigenen Potenzial zur Täterschaft
auseinandersetzen müssten. Wenn das Verbrechen aber zu etwas
Mystischem gemacht werde, dann sei es aus dem Diesseits und dem Feld
der Politik in die Sphäre des Sakralen entrückt. So lange man die
Rituale dieser Religion befolge, brauche man sich dann auch nichts
mehr vorwerfen lassen. Und Israel benutze den Shoa-Kult zur
Legitimation seiner Politik gegen die Palästinenser.
Das sind eigentlich
doch Gedanken, über die nachzudenken und zu diskutieren sich
durchaus lohnen würde. Nicht aber für die Jüdische Gemeinde in
Berlin, die Iris Hefets sofort "Antisemitismus" vorwarf und an die
TAZ die Frage richtete: "Ist Antisemitismus in deutschen
Tageszeitungen wieder salonfähig?" Für Dienstag (27.April) hat die
jüdische Gemeinde nun Chefredakteure und Herausgeber der wichtigsten
Berliner Tageszeitungen eingeladen, um über das Thema deutsche
Medien und Antisemitismus zu debattieren. Iris Hefets kann ihren
Artikel aber nicht verteidigen, sie wurde nicht eingeladen!
Was ist aber nun
eigentlich der Aufreger an der ganzen Angelegenheit? Man vermag das
nicht recht erkennen. Denn Iris Hefets hat lediglich an einen
innerjüdischen oder israelischen Dialog angeknüpft, der schon seit
langem geführt wird. Sie hat ihm für die Diskussion in Deutschland
nur noch einmal Nachdruck verliehen.
Die Mystifizierung
des Völkermords an den Juden, für die vor allem der
Holocaust-Überlebende und Buchautor Ellie Wiesel verantwortlich
zeichnet, hatte schon der jüdisch-amerikanische Historiker Peter
Novick in seinem inzwischen zum Klassiker gewordenen Buch "Nach dem
Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord" (1999) kritisiert. Wiesel
hatte in seinen Schriften den Holocaust als "heilige
Mysterien-Religion" bezeichnet, die der Offenbarung auf dem Berg
Sinai ebenbürtig sei. Dieses Verbrechen widersetze sich jeder
profanen Darstellung. Viele Juden hätten - so Novik - dieser aus der
jüdischen Mystik stammenden Interpretation vehement widersprochen.
Gut sei diese Sicht aber bei frommen Christen angekommen, vor allem
bei Katholiken, weil diese eine enge Verbindung zwischen Leiden und
Erlösung sähen. Dass der Holocaust von Israel benutzt wird, um jede
legitime Kritik an Israels Politik als irrelevant beiseite zu
schieben und gleichzeitig propagandistisch für diese Politik zu
mobilisieren, kann man bei Novick fast auf jeder Seite lesen.
Auch Novick sieht
die organisierten Reisen junger Israelis und Juden in die Todeslager
sehr kritisch. Er nennt sie ein "penibel orchestriertes Schauspiel
vom 'Holocaust zur Sühne'", das vor allem durch das Wecken von Angst
die ideologische Botschaft des Zionismus vermitteln solle. Da wird
etwa ein begleitender Rabbi zitiert, der den Jugendlichen ernsthaft
verkündet, diese Lager könnten in wenigen Stunden wieder
einsatzfähig gemacht werden. Novick glaubt auf Grund von Umfragen
sagen zu können, dass diese Reisen ihren politischen Zweck - die
Ideologisierung der Jugendlichen - voll erfüllten.
Noch viel schärfer
fällt die Kritik von Abraham Burg in seinem Buch "Hitler besiegen.
Warum Israel sich vom Holocaust lösen muss" aus. Burg, ein Sohn von
Holocaust-Überlebenden aus Deutschland, war in seiner Zeit als
aktiver Politiker Vorsitzender der mächtigen Jewish Agency, Berater
von Shimon Peres und Sprecher des israelischen Parlaments, der
Knesset. Er schreibt: "Die Shoa ist unser Leben, wir wollen sie
nicht vergessen und lassen nicht zu, dass jemand uns vergisst. Wir
haben die Shoa aus ihrem historischen Kontext gerissen und zur
Entschuldigung und Triebkraft jeden Handelns gemacht. Alles wird mit
der Shoa verglichen, erscheint neben ihr zwergenhaft klein und ist
daher erlaubt."
In der offiziellen
israelischen Erinnerung an die Opfer des Holocaust sieht Burg
"nichts Ernsthaftes und Mitfühlendes, das uns über eine
Identifikation mit den Toten verbinden und ihre Katastrophe als
unsere eigene anmerken würde." Deshalb lehnt er auch die für junge
Israelis verpflichtenden Gedenkreisen zu den Vernichtungslagern in
Polen als "verfehlt und gefährlich" ab: "Da dieses Erlebnis
emotional überwältigend ist, kultivieren wir eine unbewusste mentale
Realität, die sämtliche Schrecken der Vergangenheit rekonstruiert
und klont, damit zukünftige Generationen sie auffrischen und
perpetuieren. Es ist wie eine kollektive Reinkarnation. Statt aus
dem pathologischen Kreislauf auszubrechen, setzen wir ihn fort.
Statt Heilung zuzulassen, infizieren wir uns selbst. Statt zu
vergessen, kratzen wir unsere Wunden auf, damit sie immer wieder
bluten. Israelische Nationalseparatisten finden in den Aschehaufen -
die einmal lächelnde, kreative Menschen waren - einen Nährboden für
gepeinigte Seelen."
Auch der israelische
Historiker Moshe Zuckermann von der Universität Tel Aviv kritisiert
in seinem Buch "Zweierlei Holocaust. Der Holocaust in den
politischen Kulturen Israels und Deutschlands" die Pflichtreisen in
die Vernichtungslager und nennt diese Art der Erinnerungskultur eine
"Verfremdung des Holocaust-Andenkens". Zuckermann zitiert seinen
Historiker-Kollegen Tom Segev, der eine solche Reise mitmachte und
darüber in der israelischen Tageszeitung "Haaretz" eine Reportage
veröffentlichte. Darin nennt Segev diese Touren Teil eines "gänzlich
von Gefühlen und Symbolen durchdrungenen Kults und einer zuweilen
bizarren Verherrlichung von Erinnerung, Tod und Kitsch." Diese
nationalistisch aufgeladenen Reisen säten vor allem eins: Hass -
besonders auf die Polen. Denn die jungen Leute identifizierten den
Holocaust vor allem mit diesem Land und seinen Menschen. Segev
zitiert in seinem Text einen Jungen, der bekannte: "Jemand muss doch
am Holocaust schuld sein. Wir müssen jemanden hassen, und mit den
Deutschen haben wir uns doch schon versöhnt." Dass die Polen auch
Opfer des deutschen Vernichtungskrieges im Osten waren, erfahren die
jungen Israelis offenbar nicht. Es fehlt ganz offensichtlich an
Aufklärung, aber auch an echter Trauerarbeit, wie Zuckermann
ausführt.
Denn die israelische
politische Kultur habe es nie vermocht, so Zuckermann, sich mit der
Situation des Holocaust-Opfers als Situation totaler Ohnmacht
auseinanderzusetzen, geschweige denn sich mit ihm auf dieser
Grundlage zu identifizieren. Dabei dürfe eine wirkliche
Holocaust-Erinnerung eben nicht partikularistisch verengt sein [also
nur auf Israel oder Juden bezogen], sondern sie müsse universal
ausgerichtet sein, "womit endlich an einer wahrhaft jüdischen
Tradition des Gedenkens der Opfer um ihrer selbst willen (und eben
nicht als Teil einer nachträglich mit Sinn ausgestatteten
'Opferhandlung') angeknüpft werden könnte."
Allein diese wenigen
gewichtigen Stimmen, die sich beliebig erweitern ließen, zeigen, wie
weit und wie intensiv der Diskurs unter Juden in der Diaspora aber
auch in Israel fortgeschritten ist. Iris Hefets befindet sich also
in bester Gesellschaft. Antisemitismus? Der außenstehende Beobachter
ist eher fasziniert von dieser sehr ernsthaften, vielfältigen und
fruchtbaren Debatte, die gerade uns Deutschen viel geben kann.
Iris Hefets ist Mitglied der "Jüdischen Stimme für gerechten
Frieden"
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