Wenn die Wahrnehmung der Realität
zum Tabu wird
Die Partei Die Linke hat sich im Diskurs um den
Palästina-Konflikt von der Wirklichkeit verabschiedet
Arn Strohmeyer
Mit Bezug auf Hannah Arendt macht der israelische Philosoph Omri
Boehm eine erstaunliche Feststellung, die für die gegenwärtige
Situation in westlichen Gesellschaften – speziell aber für
Deutschland – von höchster Aktualität ist. Danach haben moderne
Gesellschaften die merkwürdige Tendenz, „öffentlich bekannte“
Tatsachen als „Geheimnisse“ zu behandeln Dieselbe
Öffentlichkeit, die diese Tatsachen kenne, bringe es fertig,
dass diese „mit bestem Erfolg und häufig sogar spontan zu Tabus
erklärt“ würden. Sie dennoch laut und deutlich auszusprechen
könne dann so gefährlich sein wie die „Verkündigung gewisser
Häresien in früheren Zeiten.“ Eine solche Tabuisierung der
Fakten lähme die öffentliche Diskussion der israelischen Politik
seit Jahren, merkt Boehm an.
Mit dieser Beschreibung ist der Zustand der offiziellen Debatte
um Israels Politik in Deutschland optimal beschrieben. Die
Wirklichkeit des israelischen Okkupationsregimes über die
Palästinenser wird völlig ausgeblendet, als gebe es sie gar
nicht. Solidarität mit Israel und die Sorge um seine Sicherheit
sind „Staatsräson“, nicht einmal die Kriterien der UNO-Charta
und des Völkerrechts dürfen beim Blick auf Israel zur Anwendung
kommen. Jede Kritik, die sich auf diese humanitären Kriterien
bezieht, wird sofort in hysterischer Weise mit dem
verleumderischen Argument des „Antisemitismus“ belegt. Die
Entschließungen der Bundestagsparteien zu „70 Jahren Israel“
legten dazu wieder einmal Zeugnis ab. Dass eine solche
opportunistische Politik die israelische Regierung in ihrer
Gewaltpolitik gegenüber den Palästinensern nur unterstützend
bestärkt und sie in ihrem Tun fortfahren lässt (also völlig
kontraproduktiv ist), soweit denkt man gar nicht.
Nun müsste man aber eigentlich gerade von der Partei Die Linke
Widerspruch erwarten, denn der Kampf gegen Ausbeutung und
Unterdrückung, für Menschenrechte und Völkerrecht (also eine im
besten Sinne universalistische Position) ist eigentlich das
Wesens- und Kernelement jeder wirklichen linken Politik. Diese
programmatische Verpflichtung hat die deutsche Linkspartei
(abgesehen von einigen verdienstvollen Abgeordneten und
oppositionellen Splittergruppen) aber ganz offensichtlich völlig
aufgegeben. Der Beleg dafür ist nicht zuletzt der Antrag der
Fraktion der Linkspartei zu „70 Jahren Israel“ im Bundestag. Er
ist nicht nur beinahe völlig identisch mit dem Antrag von CSU
und CDUSPDFDP, sondern ist sogar noch israelfreundlicher und
gleichzeitig den Palästinensern gegenüber geradezu feindlich
eingestellt.
Der in Ramallah lebende und arbeitende Hydrologe Clemens
Messerschmid (ein exzellenter Kenner der Nahost-Materie) hat in
einem empörten Brief an die Fraktionsvorsitzende der Linken
Sahra Wagenknecht die Ungeheuerlichkeiten, die sich ihre Partei
mit ihrem Antrag geleistet hat, detailliert aufgelistet. Er
stellt fest: „Sie schaffen es, auf sieben Seiten, in 1750
Worten, und vor allem in den 16 Forderungen weder Westbank noch
Gaza, weder Besatzung noch Annexionen, weder die ‚Nakba‘ noch
die Gaza-Blockade, weder Militärrecht noch Ressourcenraub, weder
Folter noch Administrativhaft, weder Angriffskriege noch das
zugleich zur Bundestagsdebatte ablaufende Massaker in Gaza auch
nur ein einziges Mal zu erwähnen. Am offensichtlichen
Totalbankrott des sog. ‚Friedensprozesses‘ gibt Ihr Antrag
einseitig den Palästinensern die Schuld.“
Empört bilanziert Messerschmid: „Was soll ich in Zukunft meinen
palästinensischen Freunden und Partnern sagen? Dass sie
verstehen müssen, dass ihre Freiheit, ihre minimalsten
Forderungen, dass ihre Würde, ihr Menschenrecht, ihre
Freiheitsambitionen sich leider unterordnen müssen unter die
Bestrebungen deutschen Parlamentarier/innen, endlich im der
Mitte anzukommen, im Riesen-GroKo-Konsens einer Kriegs-,
Besatzungs- und Annexions-freundlichen ‚Staatsräson‘?“ Natürlich
hat Sahra Wagenknecht den Brief von Clemens Messerschmid nicht
beantwortet.
Ähnlich hat auch der israelische Historiker und Soziologe Moshe
Zuckermann auf den Bundestagsantrag der Linken zu Israel
reagiert. In einem Interview ging er zunähst auf die Behauptung
der Linken ein, in Israel existiere eine „lebendige Demokratie“:
„Israel ist ein Land, das seit 50 Jahren ein brutales
Okkupationsregime unterhält, mit dem es das palästinensische
Volk knechtet, und mit einem riesigen Siedlungswerk permanent
völkerrechtswidrige Expansion betreibt. Das ist keine
Demokratie. Das ist keine Zivilgesellschaft. Das ist ein Land,
das jedes Recht verwirkt hat, sich noch auf die ‚Lehren von
Auschwitz‘ zu berufen.“
Zur Bundestagsrede des Fraktionsvorsitzenden Dietmar Bartsch
ebenfalls zu Israels „70. Geburtstag“, in der er erklärt hatte,
es sei nicht die Aufgabe eines demokratischen linken Politikers,
„Israel zu belehren“, sagte Zuckermann: „Wenn Bartsch
tatsächlich meint, dass es nicht Aufgabe eines demokratischen
linken Politikers sei, Israel zu belehren, dann sollte er – und
mit ihm vielleicht gleich seine ganze Fraktion – am besten ganz
verstummen. Was soll das heißen – ‚belehren‘? Israel betreibt
ein barbarisches Besatzungsregime – seit wann muss man als
linker Politiker Lehrmeister werden, um sich gegen diesen
menschenverachtenden Zustand zu widersetzen? Selbst feige
Rationalisierungen sollten zumindest ein Mindestmaß an Niveau
wahren, wenn sie ernstgenommen werden wollen.“
Zuckermann zieht die Bilanz, dass Die Linke eben gar keine linke
Partei mehr sei, weil sie die Grundsätze linker Politik schlicht
verraten habe. Weil das aber so sei, habe sie sich dem Untergang
verschrieben. Man kann Zuckermanns Argumentation gut an einem
konkreten Beispiel belegen. Der thüringische Ministerpräsident
Bodo Ramelow schloss sich der Aktion „Deutschland trägt Kippa“
an und zeigte sich in Erfurt mit einer gehäkelten Kippa, aber
offenbar ohne jede Kenntnis der Sache. Nun muss man wissen, dass
die allermeisten Juden auf der Welt (auch die Juden in Israel)
keine Kippa tragen, weil sie säkular orientiert sind. Eine
schwarze Kippa tragen die orthodoxen Juden, die aber keine
Zionisten, sogar Antizionisten sind, also gegen den Staat Israel
eingestellt sind.
Und eine gehäkelte Kippa tragen die nationalreligiösen Siedler,
die permanent völkerrechtswidrig palästinensisches Land besetzen
und die palästinensische Bevölkerung drangsalieren, um sie zu
vertreiben. Der renommierte israelische Philosoph Yeshayahu
Leibowitz bezeichnete sie als „Nazi-Juden“. Identifiziert sich
Ramelow wirklich mit dieser Bewegung, die den Mörder Dr. Baruch
Goldstein, der in der Moschee von Hebron 29 Muslime erschoss,
wie einen Heiligen verehrt? Das Peinliche an der Kippa-Aktion in
Deutschland ist, dass hier Juden mittels ihrer Kopfbedeckung auf
das Religiöse reduziert werden, was die meisten von ihnen gar
nicht wollen.
Das ganze Elend der Linken in ihrer Stellung zum
Israel-Palästina-Konflikt ist keineswegs neu. Im Jahr 2010
veröffentlichten die beiden Aktivisten Hermann Dierkes und
Sophia Deeg ein Buch mit dem Titel „Bedingungslos für Israel?
Positionen und Aktionen jenseits deutscher Befindlichkeiten“.
Darin findet sich ein „Brief an die ‚wahre deutsche Linke‘“ von
dem israelischen Anwalt Yossi Wolfson, der sich in Deutschland
bei „linken“ Freunden über deren Position zum Palästina-Konflikt
informiert hatte. Er war „fassungslos“ und „geschockt“, was er
da mitbekam. In dem Brief heißt es: „Mir wurde klar, dass es in
der deutschen Linken eine lautstarke Gruppe gibt, die die
Solidarität mit meinem Kampf als antisemitisch bezeichnet und
mich selbst als einen mit Selbsthass infizierten Juden. Wie in
einer auf den Kopf gestellten Welt werden die israelischen
Generäle-Politiker, die die Unterdrückung in den besetzten
Gebieten ins Werk setzen, und der extrem liberalen bzw. rechten
israelischen Regierung an die Macht geholfen haben, von diesen
Leuten innerhalb der deutschen Linken zu Helden erklärt. Der
israelische Soldat, der seine Aufgabe, die [palästinensische]
Zivilbevölkerung zu unterdrücken, erfüllt, ist für deutsche
Linke ein Vorbild.“
Fassungslos fragt sich der Israeli Yossi Wolfson, ob er sich in
einen Albtraum verirrt habe: „Wie kann es sein, dass solche
Stimmen aus der Linken kommen, die für mich immer ein Vorbild
war, eine legendäre revolutionäre Kraft zu sein. (…) Wie kann es
sein, dass diejenigen, die sich in der Nachfolge von Marx,
Luxemburg und Adorno wähnen – einen Krieg unterstützen, die
wahllose Tötung von Zivilisten, wirtschaftliche und politische
Ausbeutung und Unterdrückung, Apartheid und Kolonialismus! Was
man aus der Ferne sieht, sieht man aus der Nähe nicht. Denkt man
in Deutschland wirklich, dass die Unterstützung der Politik der
israelischen Regierung, eine für beide, Palästinenser wie Juden,
verheerende Politik, der Königsweg ist, den Antisemitismus zu
bekämpfen?“
Dem ist nichts hinzuzufügen.
27. 05.2018
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