Ariks Horrorschau
Uri Avnery, 2.7.05
Alle Welt sah
den Horror im Fernsehen: ein palästinensischer Junge liegt
bewusstlos am Boden. Ein israelischer Soldat beugt sich gerade
über ihn und weiß nicht, was er tun soll. Ein Siedler kommt von
hinten und wirft einen Stein an den Kopf des verwundeten
Palästinensers. Ein anderer Siedler lässt von oben einen großen
Stein auf ihn fallen – aus null Entfernung.
Ein bärtiger
Sanitäter, auch ein Siedler, nähert sich dem verwundeten Jungen,
zögert und geht weg, ohne ihn zu behandeln. Eine Gruppe
Siedlerjungen und –mädchen folgen ihm schreiend: „Lass ihn
sterben! Lass ihn sterben!“
Zuvor besetzten
Siedler ein palästinensisches Haus am Strand des Gazastreifens
und errichteten dort einen „Außenposten“. Es war ein hübsches,
dreistöckiges Gebäude, dessen Besitzer noch nicht eingezogen
war. An der Außenwand stand in großen Buchstaben: „Mohammed ist
ein Schwein!“ womit der Prophet gemeint war.
Eine
Steineschlacht zwischen den Besetzern dieses Hauses und
Palästinensern in den benachbarten Häusern folgte. Einige
Soldaten, die sich genau dazwischen befanden, feuerten über die
Köpfe der Palästinenser in die Luft und taten nichts gegen die
Randalierer.
Zwei Tage
vorher waren Armeebulldozers geschickt worden, um leerstehende,
verlassene Bauten, die vor 1967 von den Ägyptern gebaut worden
waren, einzureißen. Eine Gruppe extrem-rechter Jungen und
Mädchen kletterten auf die Bulldozer, brachen Teile davon ab,
traten gegen die Köpfe der Soldaten, die versuchten, sie zu
entfernen, und verfluchten und verspotteten die Soldaten, die
hilflos daneben standen. ( Vor zwei Jahren wurde die 23 jährige
amerikanische Friedensaktivistin Rachel Corrie von solch einem
Bulldozer zu Tode gedrückt, als sie versuchte, ihn am Zerstören
eines palästinensischen Hauses zu hindern.)
Die Randale
erreichten ihren Höhepunkt am letzten Mittwoch, als die Siedler
noch einmal Israels Hauptverkehrsadern blockierten. Am Vorabend
erschien im Fernsehen einer der Oberrandalierer, ein gewisser
Shabtai Shiran, der sich selbst als „Generalstabschef Nord“
der Hooligans vorstellte. Er wurde als geachteter Gast
ausführlich live interviewt, während er Befehle gab, um das Land
lahm zu legen, als ob er ein Regierungssprecher wäre. Er wurde
nicht wegen Terrorismus, eines Komplotts und wegen Anstiftung,
ein Verbrechen zu begehen, am Ausgang des Studios festgenommen.
Im Gegenteil: er wurde am nächsten Abend wieder eingeladen, um
sich seines „Sieges“ zu rühmen.
Am Morgen des
Straßenblockadetags entdeckte die Polizei auf der Straße Nr1 (
die Hauptverbindung zwischen Tel Aviv und Jerusalem) Ölpfützen
und Metallnägel, die die Reifen zum Platzen bringen sollten.
Auf dieser Straße ist eine Geschwindigkeit von 110km/h erlaubt,
und viele fahren noch schneller. Wie durch ein Wunder gab es
keinen Unfall. Aber das ganze Land gab dem Terrorismus nach. Die
meisten Fahrer schoben ihre Fahrten auf, der Verkehr war mäßig –
so wie am Shabbat.
Während des
Tages blockierten Siedler an vielen Orten die Straßen. Die
Polizei entfernte sie mit bloßen Händen. Nur an einer Stelle
wurde ein Wasserwerfer benutzt: der schwache Wasserstrom fegte
keinen einzigen Randalierer weg. Aber im Fernsehen sah es gut
aus.
Bei keiner
einzigen Randale verwendete die Polizei Mittel, die routinemäßig
gegen gewaltlose Protestierer des linken Flügels angewendet
werden, wie Schlagstöcke, Tränengas, mit Gummi ummantelte Kugeln
und letzthin auch Salzkugeln. Ich kann aus eigener Erfahrung bei
Demonstrationen bezeugen, dass keiner dort bleibt, wo er steht,
wenn Tränengasgranaten gegen sie abgeschossen werden.
Dies nur zur
Erinnerung: vor fünf Jahren versuchte eine Gruppe arabischer
Bürger, einige Straßen im Norden Israels zu blockieren – es war
eine spontane Reaktion auf die Tötung von Palästinensern auf
dem Tempelberg . Um den „freien Verkehr auf den Straßen zu
schützen“, eröffnete die Polizei mit scharfer Munition das Feuer
und tötete dabei 13 Bürger. Aber sie waren - natürlich –
Araber.
Man hätte in
dieser Woche den Randalen sehr leicht ein Ende setzen können.
Bei wenigen Vorfällen, wo die Behörden entschieden, die
Randalierer zu entfernen, geschah dies problemlos.
Zum Beispiel am
Tag nach dem versuchten Lynchen des jungen Palästinensers - der
sich zum Glück wieder erholt - entfernte die Polizei die
Rowdys aus einem nahen Hotel. Die Randalierer schworen, bis zum
Tode zu kämpfen. Sie waren jedoch innerhalb von 30 Minuten und
ohne einen Verletzten überwunden worden.. Ihre großmäuligen
Führer waren verschwunden, bevor es überhaupt begonnen hatte.
Warum werden
die Randale nicht überall niedergeworfen? Da gibt es nur eine
einfache Schlussfolgerung: Ariel Sharon wünscht es gar nicht.
Im Gegenteil: es ist in seinem Interesse, dass auf dem
Fernsehschirm in Israel und weltweit die Szenen der
schrecklichen Randale gesehen werden. So sät er in die Köpfe der
Zuschauer die natürliche Frage, die mir ein Taxifahrer stellte
und die von allen Journalisten, die mich während der letzten
Woche interviewten, wiederholt wurden: „Wenn die Evakuierung von
ein paar kleinen Siedlungen schon solch einen Aufstand
verursacht – wie kann man nur davon träumen, die großen
Siedlungen in der Westbank zu räumen?“
Dieselbe Frage
wird auch im Hinblick auf den wirtschaftlichen Preis des Abzugs
gestellt. Der Finanzminister redet jetzt von „8-10 Milliarden
Shekel“. Das heißt 5 Millionen Shekel oder etwa 900 000 Euro
pro Familie. Fast jeden Tag wird die von den Zu- Evakuierenden
erpresste Lösegeldsumme höher. Ein Stück Land. Eine neue Villa.
Bis dahin eine „mobile Villa“, die in ihrem Besitz bleibt.
Kompensationen für verlorenen Lebensunterhalt. Beteiligung an
den Kosten des Umzugs. Für die Landwirte mehr Land, zwei bis
dreimal größer als das Stück Land, das sie verlassen haben.
Übrigens, wenn
die Siedler nur das zurückbekämen, was sie tatsächlich
investiert hatten, ja vielleicht sogar das Zehnfache, würde es
nur einen Bruchteil dieser Summen ausmachen.
All dies wird
denen versprochen, die evakuiert werden sollen und bereit sind,
in einer Entfernung von 30 km von ihrem gegenwärtigen Wohnort
nach Israel umzusiedeln In dieser Woche wurde ihnen ein
besonderer Regionalrat versprochen. Dieser würde der einzige
Regionalrat sein, der entsprechend ideologischen Linien
aufgebaut wird; er wäre auch ein einträglicher Ruheposten für
Dutzende von Siedlern, die Angestellte dieses Rates würden. In
der Westbank leben viele Hunderte von Siedlern, einschließlich
der meisten ihrer Führer auf unsere Kosten, indem sie fiktive
Jobs in den Regionalräten inne haben.
Auch hier wird
der naive Bürger fragen: wenn die Evakuierung von 1700
Siedlerfamilien uns schon 8 Milliarden Shekel kostet, wie viel
wird uns die Evakuierung von 40 000 Familien aus den
Westbanksiedlungen kosten?
Die Vorstellung
dieser Woche ist nur eine Generalprobe der großen Horrorschau,
die in sieben Wochen geplant ist, wenn die Evakuierung
stattfinden wird.
Es ist schon
angekündigt worden, dass enorme Kräfte an dieser Aktion
teilnehmen werden.
Dreitausend
Reporter aus aller Welt werden für das internationale Echo
sorgen. Das Ereignis wird als riesige Operation vorgestellt.
Ariel Sharon wird als einer der großen Helden der Geschichte
erscheinen, eine Mischung von Herkules und Samson. Wer wird nach
solchen immensen Bemühungen verlangen, dass er die unmögliche
Aufgabe der Evakuierung der Westbanksiedlungen auf sich nimmt?
Sharon selbst
verbirgt seine Absichten nicht. Im Gegenteil – er kündet sie
mit lauter Stimme an. In zwei zentralen Reden dieser Woche
definierte er sie mit den gleichen Worten. Aber die
oberflächlichen Medien waren so fasziniert von dem, was er über
die Hooligans sagte, dass sie den wichtigsten Satz überhörten.
Sharon sagte,
dass der Rückzug aus dem Gazastreifen notwendig sei, damit wir
uns auf die Bemühungen konzentrieren können, die Israels
Dominanz „ in Galiläa und dem Negev, Groß-Jerusalem, den
Siedlungsblöcken und den Sicherheitszonen“ absichern.
Man muss die
vier Ortsbezeichnungen mit der Landkarte vergleichen, um ein
klares Bild zu bekommen.
„Galiläa und
der Negev“ wurden nur als Dekoration mit eingeschlossen. Sie
sind seit der Gründung des Staates ein Teil Israels, und eine
Judaisierungskampagne läuft seit Jahrzehnten. Über die Hälfte
von Galiläas Bürgern sind Araber, und im Negev ist die Situation
ähnlich.
Der Terminus
„Groß-Jerusalem“ schließt gewöhnlich nicht nur die arabischen
Stadtteile im Osten der Stadt ein, sondern auch die Siedlung
Maale-Adumim und das Land, das zwischen ihr und dem eigentlichen
Jerusalem liegt und E-1 genannt wird.
Die
Siedlungsblöcke schließen nicht nur die erweiterten Gush
Etzion-, Ariel-, Ober-Modiin-, Betar- und Maale-Adumim-Blöcke
ein, sondern auch jedes Gebiet, das in Zukunft als solches
definiert wird, wie Kiryat Arba und das Gebiet südlich von
Hebron.
Aber das
wichtigste Wort ist „Sicherheitszonen“. In Sharons Lexikon
schließen sie nicht nur das ganze Jordantal ein und die
„Rückseite des Berges“ ( die östlichen Hänge der zentralen
palästinensischen Bergkette), sondern auch die Ost-West- und die
Nord-Südachse, auf die er selbst während der Jahre Siedlungen
hinsetzte.
Der Satz
bestätigt wieder einmal das, was Sharon in der Vergangenheit oft
genug gesagt hat, dass er 58% der Westbank annektieren wolle, so
dass der palästinensische Staat, dem er zustimmen oder nicht
zustimmen mag, nur etwa 10% des Palästinas von vor 1948
ausmacht.
Die
augenblickliche Horrorschau von Arik ist dafür bestimmt, diese
Vision zu fördern, die er als sein Lebenswerk betrachtet. Die
Siedler, die ihn verfluchen und sein Leben bedrohen, spielen nur
die Rolle, die er ihnen gibt. Seit Beginn seiner Karriere ist er
davon überzeugt gewesen, dass Gott (oder das Schicksal) ihn für
diese historische Aufgabe vorgesehen hat.
Die Aufgabe des
israelischen Friedenslagers wäre es, diese Vision zu kippen,
indem sie die Dynamik der Krisis ausnützen würde, um den Weg für
eine Lösung des Konflikts freizu- machen. Die Siedlungen sind
das Haupthindernis, um einen Kompromiss zwischen den beiden
Völkern zu erreichen. Ohne dass Sharon es beabsichtigt, bringt
die Horrorschau die israelische Bevölkerung gegen die Siedler
auf, was die Isolierung der ganzen Siedlergemeinschaft zur Folge
hat. Wir müssen sicher gehen, dass diese Welle der Entrüstung
nach dem ausgeführten Rückzug aus dem Gazastreifen nicht
verebbt, sondern im Gegenteil an Größe und Stärke zunimmt und so
die Besatzung in der Westbank und in Jerusalem hinwegschwemmt.
Falls dies
geschehen sollte, wird sogar die große Horrorschau am Ende noch
positive Ergebnisse haben – und keineswegs jene, die Sharon
erwartet hat.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert) |