Möge dein Haus
zerstört werden!
Uri Avnery
20.
Januar
2018
ALS ICH
Jasser Arafat im Sommer 1982 im belagerten Beirut zum ersten Mal
traf, war Abu Mazen nicht bei ihm. Aber als ich Arafat ein paar
Monate danach in Tunis besuchte, wünschte er, dass ich auch Abu
Mazen kennenlernte.
Es stellte sich
heraus, dass Abu Mazen der für israelische Angelegenheiten
zuständige Fatah-Führer war.
MEIN ERSTER
Eindruck von Abu Mazen (Mahmoud Abbas) war, dass er das genaue
Gegenteil von Arafat sei. Er sah aus wie ein Schuldirektor.
Arafat war ein
extrovertierter Mensch. Er umarmte und küsste die Menschen gerne und
stellte gleich zu Beginn einer Bekanntschaft enge Beziehungen her.
Abu Mazen war sehr viel reservierter und zurückhaltender. Aber ich
mochte seine Art.
Schon damals,
also vor mehr als 35 Jahren, gehörte er neben Abu Jihad (der von
Israel getötet wurde), Abu Ijad (der von palästinensischen
Extremisten getötet wurde), Farouk Kaddoumi (der Einwände gegen Oslo
erhob und ausgeschlossen wurde) zu den Fatah- und PLO-Führern ersten
Ranges.
Jedes Mal, wenn
ich Arafat in Tunis besuchte, traf ich mich auch mit Abu Mazen. Als
ich hörte, er stamme aus der arabisch-jüdisch gemischten Stadt Safed,
schuf das eine zusätzliche Verbindung. Safed war die zweite Heimat
meiner Frau Rachel. Als Kind verbrachte sie jeden Sommer dort. Ihr
Vater war Kinderarzt und praktizierte dort auch im Sommer. Abu Mazen
konnte sich nicht erinnern, ob er als Kind jemals von ihm behandelt
worden war, bevor seine Familie 1948 fliehen musste.
Nach der
Ermordung Arafats (wie ich glaube, obwohl ein Beweis noch aussteht)
übernahm Abu Mazen die Führung sowohl der (Partei) Fatah als auch
der (halbamtlichen) PLO. Er ist kein zweiter Arafat – er hat weder
die heldenhafte Größe noch die internationale Stellung des Gründers.
Aber er wurde von allen akzeptiert.
Als Führer eines
kleinen und schwachen Volkes, das einem weit überlegenen Gegner
gegenüberstand, glaubte Arafat, dass die Palästinenser all die
wenigen Werkzeuge, die ihnen zur Verfügung standen, nutzen müssten:
Organisation, Diplomatie, Gewalt, alles Erdenkliche. Aber nach dem
Jom-Kippur-Krieg begab er sich auf den Weg nach Oslo. Er erklärte es
mir so: „Ich sah, dass die Araber nach einem anfänglichen großen
Sieg den Krieg verloren hatten. Mir wurde damals klar, dass es uns
unmöglich war, unser Land im Krieg zurückzugewinnen.“
Ich denke, dass
Abu Mazen nie geglaubt hat, dass sie mit Gewalt weiterkämen. Sie
liegt nicht in seinem Wesen. Er glaubt an die großartige arabische
Waffe: die Geduld.
Araber haben eine
ganz andere Zeitauffassung als jüdische Israelis – wir sind
ungeduldig, wir brauchen ständig Belohnungen. Unsere politische
Geschichte ist kurz, unser Staat entstand erst vor 70 Jahren, darum
haben wir überhaupt keine Geduld.
Araber haben eine
lange ununterbrochene Geschichte mit vielen Hochs und Tiefs. Sie
sind das Warten gewohnt. Geduld ist ein mächtiges Werkzeug.
Ich glaube, dass
angesichts der Macht Israels Abu Mazens wahrer Glaubenssatz ist:
Wartet geduldig, bis sich die Bedingungen geändert haben. Wartet
ruhig ab, bis sich Israel verausgabt hat. In der Zwischenzeit haltet
durch, haltet am Boden fest und gebt keinen Quadratzentimeter auf.
Die Araber nennen das Sumud (Standhaftigkeit). Es kann ja
zwar eine, zwei, drei Generationen dauern, aber am Ende werden wir
gewinnen.
Das mag keine
beliebte Strategie sein, keine rühmliche, aber im Laufe der Zeit mag
sie sich als wirksam erweisen.
Das ist
jedenfalls meine Hypothese. Gesagt hat es mir niemand.
ABER SELBST
jemand wie Abu Mazen kann von Zeit zu Zeit die Geduld verlieren.
Seine inzwischen
berühmte Rede Jekchreb Beitak war ein solcher Augenblick.
Jekchreb
Beitak
bedeutet
buchstäblich: „Möge dein Haus zerstört werden!“ Im weitläufigen
Arsenal der arabischen Flüche ist dies einer der mildesten. Man kann
es mit „gottverdammt“ wiedergeben. (Im modernen Hebräisch fehlen uns
bedauerlicherweise Flüche, sodass die Hebräisch sprechenden Israelis
ihre Flüche dem Arabischen und Russischen entleihen müssen.)
Donald Trump kann
tatsächlich alle zur Raserei bringen. Aber nach Ansicht der
Palästinenser verdient er weit stärkere Flüche.
Seit vielen
Jahrzehnten haben die Vereinigten Staaten jetzt die Rolle des
überparteilichen Schiedsrichters zwischen zionistischen Israelis und
Arabern gespielt. Ein Präsident nach dem anderen hat Friedenspläne
vorgelegt und Friedensinitiativen organisiert, allerdings wurde nie
etwas daraus. (Sowohl die Initiative zum Frieden zwischen Ägypten
und Israel als auch die Oslo-Vereinbarung wurden hinter dem Rücken
der Amerikaner ausgeheckt.)
Das hat einen
ganz einfachen Grund: In den USA gibt es Millionen jüdischer Wähler;
fast alle sind glühende Zionisten. Nachdem sie überhaupt nichts zur
Rettung der europäischen Juden während des Holocausts getan haben,
wird ihr Herz jetzt von Reue gequält. Arabische Wähler sind
desinteressiert.
Deshalb haben
alle amerikanischen Präsidenten Israel stark unterstützt. (Eine
Ausnahme bildete Dwight Eisenhower, der so beliebt war, dass er
nicht auf die jüdischen Wähler angewiesen war.) Da alle israelischen
Regierungen abgelehnt haben, die besetzten Gebiete und besonders
Ostjerusalem zurückzugeben, war die Überparteilichkeit der
Amerikaner pure Heuchelei.
Aber Trump ist
etwas Besonderes. Er hat einen glühend rechten jüdischen Zionisten
zum Botschafter in Israel ernannt. Er hat seinen jüdischen
Schwiegersohn und einige weitere Zionisten zu Mediatoren zwischen
Israel und den Palästinensern ernannt. Und zu guter Letzt hat er
auch noch Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkannt und
angekündigt, er werde die US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem
verlegen.
Wenn er
„Westjerusalem“ gesagt hätte, hätte er höchstens einen schwachen
Sturm ausgelöst. Tatsächlich sind alle damit einverstanden, dass
Westjerusalem die Hauptstadt Israels sei. Aber Trump sprach von
Ganz-Jerusalem und deutete nur an, dass in irgendeiner unbestimmten
Zukunft endgültige Grenzen gezogen werden könnten.
Natürlich ist
Ostjerusalem das, worum es in der Schlacht wirklich geht. Die
israelische Regierung erhebt mit der Begründung Anspruch darauf, es
sei der Geburtsort der jüdischen Religion, der Ort des Ersten und
des Zweiten Jüdischen Tempels und der Klagemauer (der Mauer, die ein
Teil der Stützmauer des Tempels und nicht des Tempels selbst war).
Dass die Rede
davon war, Jerusalem als Teil des jüdischen Staates anzuerkennen,
war ein schwerer Schlag gegen die tiefsten religiösen und nationalen
Glaubensüberzeugungen der Araber.
Als die Vereinten
Nationen 1947 den Teilungsplan ausarbeiteten, sah der Plan einen
jüdischen und einen arabischen Staat vor, verlieh Jerusalem jedoch
den Status einer getrennten Einheit. Das war für beide Seiten
unannehmbar.
Als meine Freunde
(Juden und Araber) und ich gleich nach dem 1948er Krieg den ersten
Friedensplan entwarfen, der sich auf das Prinzip „Zwei Staaten für
zwei Völker“ gründete, forderten wir ein „vereintes Jerusalem,
Hauptstadt zweier Staaten“. Das ist immer noch die einzig mögliche
Lösung.
Der verstorbene
Faisal Husseini, der der unbestrittene Führer der Bevölkerung
Ostjerusalems war, akzeptierte dieses Prinzip. Es gibt viele Fotos
von uns beiden, wie wir auf Demonstrationen zusammen unter
Transparenten mit diesem Spruch stehen. Auch Abu Mazen akzeptiert
dieses Prinzip.
WAS HAT
Abu Mazen nun also in seiner langen Rede im palästinensischen
Parlament außer dem halb im Scherz geäußerten Fluch, der
Schlagzeilen gemacht hat, gesagt?
Tatsächlich
nichts Neues. Er bestätigte die Bedingungen des „arabischen
Friedensplans“, dem auch ich von ganzem Herzen zustimme.
Die sogenannte
„Einstaatlösung“, der einige extrem Linke aus purer Verzweiflung
jetzt anhängen, wies er vollkommen zurück. Das würde in der Praxis
bedeuten: Israel würde zu einem von Juden beherrschten
Apartheidsstaat.
Er machte all den
scheinheiligen Sprüchen, die jetzt herumschwirren, ein Ende: der
Vorstellung, die USA könnten vermitteln, der Fiktion, ein
„Friedensprozess“ wäre im Gange, der Idee, die Oslo-Vereinbarung
wäre noch gesund und munter.
In der Resolution
der Versammlung – des Zentralrats der PLO, der das palästinensische
Parlament ist – wurde die Vorstellung verworfen, die USA könnten die
Rolle eines überparteilichen Mediators erfüllen.
Der Rat
beschloss, die „Anerkennung Israels“ auszusetzen. Das ist nichts als
eine leere Geste. Aber er beschloss auch, die
„Sicherheits-Zusammenarbeit (mit Israel) in allen ihren Formen“ zu
beenden. Das ist allerdings eine sehr viel ernster zu nehmende
Angelegenheit. Ich bezweifele, dass Abu Mazen diesen Beschluss
umsetzen kann.
Der Rat erwähnt
ausdrücklich das Mädchen Ahed Tamimi, das vor laufender Kamera einen
israelischen Offizier geohrfeigt hatte. Ich nannte sie daraufhin die
palästinensische Jean d’Arc.
Ahed ist
bis zum Ende ihres Prozesses in Haft.
Der Rat forderte
den Boykott von Produkten aus den Siedlungen. Diesen Boykott hat die
Friedensorganisation, der ich angehöre, Gusch Schalom schon 1998
beschlossen. Aber der Rat forderte auch die Unterstützung der
BDS-Bewegung, die einen Boykott aller israelischer Waren
befürwortet.
Weil ihm nichts
Besseres einfällt, fordert der Rat mehr Aktionen der UN auf
diplomatischer Ebene und mehr Aktionen des Internationalen
Strafgerichtshofes und anderer internationaler Institutionen.
Nichts davon ist
wirklich sehr neu, aber es zeigt die Entschlossenheit zum
Widerstand.
ABU MAZEN
hat keinen Stellvertreter. Wie auch viele andere politische Führer
in aller Welt verabscheut er den Gedanken an einen Erben.
Er ist jetzt 82
Jahre alt – immerhin jünger als ich. Es sieht so aus, als hätte er –
wie ich – beschlossen, ewig zu leben.