Zwei Erdbeben
Uri Avnery, 26.11.05
EIN POLITISCHES Erdbeben
ist immer ein seltenes Ereignis. Wenn zwei große politische
Erdbeben schnell auf einander folgen, so ist es beinahe
einzigartig.
Ein
solches Erdbeben war die Wahl von Amir Peretz als Führer der
Laborpartei. Das andere ist die Tatsache, dass Sharon den Likud
verlassen hat, um eine neue Partei zu gründen.
Plötzlich hat sich die politische Landschaft so verändert, dass sie
nicht wieder zu erkennen ist.
Bis
vor kurzem gab es zwei Berge. Nun sind es drei – und keiner von
ihnen steht dort, wo die beiden anderen vorher standen.
Der
Likud hat sich während der letzten 28 Jahre zu einer
Mitte-Rechts-Partei entwickelt. Ihre extrem nationalistischen
Ansichten haben sich mit Opportunismus und ständig wachsender
Korruption verwässert. Ihre Führung hat sich mit den Ultra-Reichen
verbunden, die die Wirtschaftspolitik diktieren, obwohl die meisten
ihrer Wähler zu den Unterprivilegierten gehören.
Die
Labor-Partei ist zu ihrem eigenen Grabstein geworden. Sie wandelte
sich zu einer blassen Kopie des Likud, einer Art Likud 2. Ihr
Haupttotengräber, Shimon Peres, war auch ihr Hauptvertreter und
gleichzeitig Sharons Hauptpropagandist in der ganzen Welt.
Diese Landschaft besteht nicht mehr.
IN DER NEUEN LANDSCHAFT
gibt es drei Berge, die nach drei verschiedenen Richtungen
ausgerichtet sind.
--
DER LIKUD ist zu dem zurückgekehrt, was er war, bevor er 1977
an die Macht kam: eine radikale Partei des rechten Flügels. Dies ist
die klassische Herut-Partei, die an Groß-Israel glaubt ( auf
Hebräisch: „das ganze Land Israel“), vom Mittelmeer bis zum
Jordanfluss (wenigstens). Er ist gegen jedes Friedensabkommen mit
dem palästinensischen Volk und will die Besatzung aufrechterhalten,
bis es die Umstände erlauben, die besetzten Gebieten zu
annektieren. Da er auch einen homogenen jüdischen Staat wünscht, ist
in diesem Wunsch eine versteckte Botschaft: die Araber müssen dahin
gebracht werden, das Land zu verlassen. In der Redeweise des
rechten Flügels wird dies „freiwilliger Transfer“ genannt. Doch ist
die Partei zu vorsichtig, dies offen auszusprechen.
Der
Likud mag sich jetzt über „soziale“ Angelegenheiten auslassen, um
für die „östlichen“ (meist nordafrikanischen) Wähler in Konkurrenz
mit Peretz zu treten. Aber seit die Herut-Partei in den Sechzigern
sich mit der nicht mehr funktionierenden Liberalen Partei verbunden
hatte, diente sie nur mehr den Interessen der Reichen .
--DIE
SHARON-PARTEI ( Kadima „Vorwärts“ genannt) wird auf eine Lüge
gebaut. Sharon erklärte, die Road Map sei seine einzige politische
Grundlage. Aber die Road Map war schon tot, bevor sie geboren
wurde. Nicht einmal im Traume denkt Sharon daran, auch nur seinen
Teil der ersten Phase der Realisierung durchzuführen: die Auflösung
der hundert neuen Siedlungen („Außenposten“), die nach 2000
errichtet wurden, und an das Einfrieren der Siedlungsaktivitäten.
Sharon macht aus seinen wirklichen Absichten keinen Hehl: 58% der
Westbank zu annektieren, einschließlich der sich weiter ausdehnenden
„Siedlungsblöcke“ wie auch der verschiedenen „Sicherheitszonen“ (
das ausgedehnte Jordantal und die Straßen zwischen den Siedlungen )
und Groß-Groß-Jerusalem, einschließlich der Maale Adumim-Siedlung.
Da es keinen palästinensischen Partner für solch eine „Lösung“ geben
kann, plant er die Erfüllung derselben durch ein einseitiges
Diktat, das ohne jeden Dialog mit den Palästinensern - mit
Gewalt - durchgesetzt wird.
Soweit es Sharon betrifft, sind soziale Probleme nur ein Ärgernis.
Er wird natürlich ein soziales Programm verkünden, um mit Peretz und
dem Likud konkurrieren zu können – in Wirklichkeit interessiert es
ihn nicht.
--
Die LABOR-PARTEI von Amir Peretz wird sich auf
sozial-wirtschaftliche Probleme konzentrieren und hofft so, die
Massen der „östlichen“ Bevölkerung zu gewinnen, die bis jetzt den
Likud und Shas (die Partei der orthodox-östlichen Juden) wählten.
Hier liegen die Chancen eines Sieges. Amir Peretz unterstützt ein
ernst zu nehmendes Friedensprogramm: Verhandlungen mit den
Palästinensern und die Errichtung eines palästinensischen Staates
auf der Basis der Grenzen von 1967. Er wird dies in einem sozialen
Kontext darstellen: das im Krieg durch Besatzung und Siedlungen
vergeudete Geld ist den Armen gestohlen worden und vergrößerte so
die Kluft zwischen arm und reich.
Peretz’ Berater werden ihn zu überzeugen versuchen, dass er „ Mitte
wird“ (dafür gibt es im Hebräischen ein neues Wort) und seine
Friedensbotschaft abschwächt, um die Stimmen „in der Mitte“ zu
gewinnen. Falls er dies tun würde, sähe es aus, als würde es ihm an
Selbstvertrauen, Glaubwürdigkeit und einem klaren Programm fehlen.
Auf jeden Fall aber wird Peretz versuchen, die sozialen Probleme zu
betonen und die Themen, die mit Frieden und Sicherheit zu tun haben,
auf den zweiten Platz zu verweisen.
EINES der Hauptprinzipien
militärischer Strategie ist, dass die Seite, die das Schlachtfeld
bestimmt, die besseren Chancen hat, die Schlacht zu gewinnen, da
ihre Wahl natürlich ihre speziellen Bedingungen widerspiegelt. Das
gilt auch für die Wahlschlacht.
Sharon ist ein siegreicher General, und deshalb ist er daran
interessiert, „Sicherheit“ in die Mitte seiner Wahlkampagne zu
setzen. Hier hat er einen großen Vorteil gegenüber Peretz, der nur
Hauptmann einer Wartungstruppe war. Wenn Gefahr für die Sicherheit
Israels besteht, wird das Volk Sharon vertrauen, dem Sabra ( dem im
Lande geborenen) aus dem Dorf Malal mit der Aura eines militärischen
Führers.
Peretz ist Gewerkschaftsführer, ein Mann, der in Marokko geboren
wurde und in einer kleinen israelischen Stadt armer Immigranten
aufwuchs. Deshalb ist er daran interessiert, die
sozial-wirtschaftlichen Probleme in den Mittelpunkt der Wahl zu
stellen. Wenn Hunderttausende unterhalb der Armutsgrenze leben und
die soziale Kluft als ihr Hauptproblem ansehen, können
Sicherheitsprobleme zweitrangig werden.
Peretz muss die Massen dahin bringen, die Formel „Frieden =
Verringerung der sozialen Kluft“ zu verinnerlichen. Das ist ziemlich
schwierig. Während meiner zehn Jahre in der Knesset hielt ich
Dutzende Reden genau zu diesem Problem – und hatte keinen Erfolg. Im
öffentlichen Bewusstsein existiert eine seelische Blockade: wenn man
über die Wirtschaft spricht, wird der nationale Konflikt ignoriert.
Spricht man über den nationalen Konflikt, will man nichts über die
Wirtschaft wissen. Peretz muss diesen Graben überwinden und eine
Verbindung zwischen beidem herstellen. Nach so vielen Opfern von
Blut und Geld sollte die Öffentlichkeit dafür reif sein.
Deshalb wird die Hauptschlacht um das Schlachtfeld selbst sein: ob
die Sicherheit oder die soziale Kluft das Hauptstück sein wird.
Peretz muss an seiner Agenda festhalten, auch wenn alle möglichen
Ratgeber und Medienleute ihn davon abbringen wollen und auf die
Angriffe seiner Gegner reagieren. Und natürlich wird jeder
„Terroristenangriff“ in Sharons Hände spielen und den Likud
unterstützen. (Sharon-Hasser behaupten sogar, er sei fähig, selbst
solche Angriffe zu provozieren, indem er militärische Aktionen
initiiert und so zu Racheakten einlädt.)
WIE UNTERSCHEIDET sich die
neue politische Landschaft von der alten? Es ist seltsam genug: die
meisten Kommentatoren ignorieren die offensichtlichste und
entscheidendste Tatsache:
Den
Linksruck des ganzen Systems.
Der
Likudkern ist rechts stecken geblieben, wo er immer war. Aber alle
anderen haben sich bewegt.
Die
Sharon-Partei, die sich vom Likud abgespalten hat, hat ihren
Hauptglaubensartikel aufgegeben: das ganze Eretz Yisrael. Sie
stimmt für die Teilung des Landes. Sharon selbst hat einen
Präzedenzfall geschaffen, indem er die Siedlungen im Gazastreifen
auflöste. Wie schlimm auch sein politisches Programm sein mag,
verglichen mit seiner früheren Position und der des Likud, ist sie
weniger rechts. Er hat sich deshalb nicht in „Labor 2“ verwandelt,
wie seine Likudgegner behaupten, er hat sich aber nach links bewegt.
Die
Wahl von Amir Peretz stellt eine große Bewegung der Labor-Partei zur
wirklichen Linken dar.
Dies trifft genau so für die Lösung des israelisch-palästinensischen
Konflikts zu wie auch für das soziale Problem. Peretz bringt selbst
nicht nur eine sozial-demokratische Agenda mit, er zwingt auch alle
anderen Parteien, sich in diese Richtung zu bewegen – oder
mindestens dies vorzugeben.
Sogar Shas erinnerte sich plötzlich daran, es sei schließlich die
Partei der unterprivilegierten „östlichen“ Juden. Nach mehreren
Jahren auf der extremen Rechten erinnert sie sich, dass sogar ihr
einziger Führer Rabbi Ovadia Yossef sich vor Jahren äußerte, die
Gebiete für Frieden zurückgeben wolle.
Seit Jahren hat in Israel eine anormale Situation vorgeherrscht und
die Sozialwissenschaftler wahnsinnig werden lassen: nach allen
öffentlichen Meinungsumfragen wollte der größte Teil des Volkes
Frieden und war bereit, fast alle notwendigen Konzessionen zu machen
– aber in der Knesset war diese Position so gut wie nicht vertreten.
Während all dieser Jahre hat mein Optimismus viele Leute irritiert.
Ich sagte: dies kann so nicht lange weitergehen. Ohne dass wir
voraussehen können, auf welche Weise, wird eines Tages dieser
anormale Zustand sich selbst in Ordnung bringen. So oder so wird
sich die politische Szene der öffentlichen Meinung anpassen.
Ein
Erdbeben verursacht Veränderungen an der Oberfläche, wird aber
selbst von Kräften, die tief in der Erde liegen, verursacht. Dies
gilt auch für das politische Leben: die tief im öffentlichen
Bewusstsein verborgen liegenden Veränderungen haben schließlich
sichtbare Wandlungen zur Folge. Das Ergebnis ist schnell und
plötzlich, ist aber die Folge eines langen, langsamen unterirdischen
Prozesses. Ich bin stolz auf die Rolle, die meine Partner und ich in
diesem Prozess spielten.
Was
wird nun geschehen? Das hängt von vielen Faktoren ab. Auch von uns.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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