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Du sollst nicht töten ( auch nicht Dich
selbst)
Uri Avnery, 18. Februar
2012
NACH DER Gründung Israels erschien Gott
dem David Ben Gurion und sagte zu ihm: „Du hast für mein
auserwähltes Volk in meinem Heiligen Land einen Staat geschaffen.
Du verdienst eine große Belohnung. Sag mir, was du wünschst – und
ich werde es gewähren“.
Ben Gurion antwortete: „Allmächtiger
Gott, ich möchte, dass jede Person in Israel weise sein soll,
ehrlich und ein Mitglied der Laborpartei.“
„Mein Lieber“, sagte Gott, „ das ist
sogar für mich, den Allmächtigen, zu viel. Aber ich gewähre, dass
jeder Israeli zwei von den drei Eigenschaften verkörpern soll.
Seitdem ist ein weiser Israeli, der ein Mitglied der Laborpartei
ist, nicht ehrlich. Wenn ein ehrlicher Israeli ein Mitglied von
Labor ist, dann ist er nicht weise. Wenn er weise und ehrlich ist,
ist er kein Mitglied von Labor“.
DIESER SCHERZ war in den 50er Jahren
allgemein bekannt. Nach 1967 trat ein anderer weniger lustiger
Scherz an seine Stelle.
Er lautet: Viele Israelis bitten Gott um
einen Staat, der jüdisch und demokratisch sein soll und der das
ganze Land zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan einschließt. Das
ist selbst für den Allmächtigen zu viel. Also bestimmte er, dass
jeder Israeli zwei von den drei Möglichkeiten wählen muss: zwischen
einem Staat der jüdisch und demokratisch ist, aber nur in einem Teil
des Landes, oder einen Staat im ganzen Land, der jüdisch ist, aber
nicht demokratisch, oder einen Staat im ganzen Land, der
demokratisch ist, aber nicht jüdisch. Dem möchte ich noch eine
vierte Möglichkeit hinzufügen: Ein jüdischer und demokratischer
Staat im ganzen Land, aber erst wenn alle Araber vertrieben sind -
etwa 5,5 Millionen zu jetzigen Zeit , die sich aber rasch vermehren.
Dies ist die Wahl, mit der wir uns heute
wie vor fast 45 Jahren befassen müssen. Sie ist nur klarer geworden.
Für jede vorhersehbare Zukunft kann die
vierte Alternative ausgeschlossen werden. Die Umstände, die 1948 zur
Vertreibung von mehr als der Hälfte des palästinensischen Volkes aus
dem Gebiet führte, das Israel wurde, waren einmalig, und es ist
unwahrscheinlich, dass sie sich in den nächsten Jahrzehnten
wiederholen. Wir müssen uns also mit der gegenwärtigen
demographischen Realität abfinden.
Die gegenwärtige Regierung ist
entschlossen, jeden Frieden zu verhindern, der uns zwingen würde,
einen Teil der besetzten Gebiete (22% des Palästina von vor 1948)
aufzugeben. Es gibt niemanden, der sie dazu zwingen würde.
Was bleibt?
Ein Staat im ganzen Land, der entweder
undemokratisch oder nicht jüdisch wäre.
Wie die Dinge stehen, wird die erste
Möglichkeit realisiert werden oder realisiert sich von selbst. Da
ist keine bewusste Entscheidung nötig, da diese Situation de facto
schon besteht.
Dies bedeutet, um das populäre
Schlagwort zu benützen: ein Apartheidstaat. In diesem liegt jedes
Machtinstrument in den Händen der jüdisch-israelischen Mehrheit
(etwa 6,5 Millionen), mit begrenzten Rechten für die 1,5 Mill.
Palästinenser, die israelische Staatsbürgerschaft besitzen. Die
Palästinenser in der besetzten Westbank, in Ost-Jerusalem und im
Gazastreifen, etwa 4 Millionen, haben gar keine Rechte – weder
national , noch menschlich oder zivil.
Der gegenwärtige Zustand der
„temporären“ Besatzung kann für immer dauern und ist deshalb ideal
für diesen Zweck. Doch eine zukünftige israelische Regierung, eine
noch nationalistischere könnte die offizielle Situation durch
Annexion der Gebiete an Israel verändern. Das würde praktisch keinen
Unterschied machen.
Wie viele Israelis es sehen, könnte
diese Situation auf immer so bleiben. Der offizielle Slogan heißt:
„Wir haben keinen Partner für Frieden.“
Aber kann das wirklich dauern? Die
palästinensische Bevölkerung im Lande wächst rasant. Es wird nicht
lange dauern, bis sie die Mehrheit bilden wird. Die Idealisten, die
für die „Ein-Staaten-Lösung“ sind, glauben, der Apartheidstaat
verwandle sich langsam in einen „Staat für alle seine Bürger“.
Falls nach weiteren Jahrzehnten der
Unterdrückung, mit Bürgerkrieg, Brutalitäten und anderen Plagen
sich dies verwirklichen würde, dann würde es sich schnell in einen
palästinensischen Staat mit einer jüdischen Minderheit verwandeln,
wie die Weißen im heutigen Südafrika. Es würde eine Negation des
ganzen zionistischen Unternehmens sein, dessen Hauptzweck es war,
einen Ort in der Welt zu haben, wo Juden eine Mehrheit sind. Die
meisten jüdischen Israelis würden wahrscheinlich emigrieren.
Für einen Israeli wäre dies ein
nationaler Selbstmord. Doch wäre es die unvermeidbare Folge, wenn
der Staat seinen Kurs wie bisher fährt.
WENN EINE Person sich selbst töten will,
wie es ihr Recht ist, hat sie viele Möglichkeiten, dies zu tun:
vergiften, erschießen, aufhängen, vom Dach springen etc.. Als Staat
hat Israel auch mehrere Optionen.
Abgesehen von der tickenden Bombe, (die
„Ein-Staat-Lösung“) hat Israel auch eine interne tickende Bombe,
die sogar gefährlicher sein mag. Wie die erste Option, so ist auch
die zweite schon auf dem Weg. Wenn die erste Option wenigstens
teilweise von äußeren Faktoren abhängt, ist die zweite ganz und gar
hausgemacht.
Als Israel entstand, waren die
orthodoxen Juden eine kleine Minderheit. Da Ben Gurion sie für seine
Koalition benötigte, gewährte er ihnen einige Privilegien, die ihm
nicht zu teuer erschienen. Die Orthodoxen bekamen ihr eigenes vom
Staat finanziertes Bildungssystem, und sie waren vom Militärdienst
befreit.
Etwa 60 Jahre später haben diese Privilegien
gigantische Dimensionen angenommen. Um die im Holocaust verlorenen
Leben zu ersetzen und um die jüdische Bevölkerung zu vergrößern,
ermutigte die israelische Regierung durch großzügiges Kindergeld das
natürliche Wachstum. Da die Religiösen aller Schattierungen sich
schneller vermehrten als die anderen Israelis (außer den
muslimischen Arabern in Israel), ist ihr Teil der Bevölkerung
sprunghaft angestiegen.
Die orthodoxen Familien haben
gewöhnlich 8-10 Kinder. Diese gehen alle in religiöse Schulen, wo
sie ausschließlich religiöse Texte lernen und keinerlei nützliche
Fertigkeiten, die man in Berufen einer modernen Gesellschaft
benötigt. Sie brauchen sie nicht, da sie überhaupt nicht arbeiten,
sondern ihr ganzes Leben dem Studium des Talmud widmen. Sie müssen
ihre Studien der toten Texte nicht unterbrechen, weil sie auch
keinen Militärdienst machen müssen.
Wenn dies in den frühen Tagen des
Staates auch nur Randerscheinungen waren, führen sie jetzt zu einer
rapiden nationalen Notsituation. Von Anfang an haben sich fast alle
Regierungskoalitionen auf die religiösen Parteien verlassen, weil
keine Partei je die Mehrheit in der Knesset gewonnen hat. Fast alle
Regierungsparteien mussten ihre religiösen Partner mit wachsenden
Subventionen für Kinder und Erwachsene bestechen und ermutigten so
das Wachstum einer Bevölkerung, die weder Militärdienst macht noch
Arbeit verrichtet.
Die Abwesenheit der Orthodoxen in der
Arbeitswelt hat ernst zu nehmende Auswirkungen auf die Wirtschaft,
was von internationalen Finanzinstituten bestätigt wird. Ihre
Abwesenheit in der Armee – wie auch die Abwesenheit der arabischen
Bevölkerung, die aus verständlichen Gründen nicht eingezogen wird –
bedeutet, dass bald fast die halbe männliche Bevölkerung nicht als
Soldat dient. Dies zwingt alle anderen drei volle Jahre zu dienen
und dann noch viele Jahre Reservedienst zu leisten.
Sehr bald werden fünfzig Prozent aller
Erstklässler in Israel aus orthodoxen Familien kommen. Ihr Leben
wird ohne Arbeit, ohne Steuern zu zahlen und ohne Militärdienst
verlaufen – all dies wird von den Steuern der kleiner werdenden
Anzahl von Nicht-Orthodoxen finanziert.
Vor kurzem verlangten die Säkularen nach
einer wachsenden Unruhe zwischen Religiösen und Nicht-Religiösen in
Bet-Shemesh – 25km westlich von Jerusalem - die Stadt solle
geteilt werden, in eine orthodoxe Stadt und eine säkulare. Der
Innenminister – selbst ein Führer einer Orthodoxen Partei - hat dies
rundweg abgelehnt. Er erklärte offen: da die Orthodoxen weder
arbeiten noch Gemeindesteuern zahlen, können sie auch eine eigene
Stadt nicht erhalten. Sie benötigen die Säkularen zum Arbeiten und
Zahlen.
Diese groteske Situation besteht im
ganzen Staat. Man kann sich ausrechnen, wann das ganze Gebäude
zusammenbricht. Internationale Finanzinstitute wie auch israelische
Experten sagen eine Katastrophe voraus. Doch unser politisches
System macht eine Veränderung unmöglich. Die Position der religiösen
Parteien ist einfach zu stark.
Das ist eine andere Methode des
Selbstmordes.
EIN DRITTER Weg ist weniger dramatisch.
Israel wird schnell zu einem Staat, in dem normale Leute nicht mehr
leben wollen.
In seinem monumentalen Werk über die
Kreuzfahrer vertrat der verstorbene britische Historiker Steven
Runciman die Auffassung, dass der Kreuzfahrerstaat nicht durch eine
militärische Niederlage zusammenbrach, sondern weil zu viele seiner
Bewohner zusammenpackten und nach Europa zurückgingen. Obwohl viele
von ihnen zur 4. oder sogar 8. Generation der Kreuzfahrer gehörten,
hatte der Kreuzfahrerstaat für sie seine Attraktion verloren. Der
Zustand eines ständigen Krieges und die innere Stagnation trieb sie
weg. Der Staat brach zusammen, da immer mehr weggingen als sich
ihnen anschlossen.
Die Kreuzfahrer hatten das Empfinden,
dass sie mehr zur Christenheit gehörten als zum lokalen Königtum von
Jerusalem. Heute glauben selbst viele Israelis, sie seien vor
allem Juden, die zu einem weltweiten Volk gehören, und die nur in
zweiter Linie sich als Israelis fühlen.
Das macht die Auswanderung leichter.
Ein Staat ohne Demokratie, ohne
Gleichheit, der sich selbst zu einem endlosen Krieg verurteilt hat,
der von religiösen Fanatikern dominiert wird, in dem eine Kluft
zwischen bitter Armen und einer handvoll von unglaublich Reichen
von Jahr zu Jahr breiter wird – solch ein Staat wird für
intelligente junge Leute immer weniger attraktiv erscheinen, die
leicht woanders ein besseres Leben finden und trotzdem die jüdische
Identität bewahren können.
Auch dies ist ein nationaler Selbstmord.
ICH BIN von Natur aus kein Prophet von
Pessimismus. Ganz im Gegenteil.
Wir können all diese Gefahren leicht
abwenden. Aber zunächst müssen wir sie erkennen und sehen, wohin sie
uns führen.
Ich bin davon überzeugt, dass die
israelische Nation den Willen zum Überleben hat. Aber um zu
überleben, muss sie aus ihrer apathischen Benommenheit aufwachen und
den Kurs ändern – sich dem Frieden zuwenden, der sich auf die
Zwei-Staaten-Lösung gründet, den Staat und die Religion von
einander trennen und eine neue soziale Ordnung aufbauen.
In der jüdischen Religion ist Selbstmord
eine Sünde. Es wäre Ironie, wenn zukünftige Historiker
schlussfolgern müssten, der „jüdische Staat“ habe Selbstmord
begangen.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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