Ein Ritter auf grauem
Pferd
Uri Avnery, 9.8.08
OH DU MEINE GÜTE, was ist mit dem Ritter auf dem weißen Pferd
geschehen?
In
der vergangenen Woche waren Barack Obamas Bewunderer geschockt. Bis
jetzt hatte man geglaubt, dass die großen Summen Geldes, die in die
Schatulle seiner Wahlkampagne fließen, von anonymen Bürgern stammen,
die darum gebeten worden waren, ihm 100 oder 200 Dollarschecks zu
schicken.
Nun ist bekannt geworden, ein großer Teil jener Millionen komme von
großen Spendern – genau denselben riesigen Körperschaften, ihren
CEOs (Chief Executive Officers) und Lobbyisten, die den
demokratischen Prozess bei vorausgegangenen Wahlkämpfen korrumpiert
haben. Sie verteilen ihre Großzügigkeit reichlich und gleichmäßig
unter alle Kandidaten von links bis rechts, um auf der Gewinnerseite
zu stehen – egal was geschieht.
Obama hatte versprochen, dem alten, schmutzigen System ein Ende zu
bereiten. Nun wird deutlich, dass er selbst in dieses korrupte
System eingebunden ist.
Was für eine Enttäuschung!
FÜR JEDEN, der in der Realität lebt, kann die Enttäuschung nicht all
zu groß sein.
Die moderne Wahlkampagne ist ein unersättliches Monster. Es
verschlingt riesige Summen. Diejenigen, die in Arglosigkeit glauben,
dass solche Summen von kleinen anonymen Spendern erhoben werden
könnten, ist ganz einfach unmöglich. Sie haben sich selbst etwas
vorgemacht.
Obama erhielt tatsächlich viele Spenden von gewöhnlichen Bürgern,
und das ist schon ein positives Zeichen. Doch wenn er sich
geweigert hätte, die Spenden von den großen Spendern anzunehmen, die
natürlich egoistische Spender sind, dann hätte er seine Kandidatur
aufgeben müssen. Er wäre von der Flut der vergifteten TV-Spots
seiner Opponenten überschwemmt worden – ohne die Möglichkeit, sich
entsprechend zu revanchieren.
Die Vereinigten Staaten sind ein riesiges Land und jede wichtige
Veränderung in seinem System benötigt Jahre, wenn nicht gar
Generationen – es sei denn, es gibt eine Revolution. Im
demokratischen System kann ein einzelner Führer nur kleine
Veränderungen bewirken – wenn überhaupt.
Ein echter Politiker sieht nie wie ein echter Politiker aus. Obama
ist ein echter Politiker. Er ist kein Ritter auf einem weißen Pferd.
Er ist bestenfalls ein Ritter auf einem grauen Pferd.
Doch gibt es viele Schattierungen von grau: von lichtgrau bis
dunkelgrau.
Als Antwort auf eine alte Beobachtung, dass es nur einen kleinen
Unterschied zwischen Mann und Frau gebe, sagt ein Franzose
bekanntermaßen: „Vive la petite difference!“
Es
ist schwierig zu erraten, wie groß der Unterschied zwischen
Präsident Barack Obama und Präsident John McCain sein würde. Aber
einer von diesen beiden wird bei der amerikanischen
Präsidentenwahl nicht allein gewählt werden – Tausende wichtiger
Stellen werden ausgetauscht. Erwähnt sei nur das Recht des
Präsidenten, die Richter des Obersten Gerichts zu ernennen. Nach
acht möglichen Jahren Präsidentschaft von Obama wird diese
entscheidende Institution sich sehr von dem Gerichtshof nach acht
möglichen Jahren Präsidentschaft von McCain unterscheiden.
Deshalb ist der zynische Ausspruch „sie sind alle gleich“ fehl am
Platz. Es gibt einen Unterschied.
Wenn sich also einige der Illusionen der Bewunderer des schwarzen
Wunderkinds zerschlagen haben, und jeder in die reale Welt
zurückgekehrt ist – dann wird seine Entscheidung an der Wahlurne
realistischer ausfallen.
IN
DIESER Hinsicht gibt es eine interessante Ähnlichkeit zwischen der
amerikanischen und der israelischen Wahlkampagne. Wenn man dort von
McObama redet, kann man hier von Molivni reden.
Zipi Livni tritt gegen Shaul Mofaz in der Führung der Kadima-Partei
an und - nach dem Rücktritt von Ehud Olmert - fast sicher auch
für das Amt des Ministerpräsidenten .
Auch hier ist man versucht, zu sagen “sie sind alle gleich“. Was ist
der Unterschied zwischen den beiden?
Darüber ist schon viel gesagt oder geschrieben worden: beide
Kandidaten (wie auch die beiden anderen) stellen sich selbst bei
den Kadima-Vorwahlen ohne ein Programm vor, ohne Angebot für
Lösungen für die Hauptprobleme, ohne Antworten auf nur eine der
schicksalsschweren Fragen, mit denen das Land konfrontiert ist.
ALSO GIBT es oder gibt es keinen Unterschied zwischen ihnen?
Sicherlich. So wichtig wie jener kleine Unterschied.
Mofaz hat eine Menge Erfahrungen. Livni hat kaum welche. Aber man
kann fast nicht sagen, was schlimmer ist.
Mofaz war Generalstabschef der IDF, Verteidigungsminister, Minister
für Transportwesen. Bei all diesen Jobs hat er sich nur in einer
Hinsicht ausgezeichnet: dass er sich nirgends ausgezeichnet hat. In
jedem dieser Ämter war er mehr oder weniger mittelmäßig.
Er
hat nie etwas getan, das in den Annalen Israels Erwähnung finden
wird. Sein einziger militärischer Sieg war während der „Operation
Schutzschild“ über die Bewohner des Flüchtlingslagers bei Jenin,
als er mit einer der stärksten Armeen der Welt eine Gruppe
Jugendlicher, die mit einigen Pistolen und Gewehren ausgerüstet
war, besiegte.
Er
hat nie eine originelle Idee von sich gegeben. Keiner kann sich an
einen einzigen Satz von ihm erinnern außer dem Statement „Der Likud
ist Heimat. Man verlässt seine Heimat nicht.“ Am nächsten Tag
verließ er den Likud und sprang auf den Wagen von Kadima.
Mofaz’ reichen „Erfahrungen“ gegenüber steht der Mangel an
Erfahrungen von Zipi Livni . Wenn Mofaz ein Blatt Papier wäre, dann
wäre dies voll zweitrangiger Texte, Livnis Seite dagegen wäre ein
unbeschriebenes Blatt.
Sie wurde zum ersten Mal als jemand bekannt, der in einem frühen
Stadium auf Sharons Wagen zustieg. Das zeugt von einem ziemlich
scharfen politischen Verstand. Sie hatte mehrere untergeordnete
Positionen und erreichte schließlich das Außenministerium. Das Amt
des Außenministers in Israel ist wie in anderen Ländern auch ein
sehr wünschenswertes: man kann kaum scheitern. Man steht oft im
Scheinwerferlicht, man wird bei eindrucksvollen internationalen
Sitzungen photographiert, man empfängt bedeutende ausländische Gäste
und nur wenigen Leuten ist klar, dass die Außenpolitik vom
Regierungschef, dem Präsidenten ( in den USA oder Frankreich) oder
dem Ministerpräsidenten (in Großbritannien oder Israel) gemacht
wird.
Alle paar Tage trifft sich Livni einmal mit Abu Ala, dem
palästinensischen Vertreter, um bei den fiktiven Verhandlungen auf
der Stelle zu treten . Nach mehr als einem Jahr wurde kein einziger
Artikel des absurden „Schubladen-Abkommens“ erreicht. Bei diesem
Tempo kann Frieden in einem oder zwei Jahrhunderten erreicht
werden.
Wo
stehen Mofaz und Livni bezüglich der nationalen Politik? Bei Mofaz
gibt es keinen Zweifel. Er ist durch und durch Militarist, in jeder
Hinsicht ein Mann der Rechten, gegenüber dem orthodox-religiösen
Establishment unterwürfig und kriecherisch vor den Siedlern. Seine
Wahl würde zumindest ein totales Einfrieren der Politik bedeuten und
eine beschleunigte Ausdehnung der Siedlungen. Kurz gesagt:
permanenter Krieg.
Von Livni weiß keiner genau, was sie wirklich denkt: in letzter Zeit
versuchte sie Olmert zu überholen – manchmal von rechts und manchmal
von links. Wie fast jeder Außenminister strahlt sie jetzt Mäßigung
aus. Das hängt mit dem Amt zusammen. Aber vor noch nicht so langer
Zeit sprach sie von den „Oslo-Verbrechern“ und meinte Yitzhak Rabin
und seine Partner. Jetzt spricht sie von „zwei Nationalstaaten“
und zeichnet das Bild eines jüdisch demographischen Staates. All
dies sind heute sichere und bewährte Slogans. Als
Ministerpräsidentin könnte sie uns in jeder Richtung überraschen.
Einige könnten sagen: wir kennen Mofaz – also werden wir ihn nicht
wählen. Livni kennen wir noch nicht. Also geben wir ihr eine Chance.
Vielleicht sollte man Livni dem anderen vorziehen.
ÜBER DIE Kadima-Vorwahlen könnte man sagen, dass sie ein Witz sind
innerhalb einer Farce, die in eine Komödie verpackt ist (mit einer
Entschuldigung gegenüber Winston Churchill, der hier paraphrasiert
wird).
Als Ariel Sharon den Likud verließ und seine neue Partei aufbaute,
zog er Flüchtige aus allen anderen Parteien an, all jene, die
dachten, dass ihr Vorankommen in der eigenen Partei blockiert sei.
Der Slogan hätte so lauten können: Opportunisten aller Parteien
vereinigt euch! Shimon Peres und Haim Ramon kamen von der
Laborpartei, Olmert, Livni, Meir Sheetrit und - im letzten
Augenblick - Mofaz aus dem Likud. Sie hatten nichts gemeinsam außer
der Hoffnung, dass, wenn man sich an Sharons Rockschöße klammert,
man in die Knesset und in die Regierung kommen könne.
Erst später, viel später kam etwas zustande, das (mit einiger
Phantasie) Partei genannt werden kann. Funktionäre brachten
Freunde, Stimmen-Käufer brachten Hunderte und Tausende von
Wahlurnen-Söldner, ganze Blöcke von Wählern. Dies sind die 70 000
„registrierten Mitglieder“. Sie sind es, die bei den Vorwahlen den
Parteivorsitzenden wählen, der dann automatisch der
Ministerpräsident wird.
Das ist eine Karikatur einer Demokratie. Es bestätigt Churchills
Ausspruch, dass „ die Demokratie die schlechteste Form der Regierung
ist, außer all den andern Arten, die von Zeit zu Zeit ausprobiert
wurden.“
Der Gedanke, dass ein paar hundert gekaufte Stimmen entscheiden
werden, wer der nächste Ministerpräsident von Israel sein wird, ist
einfach widerlich.
ALLE UMFRAGEN zeigen, dass Livni einen großen Vorteil vor Mofaz hat,
so weit es die allgemeine Öffentlichkeit betrifft, und eine gute
Chance hat, die Knessetwahlen zu gewinnen. Aber Mofaz hat große
Aussichten, bei den Kadima-Vorwahlen zu gewinnen, dank den
Stimmblöcken, der von den Stimmkäufern gewonnen wurden. Er versprach
eine rechts-national-religiöse Koalition in der gegenwärtigen
Knesset aufzustellen, sodass bis 2010 keine allgemeinen Wahlen
nötig wären.
Und was ist mit Frieden? Mit der Besatzung? Wirtschaftspolitik?
Soziale Probleme? Bildung? Gesundheitsversorgung?
Ach, wer zum Teufel schert sich schon darum ?
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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