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Scherbenberg und Trümmerstätte
Ward die Welt und ward mein Leben.
Weinend möchte ich mich ergeben,
Wenn ich diesen Trotz nicht hätte.
Diesen Trotz im Grund der Seele,
Mich zu stemmen, mich zu wehren,
Diesen Glauben: was mich quäle,
Müsse sich ins Helle kehren,
Diesen unvernünftig zähen
Kinderglauben mancher Dichter
An unlöschbar ewige Lichter,
Die hoch über allen Höllen stehen.
(Aus: Späte Prüfung, Hermann Hesse) |
Reuven Moskovitz
Berlin, September 2010
Liebe Freundinnen und Freunde!
Mag
sein, dass meine Eitelkeit mich zu der Vermutung
treibt, dass manche meiner Freunde sich fragen,
warum ich mich nicht melde. Mit großer Zufriedenheit
kann ich feststellen, dass ich in guter Gesundheit
bin, kein Auto hat mich erwischt, auch keinen
Herzinfarkt habe ich erlitten.
Es
stimmt, dass ich diesen Brief schreibe mit einem
einigermaßen gebrochenen Herzen. Bei meinem 80.
Geburtstag bekam ich von der Malerin Thea Bohmer
eine Aquarell „Reuven, ein Rufer in der Wüste“. Ich
habe mich immer als ein Rufer in einer großen
Gewaltwüste an eine kleine Oase der Friedfertigen
gewendet. Ich hoffe, dass ich mich irre, wenn ich
den Eindruck habe, dass diese Oase von Hunderten
Freunden am Schrumpfen ist. Es kann aber auch mit
meiner kindlichen Annahme zu tun haben, dass alle
Bekannten auch meine Freunde oder Gleichgesinnten
sind. Was mich anbelangt, muss ich gestehen, dass
auch die „Sintflut“ von Informationen, die meine
Meinung bestätigen, zu meiner Schreibzurückhaltung
beigetragen hat.
Was
meinen gegenwärtigen Zustand anbelangt, kann ich nur
betonen, dass meine Mahnungen und Befürchtungen
nicht nur bestätigt, sondern im rasanten Ausmaß noch
übertroffen wurden. Mit Erich Fried kann ich
behaupten, dass es nicht darauf ankommt, wann die
israelische Politik und die Regierenden zu
Verbrechern geworden sind. Es kommt jedoch darauf
an, dass diese Politik in der Gegenwart mehr und
mehr verbrecherisch wird. Ich habe gegen die
Unterdrückung, Einsperrung und Benachteiligung der
unter Besatzung lebenden palästinensischen
Bevölkerung unablässig aufgeschrien. Heute wird
Israel regiert von einer nationalistischen,
rassistischen und klerikalen Koalition, die nicht
nur die Palästinenser im Visier hat, sondern die
israelische Demokratie. Das oberste Gericht steht
unter einem dauernden Angriff. Unter ähnlichem
Angriff stehen auch Teile der israelischen
Palästinenser.
Zum
Beispiel streikte in Berlin Firas Maraghy, ein
Jerusalemer Palästinenser 41 Tage lang. Er
protestierte gegen den Versuch, seiner Tochter und
seine Frau das Recht eines Jerusalemer Wohnsitzes zu
verweigern. Inzwischen gab es ein Angebot seitens
der israelischen Botschaft zur „Lösung des
Problems“. Ein vorsichtiges Zeichen, dass andauernde
Proteste und Solidarität – leider auch unter
menschenunwürdigen Bedingungen für Firas Maraghy -
eine positive Wendung nehmen können.
Ein
anderes Beispiel: In Jerusalem steht ein ganzes
Viertel – Sheich Jarach – unter der Bedrohung
evakuiert zu werden, mehrere Familien wurden von
ihren Wohnungen vertrieben und leben in Zelten. Das
Wort „Judaisierung“ mag manche sensible und gut
meinende Deutschen empören. Das aber ist genau die
Absicht des rassistischen Bürgermeisters von
Jerusalem.
Dutzende Häuser in Silwan – unmittelbares
Nachbarviertel der Klagemauer - zum Beispiel stehen
unter der Bedrohung, als illegal gebaute Häuser
zerstört zu werden. Wer aber kann legal in Silwan
bauen, wenn niemand die Genehmigung erhält, selbst
auf dem eigenen Grundstück zu bauen?
Wie
kann man diese nur sehr wenige von vielen Beispielen
anders als mit dem Wort „Judaisierung“ bezeichnen?
Nicht nur die in Israel wohnenden Palästinensern und
Beduinen werden verfolgt. Inzwischen werden auch
israelische Juden boykottiert, die sich kritisch
gegenüber der israelischen Politik äußern. Zum
Beispiel werden zu Zeit Künstler verleumdet, die
sich weigern in der jüdischen Siedlung in Westbank,
Ariel, aufzutreten. Sie wollen damit ein Zeichen
setzen gegen die Normalisierung jüdischer Besatzung
in der Westbank. Theaterspielhäuser und
Ticketverkäufer werden aufgerufen diese Künstler mit
allen Mitteln zu boykottieren.
Ursprünglich wollte ich nicht darüber schreiben.
Doch Wut und Empörung drängen mich dazu, die zu
einem Zorn der Hoffnungslosigkeit zu werden drohen.
Es mag der Spruch stimmen, dass die Hoffnung zuletzt
stirbt. Im gegenwärtigen Zustand und vorausgesetzt,
dass keine radikale Wende kommt, ist meine Hoffnung
fast tot.
Nicht gestorben ist meine Bereitschaft, bis zu
meinem letzten Atemzug gegen diesen unsäglichen
Zustand zu protestieren.
Nun
möchte ich kurz ein paar persönliche Anliegen
erörtern:
Im
Gegensatz zu der Lage in Israel/Palästina geht es
mir und meine Familie mehr als gut. Ich werde bald
82 Jahre alt und in diesem Jahr haben wir den 80.
Geburtstag meiner Frau Varda gefeiert. Viele Freunde
und Bekannten kennen sie – viele haben genossen ihre
Gastfreundschaft und ihre künstlerischen Begabungen
und ich habe ihre endlose Geduld und Unterstützung
erlebt. Anlässlich ihres 80. Geburtstags haben meine
Kinder und ich Varda mit der Ausgabe eines Buches,
mit einer kleinen Auswahl ihrer Bilder und Gedichte,
überrascht. Nun wird hiervon eine deutsch/hebräische
Version gedruckt. Es ist mir ein Bedürfnis, unsere
Freunde und Bekannten zu bitten, ihr als Zeichen der
Anerkennung bei der Vorstellung des Buches
persönlich zu begegnen. Ausnahmsweise bemühe ich
mich für diese Veranstaltungen nicht zu
improvisieren, sondern vorzeitig Termine
festzulegen. Manche unserer Aufenthalte sind jetzt
schon bekannt. In diesem Zeitrahmen werden die
Buchvorstellungen stattfinden. Bitte merkt Euch
diese Zeiten schon mal vor:
13.11.2010: Berlin, Niemöller Haus, Pacelliallee 61,
16 h – 20 h
16.11.2010: Berlin, Haus der Kirche, Goethestr. 27 –
30, (am Karl-August Platz) 18 h – 21 h
(ab 17 h Empfang mit der Möglichkeit zum Anschauen
einiger Bilder von Varda)
18.11.2010: Stuttgart, Kulturzentrum Merlin, 19:30h
19.11.2010: Hamburg, Cafe Quo Vadis, Grendelallee 95
(im Grendelviertel)
21.11.2010: München, Club Voltaire, Matinee,
Frauenhoferstr. 9 – München, 11h
29.11.2010: Gevelsberg
Genauere Angaben zu den Terminen in Gevelsberg
werden die Interessierten dort von den Organisatoren
erhalten können.
In
der Hoffnung, möglichst vielen Freunden und
Bekannten zu begegnen, verbleibe ich in tiefer und
dankbarer Verbundenheit,
Euer
Reuven
p.s.
Ich werde über meine Erfahrungen auf dem jüdischen
Schiff nach Gaza in den nächsten Wochen berichten,
aber nur noch per e-mail verschicken.
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