Die Siege im
Gazastreifen werden Israel einen hohen Preis kosten
Die jüdisch ethische
Tradition bedeutet auch, die Palästinenser wie Menschen zu
behandeln.
Sara
Roy, 2. Januar 2009
Cambridge, Mass. Ich höre die
Stimme meiner Freunde in Gaza so klar, als wären wir noch per
Telefon verbunden – ihre Agonie hallt in mir wieder. Sie weinen
und klagen über den Tod ihrer Kinder, einige, kleine Mädchen wie
meine Tochter. Ihre Körper sind verbrannt und sinnlos zerstört
worden.
Ein palästinensischer Freund fragte
mich: „Warum greift Israel genau dann an, wenn die Kinder aus
der Schule kommen und die Frauen auf dem Markt sind?“ Es gibt
Berichte, einige Eltern könnten ihre toten Kinder nicht finden
und irren verzweifelt suchend durch die überfüllten
Krankenhäuser.
Als Juden, die wir heute den
letzten Abend von Chanukka, das jüdische Lichterfest, feierten,
und uns dabei an die Wiederauflebung unseres Volkes erinnerten,
frage ich mich: Wie kann ich mein Jüdisch-sein feiern, während
Palästinenser getötet werden.
Der jüdische Theologe Marc Ellis
fordert uns weiter heraus, wenn er fragt, ob der jüdische Bund
mit Gott noch besteht oder angesichts der jüdischen
Unterdrückung der Palästinenser nicht mehr besteht? Hat die
jüdisch ethische Tradition für uns noch Gültigkeit ? Gilt das
Versprechen der Heiligkeit (gemeint ist wohl die „Auserwählung
des jüdischen Volkes durch Gott“ ER) – die für unsere Existenz
so wichtig ist – noch immer?
Die Glücklichen im Gazastreifen
sind die in ihre Wohnungen Eingesperrten; sie sind hungrig,
durstig, ohne Strom und Licht – ihr Leben kann man fast nicht
mehr Leben nennen – aber ihre Kinder leben noch.
Seit dem 4. November, als Israel
die Feuerpause mit der Hamas brach und Gaza in einem noch nie
da gewesenen Ausmaß angriff – eine Tatsache, die nun mit Gazas
Toten beerdigt wird – eskaliert die Gewalt, da die Hamas mit
Hunderten von Qassam-Raketen reagiert und nach Israel abfeuert
und israelische Zivilisten tötet. Es wird berichtet, Israels
Strategie sei, die militärischen Ziele der Hamas zu treffen -
aber wie kann ich diesen Unterschied meinen palästinensischen
Freunden erklären, die ihre Kinder beerdigen müssen.
Am 5. November sperrte Israel alle
Übergänge in den Gazastreifen ab, reduzierte zum großen Teil die
Lieferung von Lebensmitteln, ja, lehnte die Lieferung auch von
Medikamenten, Brennstoff, Kochgas und Ersatzteilen für das
Wasser- und Abwässersystem völlig ab. Einer meiner Kollegen in
Jerusalem sagte: „Diese Belagerung ist etwas völlig Abartiges.
So etwas haben die Israelis bis jetzt noch nie gemacht.“
Während des Novembers kamen täglich
durchschnittlich 4,6 LKWs mit Lebensmitteln von Israel nach
Gaza, im Oktober waren es im Durchschnitt noch 123 LKWs pro Tag.
Ersatzteile für Reparaturen und zur Erhaltung des Wassersystems
werden seit über einem Jahr nicht mehr durchgelassen. Die
Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete gerade, die Hälfte
der Ambulanzwagen von Gaza seien nicht mehr in Ordnung.
Nach Associated Press ist die
Todesrate bis Dienstagmorgen von drei Tagen auf mindestens 370
gestiegen und die der Verletzten auf 1400 *. Die UN sagt, dass
wenigstens 62 der Toten Zivilisten sind. Und ein
palästinensischer Angestellter des Gesundheitswesen sprach von
mindesten 22 Kindern unter 16, die getötet wurden und von 235,
die verletzt wurden.
In den fast 25 Jahren, in denen ich
mich mit dem Gazastreifen und den Palästinensern beschäftige,
war ich nie mit so schrecklichen Bildern verbrannter Kinder
konfrontiert .
Doch für die Palästinenser sind es
nicht nur Bilder – es ist Wirklichkeit. Und deshalb fürchte
ich, etwas ganz Tiefgründige/ Wesentliches habe sich
verändert, das man nicht so leicht ungetan machen kann. Wie kann
man im Zusammenhang mit dem, was heute im Gazastreifen passiert,
über Versöhnung als einem Weg der Befreiung sprechen, von
Sympathie als Quelle von Verständnis? …
Es ist eine Sache, jemandem sein
Land, sein Haus, seinen Lebensunterhalt wegzunehmen, seine
Ansprüche zu verunglimpfen, seine Gefühle zu ignorieren. Es ist
eine andere Sache, sein Kind umzubringen. Was geschieht mit
einer Gesellschaft, der Erneuerung verweigert und der die
Zukunft genommen wird?
Und was wird mit den Juden als
Volk geschehen, ob sie nun in Israel leben oder nicht? Warum
sind wir Juden nicht in der Lage, die fundamentale
Menschlichkeit der Palästinenser zu akzeptieren und sie in
unsere moralischen Grenzen mit aufzunehmen. Ja, wir weisen sogar
jede menschliche Verbindung zu dem von uns unterdrückten Volk
zurück. Im Grunde genommen ist es unser Ziel, das menschliche
Leid nur auf ein Volk, nämlich allein auf uns, zu
konzentrieren.
Unsere zurückweisende Haltung
gegenüber dem „anderen“, wird uns selbst ruinieren. Wir müssen
die Palästinenser und die anderen arabischen Völker in unser
jüdisches Verständnis der Geschichte mit einbeziehen, weil sie
einfach ein Teil dieser Geschichte sind. Wir müssen vielmehr
unser Narrativ hinterfragen und auch das, wie wir dies
anderen weitergegeben haben, als weiter die Überzeugungen und
Gefühle zu hegen, die die jüdisch ethische Tradition verraten.
Jüdische Intellektuelle sind gegen
Rassismus, Unterdrückung und Ungerechtigkeit überall auf der
Welt. Es ist jedoch unannehmbar – ja für einige fast ein Akt von
Ketzerei – dagegen zu sein, wenn Israel der Unterdrücker ist.
Dieses Messen mit zweierlei Maß muss ein Ende haben.
Israels Siege sind Pyrrhussiege und
decken die Grenzen von Israels Macht auf und gleichzeitig unsere
Grenzen als Volk: nämlich unsere Unfähigkeit, ein Leben ohne
Schranken zu leben. Sind dies die Grenzen unserer Wiedergeburt
nach dem Holocaust?
Wie überwinden wir in einer
Nach-Holocaustwelt als Juden, die wir durch den jüdischen Staat
mächtig geworden sind, Grausamkeit und Unterwürfigkeit – und
bleiben dabei menschlich ?
Die Antworten auf diese und
ähnliche Fragen bestimmen, wer wir sind und was aus uns letzten
Endes wird.
Sara Roy, Tochter von
Holocaustüberlebenden, ist eine bekannte Wissenschaftlerin am
Zentrum für Nahöstliche Studien an der Harvard-Universität, USA,
und Autorin von „The Gazastrip – The Political Economy of
De-Development“ und „Failing Peace: Gaza and the
Palestinian-Israeli Conflict“
(dt. Ellen Rohlfs)
(
www.osmonitor.com/2009/0102/p09s01-coop.html
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