Die dringende
Bitte einer Jüdin ( A Jewish Plea)
Sara Roy
Während des
Sommers nahmen mein Mann und ich an einer Konversionsfeier unserer
Adoptivtochter Jess teil. Wir nahmen sie mit zur Mikweh, einem
jüdischen Ritualbad, wo sie in einem Bad mit sprudelndem Wasser
total untertauchen musste …Dieser Ritus der Reinigung, Umwandlung
und Wiedergeburt ist im Judentum etwas sehr Zentrales und bedeutet
Erneuerung und neue Möglichkeiten.
Der Tag dieser
Feier war gleichzeitig der Tag, an dem Israel seine gnadenlose
Bombardierung des Libanon begann und einen fast drei Wochen langen
gewalttätigen Angriff auf den Gazastreifen anfing, einem Ort, der
mir in den letzten beiden Jahrzehnten zur zweiten Heimat geworden
war. Diese schmerzvolle Nebeneinanderstellung von Wiedergeburt und
Zerstörung wird uns in Erinnerung bleiben, uns auf immer schwer
belasten. Doch das Verbindungsglied, das tief in uns als Juden
liegt – zwischen Judentum und Zionismus – eine Verbindung, die ich
nie unkritisch akzeptierte, sondern als historisch unvermeidbar und
verständlich begriff, ist nun für mich zerbrochen.
Anders als in
vergangenen Konflikten, in die Israel, das palästinensische und
andere arabische Völker mit einander verwickelt waren, ist dieser
qualitativ anders - ein Wendepunkt – nicht nur hinsichtlich der Art
und Weise, wie Israel reagierte: seine Bereitschaft zu zerstören
(und dies gründlich) aber auch hinsichtlich der praktisch
unqualifizierten Unterstützung der organisierten amerikanischen
Juden für Israels brutale Aktionen. Das war für mich zwar nicht neu,
aber nun war es für mich unerträglich geworden.
Ich wuchs in
einer Familie auf, in der das Judentum nicht so sehr als Religion
definiert und praktiziert wurde, sondern als ethische und
kulturelle Haltung. Gott war gegenwärtig aber nicht zentral. Israel
und die Vorstellung einer jüdischen Heimat waren für meine Eltern,
die Auschwitz, Chelmo und Buchenwald überlebten, sehr wichtig. Aber
anders als viele ihrer Freunde, waren meine Eltern gegenüber Israel
nicht unkritisch. Gehorsam gegenüber einem Staat war ursprünglich
kein jüdischer Wert, besonders nicht nach dem Holocaust. Das
Judentum lieferte den Kontext für jüdisches Leben, für Werte und
Überzeugungen, die nicht an nationale und territoriale Grenzen
gebunden sind, sondern darüber hinaus auch den andern einschlossen,
immer auch den anderen. Für meine Mutter und meinen Vater bedeutete
Judentum Zeugnis ablegen, gegen Ungerechtigkeit ankämpfen und sich
weigern zu schweigen. Es bedeutete für sie Mitleiden, Toleranz und
Hilfe gegenüber Hilfsbedürftigen. Wenn das nicht mehr vorhanden ist
– so lehrten sie mich – hören wir auf, Juden zu sein.
Viele Leute,
jüdische und andere, die über Palästinenser und Araber schreiben,
versäumen, die grundsätzliche Menschlichkeit des Volkes zu
akzeptieren, über das sie schreiben; es ist ein Mangel, der sich aus
Ignoranz, Angst und Rassismus ableitet. Besonders innerhalb der
organisierten jüdischen Gemeinschaft war es immer unakzeptabel zu
behaupten, dass Araber, besonders Palästinenser, genau wie wir sind,
dass auch sie im Wesentlichen Menschlichkeit haben und in unsere
moralischen Grenzen eingeschlossen werden müssen. Man müsse damit
aufhören, sie als eine „Art Lösung“ zu betrachten , als nützlichen,
aber feindlichen „anderen“, wie Eduard Said sagte.
….
Warum ist es so
schwierig, ja unmöglich, Palästinenser und andere Araber in das
jüdische Geschichtsverständnis mit einzubeziehen? … Warum ist es
unter jüdischen Intellektuellen praktisch Pflicht, gegen Rassismus,
Unterdrückung und Ungerechtigkeit fast überall auf der Welt
einzutreten und inakzeptabel – ja, für einige ein Akt der Häresie –
genau gegen all dies zu sein, wenn Israel der Unterdrücker ist. Für
viele unter uns hängen Geschichte und Erinnerung eng zusammen. Dies
behindert weiteres Nachdenken: der Feind wird dann nicht zu einem
Volk, das besiegt werden muss, sondern wird zu einer Idee,
ausgelöscht zu werden. (
nach Northrop Frye).
Was passiert mit
dem anderen, wenn wir, ein gebrochenes und erschöpftes Volk, ihn
fortwährend misshandeln und ihn zum Feind machen, den wir jetzt
benötigen….Was geschieht mit einem Volk, wenn sich in ihm
Erneuerung und Ungerechtigkeit stürmisch mit einander verbinden?
Ein neuer
Diskurs des Unbewussten
Wir sprechen
gnadenlos und sind taub gegenüber dem Schmerz des anderen: Unsere
Worte sind z.B. wie die folgenden:
„… wir dürfen
den wichtigsten Aspekt dieses Krieges nicht vergessen: die Hisbollah
und wofür diese Terroristenorganisation steht, muss um jeden Preis
vernichtet werden .. was geht uns die Zukunft der Shiitenstadt Bint
Jbeil an? .. Uns hat nur die Zukunft und die Sicherheit des Staates
Israel zu interessieren“ (Zeev Schiff, Militäranalytiker bei
Haaretz)
„…Wir müssen die
Dörfer im Süden zu Staub machen…“ „Ich weiß nicht, warum es dort
noch Strom gibt?“ „Jeder im südlichen Libanon ist ein Terrorist und
mit Hisbollah verbunden..“ (Haim Ramon, Justizminister) „Ein Ort
von dem Raketen auf Israel abgeschossen werden, muss durch Feuer
zerstört werden.“ (Yedioth Ahronoth).
„Für jede
Katyusha auf Haifa, müssen 10 Gebäude in Beirut bombardiert werden
(Dan Halutz). Israels stellvertretender Ministerpräsident Ely Yishai
schlägt vor, den südlichen Libanon in einen „Sandkasten“ zu
verwandeln und Mosche Sharoni schlägt die Vernichtung des
Gazastreifens vor. …
Viele von uns,
vielleicht die meisten, haben erklärt, dass alle Palästinenser und
Libanesen Feinde sind, die die Existenz Israels und die des
jüdischen Volkes bedrohen. Deshalb ist jeder, den wir töten, jedes
Haus, das wir zerstören, ein legitimes militärisches Ziel.
Terrorismus ist ein Teil ihrer Kultur und wir müssen unsere
Fähigkeit der Abschreckung verstärken. …
Bei uns werden
Mitleid und schlechtes Gewissen als Schwäche ausgelegt; punktuelle
Angriffe werden als Zurückhaltung und Höflichkeit angesehen und
augenblickliche Feuerpausen als Akte der Menschlichkeit und
Freundlichkeit. „Verlasst euer Haus, wir werden es zerstören“ Ein
paar Minuten später ist wieder ein Haus im Gazastreifen zerstört.
Die Warnung macht – wenn auch nicht sie – doch uns gut und sauber.
Gibt es eine bessere Illustration für unsere Moral? Es ist doch eine
humane Geste, wenn man die Leute auffordert, das Haus zu verlassen,
kurz bevor es zerstört wird?
Unsere Warnung
hat noch einen Zweck: sie machen unsere Aktionen legitim. Und unser
Wunsch nach Rechtmäßigkeit ist grenzenlos. …Wenn Legitimität noch
nicht gewährt wird, dann muss sie eben geschaffen werden. Dies
erklärt Israels Obsession mit Gesetzen und Legalitäten, um uns
selbst abzusichern, dass alles legal ist. Um etwas erlaubbar zu
machen, werden Lizensen erweitert. Auf diese Weise versichern wir
uns, dass wir moralisch in Ordnung sind. Ein Stück Papier genügt.
Können Juden
gegen Folgendes opponieren: gegen Tyrannei, Unterdrückung,
Besatzung, Ungerechtigkeit? Nein, wir wehren uns nicht mehr gegen
diese Dinge. Für zu viele von uns sind sie nichts Übles mehr,
sondern notwendig und gut. Wir können nicht mehr ohne sie leben. Was
macht das aus uns? Wenn wir uns selbst ansehen, was sehen wir:
einen Nicht-Juden, ein Kind, dessen Leid wir problemlos verursacht
haben, ja, dessen Tod gefordert wird…
Was sehen wir
jetzt: ein Volk, das Vergnügen daran findet, andere zu hassen. Hass
ist uns vertraut, wie kaum etwas anderes. Wir verstehen ihn, und es
ist sicher. Es ist das, was wir kennen. Wir fürchten unsere eigene
Entstellung nicht – sehen und erkennen wir sie überhaupt? – wir
fürchten nur den Verlust unserer Abschreckungsmacht. Unsere
Pathologie liegt in unserm Bemühen, moralisch zu sein, was wir nicht
mehr sind. Wir werden nicht mehr verfolgt, verfolgen aber andere.
Wir sind weit
entfernt von der denkenden Welt – brillant ignorant, blind
visionär, unfähig von innen her zu widerstehen. Wir leben an einem
unveränderlichen Ort, an dem es keine Jahreszeiten gibt und keine
Überlegung, keine Normalität, kein Wachstum und vor allem – es gibt
keinen anderen. Immer noch ein Ghetto, aber anders als vorher – wir
haben es uns selbst geschaffen.
Unsere
Geschichte ist eine von Siegen und Niederlagen. Was bedeutet es zu
siegen? Bombardierte Autos - noch immer mit weißen Flaggen am
Fenster. Mehr Tote und verstümmelte Leichen von alten Leuten und
Kindern überall in den verwüsteten Dörfern Ein ganzes Land
kriegsversehrt und zerbrochen. Ein nicht endender Krieg? Dies ist
unser Sieg, unser Ziel, dem wir applaudieren. Unserer Verfolgung
wurde nun die von anderen hinzugefügt…
Ihr Leiden
können wir leicht ignorieren, sie von ihren Lebensmitteln
abschneiden, auch vom Wasser, vom Strom und der Medizin, wir können
ihr Land konfiszieren, ihre Ernte zerstören, den Aus- und Weggang
verhindern --- ihnen die Luft nehmen. Wir schweigen. Rassismus
erlaubt uns nicht, in den Arabern Menschen, wie wir es sind, zu
sehen. Es macht uns wütend, wenn wir sehen, dass sie trotz Schwäche
nicht versagen – und wir trotz unserer Stärke versagen. Unserer
Ansicht nach sind wir die einzigen Opfer, verwundbar und
traumatisiert. ….
Können wir uns
jemals von der Möglichkeit unserer Macht zu zerstören abwenden?
Hier möchte ich eine Geschichte aus meiner Familie erzählen, die
einen Augenblick schildert, die mich für all mein Arbeiten und
Schreiben inspiriert hat:
Meine Mutter und
meine Schwester hatten gerade die Befreiung des Konzentrationslagers
durch die russische Armee erlebt. Nachdem alle Nazi-Angestellten und
KZ-Wächter von den Russen gefangen genommen worden waren, sagten die
Russen zu den KZ-Insassen, sie könnten nun mit den deutschen Tätern
tun, was sie wollten. Viele Überlebende, ausgezehrt und kaum noch am
Leben, fielen wütend über die Deutschen her. Meine Mutter und
meine Tante standen nur wenige Meter von dieser schrecklichen Szene
entfernt, die sich vor ihnen abspielte. Sie fielen einander in die
Arme und weinten. Meine Mutter, die die physisch stärkere von den
beiden war, umarmte meine Tante, die kaum mehr stehen konnte, und
hielt sie fest. Sie sagte zu meiner Mutter: „Das können wir nicht
tun. Unsere Eltern würden sagen, dass dies nicht recht wäre, auch
nicht nachdem, was wir durchgemacht haben. Wir müssen uns um
Gerechtigkeit bemühen, und nicht Rache nehmen. Es gibt keinen
anderen Weg.“ Meine Mutter küsste ihre Schwester und beide drehten
sich um und gingen weg.
Wo liegt die
Quelle unsrer Erlösung und unserer Errettung? Sie liegt letztlich in
unserer Bereitschaft, den anderen anzuerkennen – das Opfer, zu dem
wir es gemacht haben – Palästinenser, Libanesen und auch Juden – und
auch die Ungerechtigkeit eingestehen, die wir ausgeübt haben.
Vielleicht können wir dann eine gerechtere Lösung finden, bei der
wir versuchen, normal zu sein, um auch endlich zu der Erkenntnis
zu kommen, dass es nicht unsere einzige Hoffnung ist, in unsern
Häusern friedlich zu sterben, wie es ein Zionist vor langer Zeit
einmal sagte, sondern in diesen Häusern friedlich zu leben.
Als meine
Tochter Jess in der Mikweh zum dritten und letzten Mal untertauchte,
sah sie unter Wasser einen Regenbogen. Dieses wunderschöne Bild
möchte ich als ein Zeichen ihrer Wiedergeburt nehmen -- und bete
verzweifelt auch um eine Wiedergeburt unseres Volkes.
Sara Roy, eine anerkannte
Wissenschaftlerin im Zentrum für Nahöstliche Studien an der
Harvard-Universität.
„A Jewish Plea“ wird
veröffentlicht in „The War on Lebanon: A Reader.“ Im Frühling
2007.Interlink Publishing
Autorin des Buches :
„Gaza Strip – The Political Economy of De-Development”, 1995
(dt. und stark gekürzt: Ellen
Rohlfs) |