2017
jährt sich der Beginn der
völkerrechtswidrigen Besatzung der
palästinensischen Gebiete zum 50. Mal. Das
gibt mir immer wieder Anlass, auf die
Anfänge meiner Arbeit als Rechtsanwältin für
Palästinenser zurückzublicken. In allzu
vielen Fällen hatten meine Bemühungen leider
keinen Erfolg; das war und ist frustrierend.
Es gab aber auch unverhoffte Lichtblicke,
wenn der Zufall und besondere glückliche
Umstände dazu führten, dass mein Auftreten
einem Mandanten das Leben rettete.
So geschehen
im Falle meines palästinensischen Freundes
Suleiman Al-Najab, der leider schon vor
vielen Jahren verstorben ist. Er hat
politisch gegen die israelische Besatzung
gekämpft, und ich als seine Anwältin habe
versucht, ihm gegen die israelische Willkür
zu helfen. Letztendlich wurde er wie viele
seiner Mitstreiter aus Palästina deportiert
und verbrachte viele Jahre im Ausland. In
meiner Autobiographie „Zorn und Hoffnung"
beschreibe ich in dem Kapitel „Glück"
(Seiten 191 – 195) unser Treffen nach vielen
Jahren in Moskau. - Ein teures Andenken an
ihn ist mir sein Foto mit Nelson Mandela,
das er mir mit einer rührenden Widmung
geschenkt hat.
Jedes Klingeln
des Telefons ließ mich in die Höhe fahren,
aber er war es nicht. Am
anderen Ende der Leitung war ein
Journalist, der ein Interview wollte, dann
ein Experte für den Nahen Osten,
danach eine Frau aus Kanada, die mit mir
über die Friedensbewegung in Israel
reden wollte. Jedesmal antwortete ich mit
erzwungener Höflichkeit und
sicherlich befremdlicher Ungeduld. Ich
befürchtete, er könnte ausgerechnet
in diesem Moment anrufen, und das Telefon
wäre besetzt. Wir hatten uns seit
langem nicht mehr gesehen, und nun hatte es
uns beide nach Moskau verschlagen,
wir waren einer Einladung des
Internationalen Frauenkomitees für
Frieden gefolgt.
Das letzte Mal
hatten wir uns 1974 in Helsinki gesehen,
kurz nach seiner
Vertreibung. Dort übergab er der
Kommission, die im Auftrag des
Weltfriedensrates die Aktivitäten
Israels in den besetzten Gebieten
untersuchte, seinen Bericht. Suleiman
Al-Najabs Anruf blieb aus und ich zögerte,
ob ich ihn anrufen sollte. Er wusste
schließlich, dass ich hier war, er hatte
selbst einen Bekannten darum gebeten,
mich ausfindig zu machen. Ich betrachtete
mich prüfend im Spiegel. Die ganzen
Jahre über hatte ich ihm Botschaften
geschickt, halb scherzhaft, halb ernst,
dass
wir uns dringend treffen müssten, bevor ich
alt geworden sei.
Schließlich
griff ich zum Telefon. Zuerst sprach ich
Russisch, dann Arabisch. Im
Hintergrund war allerlei Lärm zu hören,
bis ich am Ende eine Stimme hörte:
„Felicia?" Ich beschwerte mich
darüber, dass er nicht angerufen hatte. Er
lachte, bat mich, nicht böse zu sein,
und erklärte mir, dass er es versuchte habe,
aber ohne Erfolg. Und dann hätte er
einen Termin gehabt. „Nein, ich bin nicht
böse", sagte ich zu ihm.
„Ich habe auf
dieses Treffen ja seit dreizehn Jahren
gewartet."
„Ich auch,
Felicia, ich auch"; hörte ich seine Stimme,
und die Spannung wich.
Wir trafen uns
im Hotel. Auf seinen Lippen lag das Lächeln,
das ich so liebte. Wir
umarmten uns, schauten einander in die
Augen. Ich hörte von ihm, was ich zu hören
gehofft hatte, und war glücklich. Es war
einer der Augenblicke, die das Leben einem
nicht häufig vergönnt, und ich hüte sie
eifersüchtig. „Seien wir den Menschen
dankbar, die uns Glück bringen. Sie sind
zauberhafte Gärtner, die unsere Seelen
erblühen lassen", schrieb Marcel Proust
in „Tage der Freuden". Heute weiß ich, dass
es
solche Menschen waren, dank derer ich
weitermachen konnte.
Ich brauchte
meine Aufregung nicht zu verbergen, sie traf
sich mit seiner. Wir kamen
von einem Thema auf das andere, wir
lachten befreit, ohne Hemmungen. Die Jahre
hatten es gut gemeint mit ihm. Er war
schön in meinen Augen, mit seinem ergrauten
Haar
und den schwarzen, strahlenden Augen.
Er fragte nach
seiner Heimat, aus der er ohne Prozess
vertrieben worden war. Er
erkundigte sich nach seinen Freunden, im
Gefängnis und außerhalb. Ein Team, das
einen Film über den Frauenkongress
vorbereitete, hatte von Suleiman, dem
palästinensischen Führer, und mir gehört.
Sie wollten über unsere Geschichte einen
Film machen, fotografierten uns, und
danach nahmen sie uns auf Band auf: „Mein
Leben schulde ich zwei Frauen, meiner
Mutter, die mich geboren hat, und Felicia,
die mich damals, 1974, gerettet hat.
Als ich verhaftet wurde, sagte man mir: ‚Du
hast dich viele Jahre vor uns
versteckt, jetzt weiß kein Mensch, dass wir
dich erwischt haben. Du hast zwei
Möglichkeiten – entweder du erzählst uns
alles über dich und deine Freunde,
oder du stirbst.‘ Und da hörte ich deine
Stimme, Felicia. Du hast von ihnen
verlangt, mich sofort zu sehen, und sie
haben verstanden, dass sie gescheitert
waren. Und auch als sie mich die
Höllenqualen der Folterung leiden ließen,
wussten sie, dass ihnen die Hände
gebunden waren, und sie mussten vermeiden,
dass ich sterbe. Die haben sich vor
dir gefürchtet, Felicia, vor deinen Freunden
und Bekannten. Du, zusammen mit
aufrichtigen und guten Leuten deines und
meines
Volkes, hast
ihnen die Hände gebunden, ich habe sie nicht
vergessen."
Die Filmleute
baten mich, die Szenen von damals zu
rekonstruieren. Ich versuchte
es: Ein kleines Gefängnisbüro in
Ramallah, draußen gingen Offiziere und
Angehörige des Sicherheitsdienstes
auf und ab. Ich war gekommen, um einige
Häftlinge wegen ihrer Verhandlung
aufzusuchen, und ich bekam das Gefühl, dass
etwas Besonderes im Gange war. Jemand
stand mit dem Gesicht zur Wand da,
eingewickelt in ein
Palästinensertuch. Ich wollte unbedingt sein
Gesicht sehen, aber ich kannte die
Regeln. Diesem Menschen war es untersagt,
sich umzudrehen, damit man ihn nicht
erkannte. Er war in ihren Händen, und für
eine Übertretung des Verbots würde er
teuer bezahlen müssen. Ich begann, mit dem
Beamten zu sprechen, in der Hoffnung,
dass der Mensch an der Mauer mich vielleicht
kannte, meine Stimme identifizieren
und irgendein Zeichen geben würde. Der Mann
riskierte es und drehte sich um, und
ich erkannte das Gesicht Suleimans. Ich
erstarrte. Suleiman hatte ich schon seit
Jahren nicht mehr gesehen. Ich hatte gehört,
dass er gesucht wurde.
„Suleiman!"
rief ich. „Felicia", antwortete er.
Die
Gefängnispolizisten, die Wärter und die
Soldaten kamen angerannt. Ich wurde
gewaltsam aus dem Zimmer entfernt und
hörte Suleiman sagen: „Sag es meiner
Familie!"
Es gelang mir
noch, ihnen zuzurufen: „Er will, dass ich
ihn vertrete, lasst ihn die
Vollmacht unterschreiben!"
Sie verbargen
ihre Wut nicht. Jemand sagte: „Sie wissen
gar nicht, was Sie getan
haben!"
Ich wusste nur
allzu gut, was ich getan hatte. Sie öffneten
mir die Tür zum
angrenzenden Raum. „Sie wollen doch etwas
trinken, bitte, sofort hier rein." Sie
schlossen die Tür hinter mir mit der
Warnung, nicht hinauszugehen.
Ein kleines
Fenster mit einem Rollladen verband dieses
Zimmer mit dem nächsten.
Ich hob ihn hoch und schrie: „Suleiman,
mach dir keine Sorgen. Ich werde es allen
sagen und komme dich besuchen."
„Felicia" –
das war das letzte Wort, was ich damals aus
seinem Mund hörte. Aber die
Öffentlichkeit erfuhr von mir, dass Suleiman
verhaftet worden war.
Das war die
gekürzte Fassung. Ich konnte diesem Team
nicht die ganze Geschichte
erzählen. Ich sah, dass Suleiman sie noch
einmal durchlebte. „Meinem Sohn, der
geboren wurde, nachdem ich aus dem Gefängnis
kam, sagte ich, dass er wegen jenes
schicksalhaften Tages in meinem Leben, dank
dieser Frau geboren wurde",
sagte er ins
Mikrofon.
Wir sahen den
Film nicht. Wir trennten uns damals, und der
Abschied war so schön
wie die Begegnung. Ich weiß nicht, wann
ich ihn wiedersehe, wann sich unsere
Wege wieder kreuzen werden und wann er in
seine Heimat zurückkehren wird. Als
ich Nelson und Winnie Mandela vereint sah,
dachte ich an Suleiman und seine Frau
Leila. Ich würde es gerne erleben, wie er
zurückkehrt.