60 Jahre nach Deir Yassin
Ronnie
Kasrils, Südafrika, 8.4.08 ( http://electronicintifada.net/v2/article9445.shtml)
Als 10Jähriger, der
in Johannesburg aufwuchs, feierte ich vor 60 Jahre die Geburt Israels. Ich
akzeptierte zweifellos die dramatischen Berichte der sog.
selbstverteidigenden Aktionen gegen die arabische Gewalt, um den jüdischen
Staat zu sichern…. Als ich mich später im Freiheitskampf engagierte, wurde
mir die Ähnlichkeit mit der palästinensischen Sache, der Landenteignung und
dem Geburtsrecht durch expansionistische Siedler bewusst. Ich sah, dass der
rassistische und koloniale Charakter beider Konflikte viel mehr mit einander
gemein hatten, als andere Konflikte. Als Nelson Mandela feststellte, dass
wir als Südafrikaner wissen, dass unsere Freiheit ohne die Freiheit der
Palästinenser unvollkommen sei, sprach er nicht nur zu unserer muslimischen
Gemeinschaft … sondern zu allen Südafrikanern, eben wegen genau unserer
Erfahrung mit der rassistischen und kolonialen Unterwerfung, und weil wir
die Werte internationaler Solidarität so gut verstünden.
Als ich vom
Schicksal der Palästinenser erfuhr, war ich davon bis ins Innerste berührt
und ganz besonders, als ich Augenzeugenberichte vom Massaker an
palästinensischen Dorfbewohnern las, das nur einen Monat vor Israels
einseitiger Unabhängigkeitserklärung statt gefunden hatte. Es war in Deir
Yassin, einem ruhigen Dorf direkt vor Jerusalem, das aber
unglücklicherweise an der Straße nach Tel Aviv lag. Am 9.April 1948 wurden
dort 254 Männer, Frauen und Kinder von zionistischen Kräften
abgeschlachtet, um die Straße abzusichern. Da dies eine der wenigen solcher
Episoden war, die Medienaufmerksamkeit im Westen erlangten, leugnete es die
zionistische Führung nicht, versuchte aber, sie als eine Verirrung von
Extremisten hinzustellen. Tatsächlich waren die Grausamkeiten Teil eines
größeren Planes, der vom zionistischen Hohen Kommando, von Ben Gurion selbst
angeführt, entworfen worden war. Es wurde damit die ethnische Säuberung von
Palästinensern auf all den Gebieten des britischen Mandates beabsichtigt
und damit auch die Besitznahme von so viel Land als möglich für den
jüdischen Staat.
Es gibt viele
Berichte, die die Todesorgie in Deir Yassin bestätigen, die weit über das
Sharpville-Massaker von 1960 hinausgehen, das mich dahin brachte, mich dem
Afrikanischen Nationalkongress anzuschließen. Meine Reaktion war: Wenn ich
über Sharpville entsetzt bin, kann mir dann das Leiden von Deir Yassin
gleichgültig bleiben?
Fahimi Zidan, ein
palästinensisches Kind, das überlebte, weil es unter den Leichen der Eltern
lag, erinnerte sich: „die Juden befahlen uns … in einer Linie an der Mauer
entlang aufzustellen .. und begannen dann mit dem Schießen .. alle wurden
getötet, mein Vater, Mutter, Großvater und Großmutter, Onkeln und Tanten und
einige ihrer Kinder … Halim Eid sah einen Mann, wie er in den Hals meiner
schwangeren Schwester schoss. Dann stach er mit einem Metzgermesser in ihren
Bauch … in einem anderen Haus sah Naaneh Khalil, wie ein Mann ein Schwert
nahm und meinen Nachbarn aufschlitzte.
Einer aus der
angreifenden Gruppe, ein schockierter jüdischer Soldat, Meir Pae’el,
berichtete dem Chef seines Hagana-Kommando:
Es war Mittag, als
die Schlacht endete .. Es wurde ruhig. Aber das Dorf hatte sich noch nicht
ergeben. Die Irgun und die Sternbande… begannen …Sie feuerten mit allen
Waffen, die sie hatten und warfen Sprengstoff in die Häuser. Sie schossen
auch auf jeden, den sie sahen .. die Kommandeure machten auch keinen
Versuch, das Morden zu überwachen. Ich und einige der Einwohner baten die
Kommandeure, Befehl zu geben, um das Schießen zu stoppen. Doch unsere
Bemühungen waren vergeblich … etwa 25 Männer wurden aus dem Haus gebracht.
Sie wurden auf einen LKW geladen … und zu einer „Siegesparade“ durch
Jerusalem gefahren .. später in einem Steinbruch und erschossen … Die
Kämpfer .. packten die noch lebenden Frauen und Kinder, und brachten sie
zum Mandelbaumtor.
((Einfügung
der Übersetzerin aus dem Buch von Bertha Spafford Vester, „Our Jerusalem“:
„
….gepanzerte Jeeps mit Lautsprechern fuhren durch die arabischen Stadtteile
West-Jerusalems und warnten die Bevölkerung, wenn sie nicht weggingen, würde
sie dasselbe Schicksal ereilen wie Deir Yassin. Viele Muslime und Christen
rannten um ihr Leben. In meinem Kinderkrankenhaus nahm ich fünfzig Babys
unter zwei Jahren aus Deir Yassin auf. Während ich die Babys registrierte,
hörte ich schreckliche Geschichten von den Frauen und was sie durchgemacht
haben ……“ (S.375))
Ein britischer
Offizier, Richard Catling, berichtete:
„Zweifellos wurden
viele Grausamkeiten von den angreifenden Juden begangen. Viele junge
Schulmädchen wurden vergewaltigt und später ermordet … Viele Kinder wurden
geschlachtet und getötet. Ich sah auch eine alte Frau … die mit einem
Gewehrkolben schwer auf den Kopf geschlagen wurde…“
Jacques de Reynier
vom Internationalen Roten Kreuz begegnete dem Aufräumteam, als er im Dorf
ankam:
„Die Gang … bestand
aus jungen Männern und Frauen, die bis an die Zähne bewaffnet waren … auch
mit großen Messern in ihren Händen…die meisten noch blutbefleckt. Eine
hübsche junge Frau mit kriminellen Augen zeigte mir ihr Messer, von dem
das Blut noch tropfte. Sie zeigte es wie eine Trophäe. Dies war das
‚Reinigungsteam’ das offensichtlich seine Aufgabe sehr ernst nahm.“
Er beschreibt die
Szene, die er vorfand, als er die Häuser betrat:
‚Mitten zwischen
zerstörten Möbeln fand ich zwei Leichen. Das „Reinigen“ wurde mit
Maschinengewehren, Handgranaten und schließlich mit Messern gemacht … ich
drehte die Leichen um und fand ein kleines Mädchen .. das von einer
Handgranate verstümmelt war .. überall dasselbe schreckliche Bild .. die
Bande war bewundernswert diszipliniert und handelte nur nach Befehlen.’
Die Grausamkeiten
von Deir Yassin lassen nachdenklich werden über das, was wo anders passiert
ist. Der israelische Historiker Ilan Pappe hat akribisch über 31 Massaker
vom Dezember 1947 bis Januar 1949 berichtet. Sie bestätigen eine
systematische Terrorherrschaft, um die Flucht der Palästinenser aus ihrem
Geburtsland zu veranlassen. Die Folge davon war, dass fast alle
palästinensischen Städte sehr schnell entvölkert und 418 Dörfer
systematisch zerstört wurden.
Israels 1. Minister
für Landwirtschaft Aharon Cizling erklärte bei einer Kabinettssitzung am
17. November 1948: ‚Ich war nicht damit einverstanden, als der Terminus
„Nazi“ für die Briten gebraucht wurde … obwohl die Briten Naziverbrechen
begangen haben. Aber jetzt haben sich Juden wie Nazis benommen, und ich bin
zutiefst erschüttert.’ Doch trotz dieser Gefühle war Cizling damit
einverstanden, dass diese Verbrechen geheim bleiben sollten … Dass solche
Barbarei vom jüdischen Volk nur drei Jahre nach dem Holocaust ausgeführt
wurde, muss zu schrecklich gewesen sein, da es eine große Beschämung für den
Staat Israel darstellte, der ja als „Licht unter den Völkern“ hingestellt
wurde. Deshalb die Versuche, die Wahrheit unter dem Schleier des
Geheimnisses und der Desinformation zu verbergen. Was könnte es besseres
geben, als Nachforschungen zu behindern und das all umfassende Alibi von
Israels Recht zur Selbstverteidigung, indem man stillschweigend über die
Anwendung von unverhältnismäßiger Gewalt und kollektiver Bestrafung gegen
jeden Widerstandsakt hinwegsieht.
Weil man Israel
erlaubt, solche Verbrechen zu begehen, geht es auf diesem blutigen Pfad
weiter. Nach Ilan Pappe liegt das Dorf Kafr Qassem nur 15 Minuten von der
Tel Aviver Universität entfernt. Dort wurden am 29. Oktober 1956 vom
israelischem Militär 49 von ihren Feldern heimkehrende Dorfbewohner
getötet. In den 50ern war Qibiya, Samoa 1960, die Dörfer in Galiläa 1976
(Tag des Bodens!) Sabra und Shatila 1982, Kafr Kana 1999, Wadi Ara 2000 und
das Flüchtlingslager in Jenin 2002. Dazu kommen die zahllosen Tötungen, die
Israels führende Menschenrechtsorganisation B’tselem dokumentiert hat.
Israels Töten von Palästinensern hat nie aufgehört. Der Mord an 1500
libanesischer Zivilisten bei Israels willkürlichem Bombardements des Landes
2006; die täglichen Toten in den palästinensischen Gebieten, die 120 Toten
in Gaza innerhalb einer Woche im März 2008 – an einem Tag 63, ein Drittel
von ihnen waren Kinder – das ist dieselbe blutige Spur, die verbunden ist
mit Israels schändlicher Vergangenheit bis zum heutigen Tag.
Israel wird bald den
60 Jahrestag seiner Gründung feiern. Indem es dies tut, täten die Israelis
und die zionistischen Unterstützer auch gut daran, die Gründe anzuerkennen,
weshalb Palästinenser und freiheitsliebende Völker in aller Welt keinen
Grund zum Feiern sehen. Tatsächlich wird es eher ein Tag der Trauer und der
Protestaktionen sein, eine Zeit, um an all die zahllosen Opfer zu denken,
die in Israels Kielwasser liegen – verkörpert werden sie durch das Leiden,
das den Bewohnern von Deir Yassin auferlegt wurde, das ausgerechnet nur
einen Steinwurf weit weg von der heutigen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem
liegt.
Solange sich Israel
nicht mit seiner Vergangenheit aus einander setzt, wie es so viele in
Südafrika zu tun versuchten, wird es weiterhin mit Empörung und Argwohn
betrachtet werden. Israelis werden weiter das arabische Leben als wertlos
ansehen und fortfahren, mit dem Schwert und mit der Täuschung zuleben und
Überraschung vorzutäuschen, wenn Palästinenser mit Gewalt reagieren. Solange
es sich nicht mit den Schmerzen befasst, die es verursacht hat, kann es
keine Heilung und keine Lösung geben. Dies zu tun, würde die Basis für
alles Leben schaffen und für Palästinenser und Israelis bedeuten, in
Frieden mit Gerechtigkeit zu leben. Indem uns Südafrikanern die Wurzeln
des Konfliktes bewusst sind und wir unsere Solidarität zusichern, können wir
etwas zu einer gerechten Lösung beitragen …
(dt.
und geringfügig gekürzt: Ellen Rohlfs)