Marya und
Orel - gute Nachbarn
Ethan Bronner
30. Dezember 2009
Jerusalem – Er kann recht impulsiv
sein. Sie ist ein bisschen herrschsüchtig. Seit fast einem Jahr
leben sie Tür an Tür. Sie reden mit einander, sehen zusammen
fern und erforschen gemeinsam die Welt, besuchen einander in
den Wohnungen ohne weiter darüber nachzudenken. Sie liebt das
Auberginengericht seiner Mutter. Er mag das Reis- mit-
Lammgericht ihres Vaters.
Freundschaft beginnt oft mit Nähe;
aber Orel und Marya, beide acht, sind auf sehr seltene Weise
auf einander gestoßen: Ihr Spielplatz ist der Gang eines
Krankenhaus. Er ist israelisch-jüdisch, der von einer
Hamasrakete schwer verletzt wurde. Sie ist palästinensische
Muslimin aus dem Gazastreifen und wurde von einer israelischen
Rakete gelähmt. Irgendjemand hat vergessen, ihnen zu sagen, dass
sie Feinde sind.
„Er ist ein ungezogener Junge“,
sagt Marya gern über Orel mit dankbarem Lächeln, wenn er ein
bisschen wild wird.
Als Orel vor einem Jahr hierher
kam, konnte er weder hören, noch sehen, noch reden oder gehen.
Jetzt kann er alles ein wenig. Sein halbes Gehirn ist weg. Die
Ärzte waren sehr pessimistisch, ob er überleben wird. Heute
wundern sie sich über seine Fortschritte, auch wenn noch unklar
ist, ob er es noch weitere Fortschritte machen wird..
Maryas Wirbelsäule war am Hals
gebrochen und sie kann nur ihren Kopf bewegen, sie ist klug,
fröhlich und hat einem starken Willen; sie bewegt ihren
Rollstuhl, indem sie einen Knopf mit ihrem Kinn drückt. Nichts
entgeht ihrem Blick. Sei weiß, dass Orel jetzt lieber mit Jungen
spielt und sie macht Platz. Aber ihre freundschaftlichen Bande
bleiben stark.
Eine Freundschaft zwischen zwei
verletzten Kindern mit sehr verschiedenem, ja feindseligem
Hintergrund ist nicht überraschend. Keiner von beiden versteht
den langen Kampf wegen Land und Identität, der die Menschen hier
trennt. Sie sind Kinder und sie spielen.
Aber für jene, die im
Alyn-Krankenhaus ihnen begegenen, ist es besonders erstaunlich,
ihre Eltern zu beobachten, die sehr wohl wissen, was m sie
herum los ist.. Sie verhalten sich wie Freunde, ja als wären sie
Verwandte – und besiegen jeden nationalen Kampf.
Die Wunden unserer Kinder, ihre
Schmerzen, unsere Schmerzen haben uns zusammengebracht, bemerkt
Angela Elizarov, Orels Mutter, als sie neulich in einem Zimmer,
das sie mit ihrem Sohn teilt, an seinem Bett saß . Im Zimmer
daneben liegt Marya, ihr 6jähriger Bruder Momen und ihr Vater
Hamdi Aman. Macht es etwas aus, dass er vom Gazastreifen kommt
und ich von Beersheba, dass er Araber ist und ich Jüdin? Für
mich ist das unwichtig. Er sieht mein Kind und ich sehe sein
Kind.
Es war zwei Wochen nach Beginn des
Krieges im Gazastreifen voriges Jahr, als Orel getroffen wurde.
Nach Tagen in einem Luftschutzkeller nahm ihn seine Mutter in
den PKW. Als sie um Beersheba fuhren, fing die Sirene an und
warnte vor einer ankommenden Rakete. Sie stieß Orel auf den
Boden und legte sich schützend über ihn. Als sie die Explosion
in der Ferne hörte, stand sie auf – im Glauben, die Gefahr sei
vorbei. Doch eine zweite Granate explodierte. Sie sah dann den
Kopf ihres Sohnes sehr bluten.
Sie winkte einem vorbeifahrenden
Wagen, der sie ins Krankenhaus brachte, wo sie selbst als
Krankenschwester arbeitet.
„Ich sah, wie sein Gehirn
herausquellte und alles rund um mich blutete, und ich hatte
nicht einmal einen Kratzer“, erinnert sie sich . Als ich in die
Notaufnahme kam, sagte ich zum Arzt: „Ihr könnt mir nichts
vormachen, ich weiß, er hat kaum eine Chance zu überleben. Der
Arzt schaute weg. Aber nach sechs Operationen macht er nun
wirklich Fortschritte. Gott nahm mir meinen Sohn, aber er hat
mir einen anderen Sohn gegeben. Vor einem Jahr war er der Beste
seiner Klasse in Sport, der Beste in Mathe. Nun muss er wieder
sprechen und gehen lernen.“
Ihr Mann Avrel, der mit Kindern
arbeitet, verbringt viel Zeit zu Hause mit ihrer 18 Monate alten
Tochter, kommt aber oft vorbei. Das Paar ursprünglich aus
Aserbeidschan war jahrelang kinderlos und Orels Geburt schien
wie ein Wunder. Ihr Krankenhausnachbar H. Aman ist ein
32jähriger Bauarbeiter aus dem Gazastreifen. Er kümmert sich
nicht nur um seine eigenen beiden Kinder sondern hilft auch Orel.
Er wird als leuchtendes Vorbild angesehen, als Inspiration für
das Arbeitsteam, für die Freiwilligen und die Eltern der
kranken Kinder.
Das hängt auch mit seiner
persönlichen Geschichte zusammen.
Vor mehr als drei Jahren kauften H.
Aman und sein Onkel ein Auto und teilten sich die Kosten und
fuhren los. Mit ihnen im Wagen saßen noch Amans Frau, ihre drei
Kinder und seine Mutter.
Über ihnen flog ein israelischer
Kampfjet mit einem Mordauftrag, der sein Ziel suchte: ein
militanter Führer mit Namen Ahmad Dahduh. Zwei Raketen wurden
auf dessen Wagen abgeschossen, als er gerade an H. Amans Wagen
vorbeifuhr. H Amans ältester Sohn, seine Frau und seine Mutter
wurden getötet. Marya wurde aus dem Wagen geschleudert.
Er und seine beiden Kinder sind
fast die ganze Zeit im Alyn-Krankenhaus gewesen, das sich auf
junge Menschen mit schweren Behinderungen spezialisiert hat. Die
israelische Regierung, die sie für die erste Hilfe hierher
gebracht hat, wollte ihn und seine Kinder nach Gaza oder auf die
Westbank bringen. Doch da die Medien auf sie aufmerksam machte,
bildete sich ein ganze Schar von Freiwilligen, die sich für sie
einsetzten. Marya würde weder im Gazastreifen noch auf der
Westbank überleben. Die Regierung hat nachgegeben und
unterstützt H. Aman mit einem Minimumlohn und zahlt für Marya,
damit sie in eine arabisch-hebräische Schule in der Nähe gehen
kann …
Freiwillige, die hier helfen, sind
oft religiöse Juden, die hier ihren Zivildienst machen. Einige
fragen, wie er unter Leuten leben könne, die seine Familie
zerstört haben.
„Ich habe nie einen Unterschied
zwischen den Menschen gespürt, ob sie nun Juden, Muslim oder
Christen sind. Wir sind alles Menschen“, sagte er. Ich habe
jahrelang in Israel gelebt, auch mein Vater. Es geht nicht darum
, was du bist, sondern wer du bist. Und das habe ich meinen
Kindern beigebracht.
H. Amans Krankenzimmertür ist
selten geschlossen. Asher Franco, ein israelischer Jude aus Beit
Shemesh, der wegen einer Behandlung seiner Tochter seit sechs
Monaten ins Krankenhaus kommt, war vor kurzem sein Besucher. Sie
begrüßen sich herzlich. Ein früherer Handwerker und ein früherer
Kampfsoldat: sie wurden nach ihrer Freundschaft gefragt.
„Ich wurde total als
zionistischer Rechter erzogen“ sagte er. “Man sagte uns, dass
die Araber uns töten wollen. Aber ich lebte in einer
Fantasiewelt. Hier im Krankenhaus sind alle meine Freunde
Araber.“ Frau Elizarov, Orels Mutter bemerkte, dass an Orten wie
im Alyn-Krankenhaus, politische Spannungen nicht bestehen. Dann
sagte sie: „Müssen wir leiden, um zu lernen, dass es zwischen
Juden und Araber keinen Unterschied gibt.“
(dt. und geringfügig gekürzt:
Ellen Rohlfs)
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