Nächstes Jahr in Mas'ha!
von Starhawk
Nachdem ich einen
Monat in den besetzten Gebieten von
Palästina mit der Internationalen
Solidaritätsbewegung (ISM) gearbeitet habe,
einem Monat, in dem eine unserer jungen
Frauen absichtlich von einem israelischen
Fahrer mit dem Bulldozer überfahren wurde
und zwei junge Männer absichtlich
angeschossen wurden, der eine ins Gesicht,
der andere in den Kopf, war ich nicht mehr
in der Lage, einen Seder-Abend - nicht
einmal mit meinen Freunden vom israelischen
Friedenslager - zu begehen. Ich hätte nicht
ruhig sitzen und die alte Sklaverei
betrauern und den Auszug ins verheißene Land
feiern können. Ich fürchtete, dass ich die
bitteren Kräuter und das Salz über den
Sedertisch gespuckt und irgend etwas
zerbrochen hätte. Also ging ich in das
Friedenszeltlager bei Mas'ha. In Mas'ha
waren Leute nötig. Es war Vollmond, und ich
dachte, ich könnte mich im Mondenschein
einfach auf den Boden legen, damit einige
Bitterkeit "wegfließt". Mas'ha ist ein Dorf
auf der Linie, auf der der sog.
"Sicherheitswall" gebaut werden soll. Hier
wurde auf Wunsch der Bewohner, meistens
Bauern, die der Enteignung von 98 % ihres
Landes gegenüberstehen, ein Friedenslager
errichtet.
Mas'ha, an einer der Hauptstraßen nach
Israel gelegen, hatte einst einen blühenden
Handel - bis die Israelis die Straße
absperrten. Die Bauern kultivieren Oliven,
Feigen, Weintrauben und Weizen, doch nun ist
das Land für den Mauerbau enteignet worden,
ohne dass eine Entschädigung gezahlt wird.
An manchen Stellen ist die Mauer eine 10 m
hohe Betonbarriere mit Wachtürmen versehen.
An andern Stellen ist es ein elektrischer
Zaun in einem tiefen Graben aus nacktem,
kahlem Gestein, von Straßen flankiert, auf
denen ständig Soldaten patrouillieren. Diese
Mauer wird das Dorf bald von der
benachbarten Siedlung Elkana trennen, mit
der es immer friedliche Beziehungen gehabt
hatte. Kein bewaffneter Widerstand, keine
Selbstmordattentäter sind jemals von Mas'ha
gekommen.
Mit dieser Aussicht konfrontiert, die nur
wenige Wochen vorher bekannt gegeben wurde,
kam der Dorfrat zu einem bewundernswerten
Entschluss. Obwohl er jeden Grund zum Hassen
der Israelis hätte, entschied er sich,
Israelis einzuladen, zusammen mit den Leuten
von ISM und dem Internationalen
Frauenfriedensdienst. Wir setzten ein
Zeltlager an den Rand der Bulldozerroute,
als Zeuge und zur Dokumentation der
Zerstörung. Bei Mas'ha zu sein, heißt, am
absoluten Rand des Konfliktes zu sein. Die
Straßensperre, die das Dorf von der Siedlung
trennt, ist die Trennung von zwei
Realitäten.
Ich fuhr von Tel Aviv nach Elkana mit dem
Siedlerbus, der voll älterer Frauen war, die
meine Tanten und mit alten Männern, die
meine Onkels hätten sein können. Es waren
auch ein paar jüngere Leute drin und jeder
wünschte beim Verabschieden den anderen Hag
Sameach! Fröhliche Feiertage für Pesach, das
jüdische Osterfest. Wir fuhren durch eine
Siedlung, um Leute aussteigen zu lassen. Für
mich war es eine Fahrt wie durch einen
transplantierten süd-kalifornischen Vorort,
üppige Gärten und neue Häuser, alle mit
einer Aura von Wohlhabenheit. Alle aus
Sicherheitsgründen mit einem bewaffneten
Wächter versehen, mit Stacheldrahtzaun
umgeben und israelischem Militär. Die für
die Landschaft charakteristischen
Olivenbäume stehen auf dem Mittelstreifen
der Straße. Ich vermute, sie wurden von
einem Bauern gestohlen und hier neu
eingepflanzt - was vorher den Palästinensern
zum Leben diente, wird nun zum dekorativen
Element der Siedlungen.
Von Elkana ging ich ein paar hundert Meter
die Straße hinunter und kletterte über die
von Bulldozern geschaffene Straßensperre, um
die Palästinenser von Israel fernzuhalten.
Nun war ich in einem staubigen Dorf aus
alten Steinen und neuen Zementhäusern,
geschlossenen Läden. Dahinter eine offene
Hügellandschaft mit uralten Olivenbäumen.
Das Zeltlager stand auf einem kleinen Hügel,
zwei rosa Zelte in einem Olivenhain auf
steinigem Grund voll von wilden Blumen,
gelbem Ginster und Feigenkakteen. Die
Olivenbäume gaben Schatten und manchmal
dienten sie als Rückenlehne. Wenn man in
eine Richtung schaut, dann dehnt sich das
Graugrün der Olivenhaine unterhalb der Hügel
meilenweit aus. Im Hintergrund blaue Hügel
und dazwischen kleine Dörfer. Aber rund um
den Hügel und über die Hügellandschaft ist
eine breite, graue Schneise gezogen, eine
Zone der Zerstörung, ein breiter Streifen
mit ausgerissenen Bäumen und blankem
Untergrund, wo eine überdimensionale
Maschine sich entlang wälzt wie ein riesiges
präs-historisches Ungeheuer, das Felsen
grabscht und zerkleinert, Erde verschlingt,
die Luft mit Staub und mechanischem Bellen
seines Motors erfüllt.
Als ich ankomme, sitzt ein junger Mann unter
einem Baum und schreibt mit schwarzem Stift
auf Steine. Er ist ein Bauer. Er sagt mir,
dass er auf arabisch schreibt: " Zerstört
diese Bäume nicht!" Er denkt einen
Augenblick nach und fügt dann noch eine
Zeile hinzu. Ich bitte ihn, mir dies zu
übersetzen. Er lächelt mich an und zeigt auf
den Boden. "Was ist dies?" "Erde?" Ich weiß
nicht, ob er Erde, Boden oder Land meint.
"Die Erde spricht arabisch," sagt er.
Alle Israelis außer einer sind gegangen, um
mit ihren Familien Pessach zu feiern. Nur
zwei von uns , vom ISM und eine Frau vom
IWPS sind geblieben, um mit zwei
Palästinensern das Lager zu bewachen. Als
der Vollmond aufstieg, lag ich auf dem
steinigen Boden und meditierte. Ich hoffte,
etwas Frieden oder Heilung zu finden - aber
die Erde hier wird gefoltert und ich spürte
ihren Schmerz. Tiefer und tiefer durch die
Erdschichten und Jahrhunderte und Epochen
hindurch hörte ich, wie die Menschen von
damals weinen. Das Land ist blutgetränkt und
Generationen standen unbarmherzigen Mächten
gegenüber und wurden niedergemäht. Warum
soll es mit uns heute anders sein?
Um 3 Uhr nachts wache ich auf. Nun bin ich
an der Reihe mit dem Wachdienst. Ich sitze
am Feuer, erschöpft und schlafe wieder ein.
Am Morgen wache ich ganz niedergeschlagen
auf.
Aber Leute kommen schon zu einem
Mittagstreffen an. Die Frauen von der IWPS
und die Männer vom Dorf und Dutzende
Israelis. Wir sitzen im offenen Zelt und
reden darüber, wie man eine Kampagne gegen
den Mauerbau bilden könnte. Einer der
Männer, Steinhauer von Beruf, baut zu unsern
Füßen Miniaturgebäude aus den da liegenden
Steinen. "Wahrscheinlich können wir den
Mauerbau hier nicht mehr stoppen," sagt ein
Mann aus dem Dorf, " aber vielleicht können
wir dies woanders stoppen."
Die Israelis, die gekommen waren, sind fast
alle jung. Es sind Anarchisten, Punks,
Schwule und Studenten mit wilden Frisuren.
Es fällt mir ein, dass der Bürgermeister von
Mas'ha und die Dorfältesten - aus einer sehr
konservativen Gesellschaft - wohl viel mehr
mit den Orthodoxen Juden gemeinsam haben,
die sie hassen, als mit diesen wilden,
sozialen Rebellen . Aber das Dorf akzeptiert
sie mit Anstand und einem warmherzigen
palästinensischen Willkommen. ....
Später treffen wir die Frauen des Dorfes,
die wissen wollen, ob wir ihnen irgend wie
helfen können. Sie sind dabei, die Grundlage
ihres Lebensunterhaltes zu verlieren. Gibt
es da noch etwas, was wir tun können? Wir
haben ein langes Gespräch über das, was wir
in der ISM tun und versprechen
Organisationen zu suchen, die sich
Dorfentwicklungsarbeit beschäftigt.. Sie
sind begeistert als sie erfahren, dass wir
an den Checkpoints stehen und beobachten und
helfen, dass Leute durchkommen. Studenten
aus dem Dorf, die zur Universität gehen,
werden oft an den Checkpoints festgehalten
oder sie müssen einen Umweg durch die Berge
machen. Vielleicht können wir ihnen helfen.
Zurück im Lager waren auch alle jungen
unverheirateten Männer - shabab - gekommen.
Wir saßen rund ums Feuer, während zwei der
Männer ein Essen bereiteten. Wir lachten und
redeten. Und plötzlich wurde mir bewusst,
dass etwas Wunderbares geschieht: Die
Israelis und die Palästinenser können mit
einander reden, weil die meisten der jungen
Männer hebräisch sprechen. Sie liegen rund
ums Feuer, reden und erzählen Geschichten,
lachen und sind ganz entspannt. Sie sitzen
da am nächtlichen Feuer wie jede andere
Gruppe junger Menschen, als ob sie nie
bittere Feinde wären, als ob es so einfach
wäre, zusammen in Frieden zu leben.
Es war also ein seltsamer Seder-Abend in
diesem Jahr: Pita anstelle von Matzen,
Rührei mit Tomaten, Hummus anstelle von
Hühnersuppe, Wasser anstelle von Wein und
anstelle von bitteren Kräutern, die ich
schon gekostet hatte, ein lieblicher Wink
von Hoffnung.
Ich kann nicht mehr "Nächstes Jahr in
Jerusalem!" sagen. Ich kann nicht mehr an
das verheißene Land glauben, das fordert,
dass Betonmauern und Wachtürme gebaut und
weiter gemordet wird, um es zu verteidigen.
Es wäre weit besser, wenn wir die alten
Steine von Jerusalem aufgeben würden ...
Aber ich würde gerne an das Versprechen von
Mas'ha glauben, an das Beispiel der Leute,
die mit schlimmster Zerstörung von allem,
was sie benötigen und was ihnen teuer ist,
konfrontiert sind, die ihre Herzen gegenüber
den Söhnen und Töchtern ihrer Feinde öffnen
und sie um Hilfe bitten . Ich würde gerne an
das Israel glauben, das in den Augen
derjenigen reflektiert, die auf diesen
Hilferuf antworten. Dass irgendwie der
Abgrund zwischen denen, die erobern und
jenen, die der vollständigen Eroberung
wiederstehen, Brücken und Verbindungen
entstehen und Treffen stattfinden, die die
Mauern der Trennung niederreißen. Im
nächsten Jahr wird es das Lager von Mas'ha
wahrscheinlich nicht mehr geben. Die
Bauunternehmer, die für das israelische
Militär arbeiten, haben schon begonnen,
einen tiefen Graben zu sprengen, der bald
die Olivenhaine vom Dorf abschneidet. Die
internationale Kampagne gegen den Mauerbau
hat begonnen - aber die Wirklichkeit ist
die, dass sie die Macht und Fähigkeit haben,
schneller zu bauen als wir die Kampagne
gegen sie organisieren können.
Und doch sage ich noch einmal als Akt des
puren Glaubens: nächstes Jahr in Mas'ha!
(www.starhawk.org)
Starhawk ist eine Aktivistin, Organisatorin
und Autorin mehrerer Bücher über Feminismus,
politische und erd-gebundene Spiritualität.
Sie war im März und April 2003 in Palästina
mit ISM, die gewaltfreien Widerstand
unterstützt und die Menschenrechte der pal.
Zivilisten schützt.