Henry Siegman
Israels
Lügen
15. Januar
2009
Die Regierungen
der westlichen Staaten und die meisten westlichen Medien
übernahmen folgende israelische Behauptungen zur Rechtfertigung
des militärischen Angriffs auf Gaza: Hamas verletze in einem
fort den sechsmonatigen Waffenstillstand, den Israel einhielt
und den Hamas nicht verlängern wollte; Israel bliebe deshalb
keine andere Wahl, als die Fähigkeit von Hamas, Raketen auf
israelische Städte zu schießen, zu zerstören; Hamas sei eine
Terroristen-Organisation und Teil eines globalen
Dschihad-Netzwerks; Israel sorge also nicht nur für seine eigene
Verteidigung, sondern nehme zugleich teil am Kampf der
westlichen Demokratien gegen dieses Netzwerk.
Ich weiß von
keiner einzigen größeren amerikanischen Zeitung, keiner
Rundfunk- oder Fernseh-Station, dass sie in ihrer
Berichterstattung zum Angriff auf Gaza diese Lesart in Frage
stellte. Soweit es Kritik an Israels Handlungen gab (keine von
der Bush-Regierung), beschränkte sie sich auf die Frage, ob die
von der IDF veranstaltete Schlächterei in einem vernünftigen
Verhältnis stehe zu der Bedrohung, die sie abzuwehren suche; und
ob die IDF alles Nötige tue, Verluste der Zivilbevölkerung zu
vermeiden.
Da alles
Frieden-Schaffen im Nahen Osten durch irreführende Euphemismen
erstickt wird, möchte ich ohne Umschweife feststellen: jede
dieser Behauptungen ist eine Lüge. Israel, nicht Hamas,
verletzte den Waffenstillstand: Hamas hatte sein Raketenfeuer
auf Israel unterbrochen; im Gegenzug war es an Israel, seinen
Würgegriff um Gaza zu lockern. Tatsache ist jedoch, dass es ihn
während des Waffenstillstands verstärkte. Dies wurde nicht nur
durch jeden neutralen internationalen Beobachter und durch NGOs
vor Ort bestätigt, sondern auch durch Brigadegeneral Shmuel
Zakai, den ehemaligen Befehlshaber der IDF in Gaza. In einem
Interview in Haaretz vom 22. Dezember beschuldigte er die
israelische Regierung, während der
Tadijeh, der
sechsmonatigen Zeitspanne relativer Waffenruhe, einen „zentralen
Fehler“ gemacht zu haben: „Statt die Ruhezeit zu nutzen, die
wirtschaftliche Notlage der Palästinenser im Gazastreifen
abzumildern“, habe die IDF sie spürbar vergrößert… „Wenn man
eine Tadijeh
vereinbart und der wirtschaftliche Druck geht weiter“, sagte
General Zakai, „steht doch wohl außer Frage, dass Hamas
versuchen wird, eine bessere
Tadijeh zu bekommen,
und ihre Methode, dies zu erreichen, ist die Wiederaufnahme des
Raketenbeschusses… Man kann nicht einfach Schläge austeilen, die
Palästinenser in ihrer wirtschaftlich verzweifelten Lage
schmoren lassen und dann erwarten, dass Hamas einfach nur
dasitzt und nichts tut.“
Der
Waffenstillstand, der im Juni vergangenen Jahres begann und
dessen Erneuerung im Dezember anstand, verlangte von beiden
Seiten, auf Gewalt gegeneinander zu verzichten. Die Hamas musste
ihre eigenen Raketenangriffe einstellen und Raketenfeuer durch
andere Gruppierungen wie den islamischen Dschihad verhindern
(sogar die israelischen Nachrichtendienste erkannten an, dass
ihr dies erstaunlich wirkungsvoll gelang), und Israel musste
aufhören mit gezielten Tötungen und militärischen Einfällen.
Diese Übereinkunft wurde aufs schwerste verletzt, als die IDF am
4. November nach Gaza eindrang und sechs Hamas-Mitglieder
tötete. Hamas antwortete mit Kassam- und Grad-Raketen. Zugleich
bot sie eine Verlängerung des Waffenstillstands an unter der
Bedingung, dass Israel seine Blockade beende. Israel lehnte ab.
Es hätte seine Pflicht, die eigene Bevölkerung zu schützen,
durch eine Abschwächung der Blockade erfüllen können, aber es
machte nicht einmal den Versuch. Man kann deshalb nicht
behaupten, dass Israel den Gaza-Streifen überfiel, um seine
Bürger zu schützen. Israel tat es, um sein Recht zu schützen,
mit der Strangulierung der Bevölkerung von Gaza fortzufahren.
Anscheinend
haben alle vergessen, dass Hamas ein Ende der
Selbstmordattentate und der Raketenangriffe erklärte, als sie
sich entschied, am palästinensischen politischen Prozeß
teilzunehmen, und dass sie sich im wesentlichen über ein Jahr
lang daran gehalten hat. Bush begrüßte diese Entscheidung in
aller Öffentlichkeit und nannte sie als Beispiel für den Erfolg
seiner Kampagne für Demokratie im Nahen Osten. (Er konnte keinen
anderen Erfolg vorweisen.) Als Hamas entgegen allen Erwartungen
die Wahl gewonnen hatte, erklärten Israel und die USA dies
Ergebnis für nicht legitim und wandten sich Machmud Abbas zu,
dem Führer der Fatah, den die israelische Führung zuvor als
„gerupftes Huhn“ abgetan hatten. Sie bewaffneten und trainierten
seine Sicherheitsdienste für einen Sturz von Hamas; und als
Hamas – zugegeben: auf brutale Weise – diesem gewaltsamen
Versuch, das Ergebnis der ersten ehrlichen demokratischen Wahl
im modernen Nahen Osten auf den Kopf zu stellen, zuvorkam,
verhängten Israel und die Bush-Regierung die Blockade.
Israel begegnet
diesen unbestreitbaren Tatsachen mit dem Hinweis, dass Ariel
Sharon, als er im Jahr 2005 die israelischen Siedlungen von Gaza
abzog, den Palästinensern die Chance gab, einen eigenen Staat zu
gründen. Hamas habe es abgelehnt, diese Chance zu ergreifen, und
Gaza stattdessen in eine Abschussrampe für Raketenangriffe auf
die israelische Zivilbevölkerung verwandelt. Der Vorwurf ist
eine doppelte Lüge. Erstens hat die Hamas, unbeschadet aller
ihrer Mängel, in Gaza für Gesetz und Ordnung gesorgt in einem
Maß, das in den vorangegangenen Jahren unbekannt war, und dies
ohne Hilfe der großen Beträge, mit denen Geldgeber die von der
Fatah geführte Palestinian
Authority überschütteten. Sie beseitigte die
gewalttätigen Banden und Warlords, die Gaza unter der Herrschaft
der Fatah terrorisiert hatten. Nicht-praktizierende Muslime,
Christen und andere Minderheiten hatten mehr religiöse Freiheit
unter der Hamas-Regierung, als sie beispielsweise in
Saudi-Arabien oder unter vielen anderen arabischen Regierungen
haben würden.
Die zweite und
größere Lüge ist, Sharons Rückzug aus Gaza sei gedacht gewesen
als erster Schritt zu weiteren Rückzügen und zu einem
Friedensvertrag. Dov Weisglass, Sharons wichtigster Berater und
zugleich sein Chef-Unterhändler für Vereinbarungen mit den
Ameri-kanern, sagte über den Rückzug aus Gaza in einem Interview
mit Haaretz im August 2004:
Mit den Amerikanern habe ich mich klipp und klar
darauf geeinigt, dass über die größeren Siedlungsblöcke der
Westbank überhaupt nicht verhandelt wird; und über die anderen
erst, wenn die Palästinenser zu Finnen ((gemeint ist: zu
willfährigen Klienten)) geworden sind … Die Bedeutung (der
Vereinbarung mit den Amerikanern) besteht im Einfrieren des
politischen Prozesses. Und solange er eingefroren ist, solange
kommt es nicht zur Bildung eines palästinensischen Staates und
auch nicht zu einer Diskussion über die Flüchtlinge, die Grenzen
und Jerusalem. Kurz, das ganze Paket namens Palästinensischer
Staat - mit allem was dazugehört - ist für unbegrenzte Zeit von
der Tagesordnung. Und dies mit Präsident Bushs Autorität und
Erlaubnis… und der Absegnung durch beide Häuser im Kongreß.
Glauben die
Israelis und die Amerikaner, dass Palästinenser keine
israelischen Zeitungen lesen? Oder dass sie, als sie sahen, was
auf der Westbank passierte, sich nicht selber sagen konnten,
worauf Sharon hinauswollte?
Die Regierung
von Israel würde die Welt gern glauben machen, dass Hamas seine
Raketen losschickte, weil Terroristen dergleichen nun mal tun;
und dass Hamas eine Gruppierung von geborenen Terroristen ist.
In Wahrheit ist Hamas nicht mehr und nicht weniger eine
„Terror-Organisation“ (Israels bevorzugte Bezeichnung) als die
zionistische Bewegung während ihres Kampfes für einen
Judenstaat. In den späten dreißiger und vierziger Jahren
verlegten sich Gruppierungen innerhalb der zionistischen
Bewegung aus strategischen Gründen auf terroristische
Aktivitäten. Laut Benny Morris nahm die Irgun als erste
Zivilisten ins Visier. Wie er in
Righteous Victims
schreibt, löste 1937 ein Anstieg des arabischen Terrorismus
„eine Welle von Irgun-Attentaten auf arabische
Menschenansammlungen und Busse aus, wodurch der Konflikt eine
neue Dimension bekam“. Darüber hinaus dokumentiert er
Gräueltaten, die die IDF während des Krieges 1948-49 beging, und
räumt in einem von Haaretz veröffentlichten Interview 2004 ein,
dass Materialien, die das Verteidigungsministerium inzwischen
zugänglich gemacht hatte, „wesentlich mehr israelische Massaker
auswiesen als ich bislang gedacht hatte… In den Monaten
April-Mai 1948 erhielten Einheiten der Haganah Befehle, die
ausdrücklich verlangten, dass sie die Dorfbewohner entwurzeln
und vertreiben sollten und die Dörfer selbst zerstören“. In
mehreren palästinensischen Dörfern und Städten führte die
Haganah planmäßig die Erschießung von Zivilisten durch. Von
Haaretz gefragt, ob er die ethnische Säuberung verurteile,
antwortete Morris, er täte es nicht:
Es hätte kein jüdischer Staat ins Leben gerufen werden können
ohne die Entwurzelung von 700 000 Palästinensern. Deshalb war es
notwendig, sie zu entwurzeln. Wir hatten keine Wahl. Wir mussten
sie vertreiben. Es war notwendig, das Hinterland zu säubern und
die Grenzregion zu säubern und die wichtigsten Straßen zu
säubern. Es war notwendig, die Dörfer zu säubern, von denen
unsere Konvois und unsere Siedlungen beschossen wurden.
Mit anderen
Worten, wenn Juden unschuldige Zivilisten töten, um mit ihrem
nationalen Kampf voranzukommen, sind sie Patrioten. Wenn ihre
Gegner dies tun, sind sie Terroristen.
Es ist zu
einfach, Hamas lediglich als eine „Terror-Organisation“ zu
beschreiben. Es ist eine religiöse nationale Bewegung, die ihre
Zuflucht zu Terrorismus nimmt (wie es die zionistische Bewegung
tat während ihres Kampfes für einen eigenen Staat) in dem
irrigen Glauben, dies sei die einzige Möglichkeit, eine
unterdrückende Besatzung zu beenden und einen palästinensischen
Staat ins Leben zu rufen. Zwar fordert die offizielle Ideologie
von Hamas, den palästinensischen Staat auf den Ruinen des
Staates Israel zu errichten. Dies ist für die tagtägliche
Politik von Hamas jedoch ebenso wenig maßgebend, wie es die
gleichlautende Erklärung in der PLO-Charter für die tatsächliche
Politik der Fatah war.
Dies sind nicht
die Schlussfolgerungen eines Hamas-Apologeten, sondern die
Ansichten von Ephraim Halevy, dem früheren Mossad-Chef und
nationalen Sicherheitsberater von Sharon. Die Hamas-Führung hat
sich „direkt unter unseren Augen“ verwandelt, schrieb er
unlängst in Yedioth Ahronoth; sie nahm zur Kenntnis, „dass ihr
ideologisches Ziel unerreichbar ist und für alle absehbare
Zukunft bleiben wird“. Sie ist nun bereit und willens, einen
palästinen-sischen Staat in den temporären Grenzen von 1967
errichtet zu sehen. Zwar habe die Hamas-Führung nicht gesagt,
wie „temporär“ diese Grenzen sein würden. „Sie weiß aber, dass
sie die Spielregeln ändern muß von dem Augenblick an, wo ein
palästinensischer Staat unter ihrer Mitwirkung errichtet wird.
Sie wird einen Weg einschlagen müssen, der sie weit weg führen
dürfte von ihren ursprünglichen ideologischen Zielen.“ In einem
früheren Artikel hatte Halevy dargelegt, dass es absurd sei,
Hamas mit al-Qaida in Verbindung zu bringen.
In den Augen von al-Qaida sind die Hamas-Mitglieder Häretiker,
seit sie (zumindest indirekt) an Verständigungs- oder
Vereinbarungs-Verhandlungen mit Israel beteiligt zu werden
wünschen. Die Erklärung von Khaled Mashal, dem Chef des
Politbüros von Hamas, widerspricht diametral den Ansichten von
al-Qaida. Sie gibt Israel eine (vielleicht historische)
Gelegenheit, eine Wendung zum Besseren zu erreichen.
Warum sind dann
die Führer Israels so erpicht darauf, Hamas zu zerstören? Weil
sie glauben, dass die Führung von Hamas, ungleich der von Fatah,
sich nicht einschüchtern lassen wird, eine Friedensvereinbarung
zu akzeptieren, die einen palästinensischen „Staat“ vorsieht,
der aus ein paar nichtzusammenhängenden Stücken Land besteht,
über die Israel eine ständige Kontrolle behalten würde.
Kontrolle über die Westbank ist das unerschütterliche Ziel der
militärischen, geistigen und politischen Eliten Israels seit
Ende des Sechs-Tage-Kriegs. Sie glauben, Hamas würde niemals
eine solche Kantonisierung des palästinensischen Bodens
erlauben, gleich wie lang die Besetzung anhält. Sie mögen sich
irren über Abbas und seine Rentner-Truppe; sie haben jedoch
vollkommen recht bezüglich Hamas.
Nahost-Beobachter fragen sich, ob Israels Angriff auf Hamas
erfolgreich genug sein wird, die Organisation zu zerstören oder
sie aus Gaza zu vertreiben. Eine irrelevante Frage. Über welches
künftige Palästina auch immer Israel die Kontrolle zu behalten
plant - es wird niemals einen palästinensischen Partner dafür
finden; und selbst wenn es ihm gelingt, Hamas zu demontieren, so
wird die Bewegung alsbald ersetzt werden durch eine weitaus
radikalere palästinensische Opposition.
Falls Barak
Obama einen kampferprobten Nahost-Emissär ernennt, der sich an
die Idee klammert, Außenstehende sollten keine eigenen
Vorschläge machen für eine gerechte und dauerhafte
Friedenslösung, und schon gar nicht sollten sie Druck ausüben
auf die Parteien, sie zu akzeptieren, sondern es ihnen
überlassen, ihre Meinungsverschiedenheiten abzuarbeiten, dann
stellt er sicher, dass der künftige palästinensische Widerstand
weitaus radikaler sein wird als Hamas – und mit einiger
Wahrscheinlichkeit alliiert sein mit al-Qaida. Für die
Vereinigten Staaten, Europa und den größten Teil der restlichen
Welt wäre dies das schlimmstmögliche Ergebnis. Vielleicht
glauben einige Israelis, und zumal die Führer der Siedler, dies
diene ihren Zielen, weil es der Regierung einen zwingenden
Vorwand gäbe, die Kontrolle über ganz Palästina zu behalten.
Aber dies ist eine Täuschung. Sie würde zum Ende von Israel als
jüdischem und demokratischem Staat führen.
Anthony
Cordesman, einer der verlässlichsten Militär-Analytiker des
Nahen Ostens und Freund Israels, legte am 9. Januar in einem
Bericht für das Center for Strategic and International Studies
dar, dass die taktischen Vorteile einer Fortführung der
Operation in Gaza geringer seien als ihre strategischen
Nachteile – und vermutlich nicht größer als alle Erfolge, die
Israel zu Anfang des Kriegs erzielt haben mag durch gezielte
Schläge gegen Schlüsselstellungen der Hamas. „Ist Israel
hineingestolpert in diesen sukzessive eskalierenden Krieg ohne
ein klares strategisches Ziel? Hatte es nicht wenigsten eine
glaubwürdige Vorstellung, was es erreichen könnte?“, fragt er.
„Wird Israel am Ende einen Feind politisch gestärkt haben, den
es taktisch besiegt hat? Werden Israels Aktionen die Position
Amerikas in der Region schwer schädigen - wie auch jede Hoffnung
auf Frieden - und auch die gemäßigten arabischen Regierungen und
Stimmen? Ohne Umschweife gesagt: wie es jetzt aussieht, lautet
die Antwort ja.“
Cordesman
schließt: „Natürlich kann sich jeder hinstellen und
unerschütterlich behaupten, taktische Erfolge seien ein
bedeutender Sieg. Sollte dies alles sein, was Olmert, Livni und
Barak zu antworten wissen, dann stehen sie entehrt da und haben
ihrem Land und ihren Freunden geschadet.“
Aus: London Review of Books, 29. Januar 2009
Henry Siegman, früherer Direktor des American Jewish Congress
und des Synagogue Council of America, ist Visiting Research
Professor an der School of Oriental and African Studies der
University of London und leitet das US Middle East Project in
New York.
Übersetzung:
Harm Rösemann