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Der Rückzug ist
(nur) ein Vorspiel zur Annexion
Von Avi Shlaim, Guardian, 22.06.05
Condoleezza Rice begrüßte die Übereinkunft
zwischen Israel und der palästinensischen Behörde, die Häuser der
8.000 jüdischen Siedler in Gaza abzureißen, als historischen Schritt
auf dem Weg zum Frieden. Dies ist ein dummes Statement von einem der
geistlosesten US-Außenminister in der Nachkriegsära. Die
amerikanische Außenpolitik pflegte gegenüber dem Nahen Osten mit
doppelter Moral zu handeln: die eine gegenüber Israel, die andere
gegenüber den Arabern. Um nur ein Beispiel zu geben: die
USA
bewirkten in Bagdad innerhalb von drei
Wochen einen Regimewechsel, aber es gelang ihr nicht, eine einzige
jüdischen Siedlung in den besetzten Gebieten innerhalb von 38 Jahren
räumen zu lassen.
Die zwei wichtigsten Punkte auf Amerikas
augenblicklicher Agenda für die Region ist die Einführung der
Demokratie für die Araber und eine Beilegung des
israelisch-palästinensischen Konfliktes. Amerika indes besteht auf
Demokratie nur bei den arabischen Opponenten, nicht bei seinen
(arabischen) Freunden. Was den Friedensprozess betrifft, ist dieser
wesentlich ein Mechanismus, durch den Israel und Amerika versuchen,
den Palästinensern eine Lösung aufzulegen. Die amerikanische
Heuchelei ist nichts Neues. Aber mit Frau Dr. Rice ist dies mehr als
eine Frechheit.
Im Gegensatz dazu: bei Sharon weiß man, wie man
dran ist. Sein Job war immer nur zerstören - nie aufzubauen. Als
Verteidigungsminister hat er 1982 die Siedlungsstadt Yamit im Sinai
lieber abgerissen, als sie den Ägyptern als Dank für die
Unterzeichnung des Vertrages mit Israel zu überlassen. George Bush
beschrieb einmal seinen Freund Sharon als “einen Mann des Friedens”.
In Wahrheit ist Sharon ein brutaler Kerl und Landräuber.
Sharons Einseitigkeit ist unübertrefflich. Die
nach dem Irakkrieg vom Quartett (USA,
UN, EU,
und Russland) gelieferte Road Map hat drei Etappen
vorgestellt, die bis Ende 2005 zur Errichtung eines unabhängigen
palästinensischen Staates an der Seite Israels führen. Sharon
ruinierte die Road Map, besonders dadurch, dass er die jüdischen
Siedlungen auf der Westbank weiter ausbaute und eine illegale Mauer
baut, die tief in palästinensisches Gebiet hineinschneidet.
Er stellte seinen Abzugsplan aus dem Gazastreifen
als einen Beitrag zur Road Map vor. In Wirklichkeit ist sein Plan
fast genau das Gegenteil. Die Road Map verlangt Verhandlungen
zwischen beiden Seiten, die zu einer Zwei-Staaten-Lösung führen.
Sharon weigert sich zu verhandeln und handelt, um die Grenzen von
Groß-Israel einseitig neu zu ziehen. Zu seinen Unterstützern vom
rechten Flügel sagte er: “Mein Plan ist für die Palästinenser
schwierig, er ist ein tödlicher Schlag. Es gibt bei einseitiger
Maßnahme keinen palästinensischen Staat.” Der wirkliche Zweck der
Maßnahme ist, die Road Map entgleisen zu lassen und den im Koma
befindlichen Friedensprozess (vollends) umzubringen. Für Sharon ist
der Rückzug aus dem Gazastreifen nicht das Vorspiel für ein
dauerhaftes Abkommen, sondern zur Annexion wesentlicher Teile der
Westbank.
Sharon entschied, seine Verluste im Gazastreifen
zu verringern, als ihm klar wurde, dass die Kosten der Besatzung auf
Dauer nicht zu halten sind. Im Gazastreifen leben 8.000 israelische
Siedler und 1,3 Millionen Palästinenser. Die Siedler kontrollieren
ein Viertel des Gebietes, 40% des landwirtschaftlich nutzbaren
Landes und den größten Teil des Wassers. Dies ist ein hoffnungslos
koloniales Unternehmen, begleitet von einem der längsten und
brutalsten militärischen Besatzungen unserer Zeit. Bush unterstützt
öffentlich Sharons Abzugsplan aus dem Gazastreifen und das
Festhalten der vier Hauptsiedlungsblöcke in der Westbank ohne
Rücksprache mit dem Quartett - das ist eine Umkehr der US-Position
seit 1967, die die Siedlungen als ein Hindernis für den Frieden
betrachtete. Im letzten Jahr schlug Sharon vor, die zurückbleibenden
israelischen Vermögenswerte im Gazastreifen einer internationalen
Körperschaft zu übergeben. Nun schlägt er vor, die Häuser und Farmen
zu zerstören.
Der israelische Planwechsel erfolgte wegen der
Befürchtung, dass Hamas sich den Verdienst für den Rückzug anrechnen
und ihre Fahnen auf die leeren Gebäude der Siedler hissen wird.
Beides ist unvermeidlich, weil die Hamas und nicht die
Palästinensische Behörde die Befreierin des Gazastreifens ist, und
weil sich Israel weigert, seine Maßnahmen mit der Palästinensischen
Autonomiebehörde zu koordinieren. Eine andere Befürchtung ist die,
dass Hamas, die von 35-40% der Bevölkerung unterstützt wird, als
ernste Wahlherausforderin der Fatahbewegung von Mahmoud Abbas
auftreten wird.
Dies ist Condis Problem. Wenn es ihr im Ernst
darum ginge, die Demokratie in der arabischen Welt zu verbreiten,
müsste sie das Ergebnis der Wahl akzeptieren; im größten Teil der
arabischen Welt würde sie islamistische, anti-amerikanische
Regierungen hervorbringen. Und Israel hat mehr als jedes andere Land
zu dieser traurigen Lage der Dinge beigetragen. Condi und die
amerikanische Rechte betrachten Israel im Kampf gegen den Terror als
strategischen Pluspunkt. In Wirklichkeit ist Israel Amerikas größter
Passivposten. Für die meisten Araber und Muslime ist das größte
Problem nicht der Irak, der Iran oder die Demokratie, sondern
Israels Unterdrückung des palästinensischen Volkes und Amerikas
blinde Unterstützung Israels.
Amerikas Politik gegenüber dem Nahen Osten ist
kurzsichtig, verworren und ein Irrtum. Nur ein verhandeltes Abkommen
kann dem Gebiet dauerhaften Frieden und Stabilität bringen. Und nur
Amerika hat die Macht, Israel zu solch einem Abkommen zu
veranlassen. Es ist höchste Zeit, dass die
USA
mit Israel, der halsstarrigen Partei und dem Haupthindernis
zum Frieden, streng umgehen. In betrügerischem Einverständnis mit
Sharons selbstsüchtigem und unzivilisierten Plan, die jüdischen
Häuser im Gazastreifen zu zerstören, ist kein historischer Schritt
auf dem Weg zum Frieden.
Avi Shlaim ist britischer
Hochschuldozent am St. Antony-Kolleg in Oxford und der Autor von
“Die Eiserne Mauer: Israel und die arabische Welt”.
Deutsche Übersetzung: Ellen Rohlfs
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