Wenn die
Dämmerung sich ankündigt und die Hitze des Tages erträglich wird,
verwandelt sich die Straße zwischen der israelischen Siedlung Mei
Ami mit 60 Familien auf dem Kamm der Amir-Berge und der nur wenig
entfernten Siedlung in Shaked mit 150 Familien in eine sportliche
Laufstrecke.
Dutzende
arabische Frauen – und vielleicht auch ein paar ihrer Männer, die
von der Arbeit zurückkehren – wandern munter auf den gelben
Fahrbahnbegrenzen an beiden Seiten der Straße mit der Vorgabe, einen
gesünderen Körper zu erzielen, und diesen, wenn es so weit ist, auch
zu erhalten...
Allem
Anschein nach handelt es sich um Frauen im Alter zwischen 30 und 40
Jahren, sofern man das Alter bei den Läuferinnen an den Sportschuhen
erkennen kann, denn sie tragen lange Röcke und ihr Kopf ist
verhüllt.
Viele der
Frauen haben die israelische Staatsbürgerschaft und wohnen in der
zu Israel gehörenden muslimischen Stadt Umm el-Fahm unterhalb des
Berghanges von Mei Ami. Aber sie haben auch enge Verwandte in den
Dörfern der palästinensischen Westbank, die sich rund um Shaked und
eine Anzahl anderer jüdischer Siedlungen an den Berg schmiegen. Sie
sind nur 10 Minuten Fahrt oder 20 Minuten Gehzeit entfernt. Einige
der „Line“-Läuferinnen kommen ursprünglich aus den
palästinensischen Dörfern, sind aber nach ihrer Heirat mit
Einwohnern von Umm el-Fahm in die Stadt gezogen und haben durch
diese Heirat die israelische Staatsbürgerschaft erworben.
Eine
25jährige Einwohnerin von Umm el-Fahm, Re’em (Name wurde geändert),
ist seit sechs Jahren israelische Staatsbürgerin. Sie studierte
Erziehung (Lehramt), unterrichtete aber nur kurze Zeit, weil sie
dann Familie bekam. Jetzt als Mutter von drei kleinen Kindern
überlässt sie ihrer Schwiegermutter einige Male in der Woche ihren
Nachwuchs für ein paar Stunden und „wirft sich“ auf die Straße –
wörtlich.
„Meine
Familie lebt im sogenannten „Sektor C“ der Westbank. Das heißt, dass
Israel in Wirklichkeit die Kontrolle über alles hat, was in diesem
Teil der Westbank passiert. Grundsätzlich dürfen meine Eltern und
meine Geschwister nicht über die Green Line gehen und nach Umm
el-Fahm kommen, um uns zu besuchen, aber für mich ist es kein
Problem, hinüber zu fahren oder zu gehen“ sagt sie und deutet auf
Häuser ganz nahe unter den Bäumen, ein palästinensisches Dorf, das
durch den natürlich gewachsenen Eichenwald des Reichan Forest vor
unseren Blicken fast verborgen ist.
Wir plaudern
englisch, weil Re’em sagt, ihr hebräisch sei ziemlich schwach. –
Mein arabisch ist nicht einmal das. Sie besuchte die Oberschule und
das Kollege in Jenin, der Bezirksstadt in der Westbank, heute ein
autonomes Gebiet unter der Palästinensischen Autorität.
Als ich sie
fragte, ob ihre Familie von „dort drüben“ sie je in Umm el-Fahm
besuchen kommen, zog sie es vor, diese Frage nicht zu beantworten,
sondern wich augenzwinkernd aus: die Situation wie sie ist, fördere
ihre Gesundheit! So mache sie sich auf den Weg und trainiere, nicht
nur, um ihre Gesundheit in Ordnung, sondern auch, um die
weitläufige Familie zusammen zu halten.
Der Versuch,
außer mit Re’em noch mit anderen Frauen zu plaudern, erwies sich
fast als „mission impossible“ (unmögliche Mission), sie zu
fotografieren war absolut unmöglich.
Fest und mit
einem Lächeln auf den Lippen schüttelten die meisten den Kopf, als
ich mich ihnen näherte und sie die Kamera in meinen Händen sahen.
Eine Gruppe
von sechs Läuferinnen, die laut miteinander quatschen und heftig
gestikulieren, kommen direkt auf mich zu; ich stehe auf dem gelben
Begrenzungsstreifen, aber genau an der Stelle, wo die Green Line
(Grenzlinie vor 1967) quer über die Straße schießt.
Es gibt
keinen Hinweis, keinen quer über die Straße gemalten Streifen oder
eine plötzliche Veränderung der Umgebung wie den einst üblichen
völligen Unterschied zwischen West- und Ostberlin.
Wie also
soll man wissen, wo sich diese Linie befindet, die man, wenn man
PalästinenserIn ist, nicht überschreiten soll ? Und ihnen ist auch
strikt verboten, von „dort drüben“ nach „hier herüben“ - in den
Staat Israel - zu kommen.
Als ich
Re’em fragte, ob sie wisse, wo denn genau die Grüne Linie
tatsächlich liege, schüttelte sie den Kopf und zeigte mit der
kleinen Wasserflasche, die sie in der Hand hielt, ganz allgemein in
Richtung Westbank und dem Dorf ihrer Eltern, das von hinter dem
Forst herüber lugt.
Parallel zur
Straße verläuft an dieser Stelle die Sicherheitsbarriere. In 50 m
Breite verläuft sie ohne Rücksicht auf die Unregelmäßigkeit des
Geländes die welligen grünen und braunen Hügel hinunter und wieder
den Hügel hinauf ganz nahe meinem derzeitigen Standort; an die
unteren Hügel schmiegen sich große und kleine palästinensische
Dörfer. Das nächste von mir ist Anin, und unmittelbar an das letzte
Haus schließen sich fast schon die Häuser der sich ausdehnenden
muslimischen Stadt Umm el-Fahm an, die man auf einen hohen
Hügelsporn gebaut hat, der sich von dem Hauptkamm absetzt, bevor
dieser abfällt und sich in das Jezreel-Tal verliert.
Aber der
Sicherheitszaun zwängt sich zwischen die israelische muslimische
Stadt und das palästinensische Dorf!
Kurze Zeit,
nachdem ich versucht hatte, mit den Frauen, die auf den Linien –
gelb, grün oder was immer – wanderten, ins Gespräch zu kommen,
spazierten zwei Herren mittleren Alters langsam aus der Richtung Mei
Ami in die Richtung Westbank; sie plauderten vertraut und locker
während des Gehens.
Die Cousins
Mohammad und Ahmad Yasin wohnen in Anin, das nun an drei Seiten vom
Sicherheitszaun umklammert ist. Von ihren Häusern aus blicken sie
direkt in das Jezreel-Tal und weiter hinaus zur Stadt Afula mitten
im Talgrund; gegenüber auf dem Bergrücken liegt Nazareth und
dazwischen ein paar Dutzend Kibbutzim und Moshavim (israelische
Dörfer im Privateigentum).
Die Männer
stehen einige Meter vom Sicherheitszaun entfernt (Anin ist auf der
anderen Seite) und erklären – in ausgezeichnetem Englisch, weil der
eine von ihnen etliche Jahre in Saudi Arabien für eine
amerikanische Gesellschaft gearbeitet hatte – dass sie die
Erlaubnis haben, zweimal in der Woche durch eine enge Tür im
Sicherheitszaun nahe ihrem Dorf passieren zu dürfen, damit sie ihre
Olivenbäume pflegen können, die auf ihrem Grund zwischen
der Grünen
Linie und dem Sicherheitszaun wachsen.
Der Platz,
an dem wir damals standen, ist genau der Punkt, wo der
Sicherheitszaun von der Grünen Linie abschwenkt und anstatt gerade
über die Straße zu laufen, eine scharfe Kurve macht und parallel zu
dieser wieder zurückgeht und dann hinter den Rückseiten von Shaked
und den
benachbarten jüdischen Siedlungen in den nördlichen Teil der
Westbank ausschwingt.
Physisch
hindert nichts die Herren daran, vom Berg zur Hauptstraße, der
Autobahn Nr. 65, abzusteigen und weiter zu wandern, entweder nach
Afula oder nach Hadera, nach Tel Aviv – in der Tat an jeden Ort im
Staate Israel. „Wir gehen nicht aus dem Gebiet hinaus, wo man uns
erlaubt, unser Land zu bearbeiten. Zweimal in der Woche kommen wir
durch das Pförtchen, bleiben so viele Stunden, wie man uns erlaubt,
und gehen dann nach Hause. Wir wollen keine Schwierigkeiten haben,
wir wollen nur unsere Olivenbäume pflegen“, sagten sie, bevor sie
sich auf den langen Marsch die Straße hinunter zu der Pforte
machten, um zu ihren Häusern zu kommen, die von dem Hügel aus, auf
dem wir miteinander sprachen, gut zu sehen sind.
Linien,
Sperrzaune zu überschreiten ist das tägliche Brot für die Leute, die
in diesem Gebiet wohnen. Die jüdischen Leute denken wahrscheinlich
nicht einen Augenblick nach, wenn sie um die Kurve fahren, die
früher die Grenze zwischen dem Staate Israel und der von Jordanien
kontrollierten Westbank gewesen war, und die Strecke von der C-Zone
in der Westbank zu ihrem Arbeitsplatz im Staate Israel täglich
zweimal zurücklegen.
Den
Yasin-Cousins aus Anin jedoch sind ihre Zonen A, B und C stets
gegenwärtig. Ihr Dorf liegt in Zone B und ist an drei Seiten von
einem Sicherheitszaun und Zone C umgeben. Die nächste Bank,
Geschäfte und medizinische Versorgungsstellen sind in der Stadt
Jenin in der autonomen A-Zone. Das wäre nach einer kurzen Fahrt von
ihrem Dorf aus zu erreichen, wie man auch von dem Aussichtspunkt von
Mei Ami gut sehen kann, wo mittlerweile die Linien durch die
Witterung vieler Jahre mehr und mehr verblassen.