Auf der Grünen Linie schlafen
Von
Lydia Aisenberg
In
seiner etwas schmuddeligen Ecke zwischen dem Ladentisch und Regalen
voller vermischter Waren sitzt Allam Abu Abead und braut Kaffee.
Die
Kaffeemaschine hat viel Ähnlichkeit mit einer Schuhschachtel und steht
unter Reihen von Deodorants, Aftershaves und Parfumfläschchen. Es
scheint, dass die Kaffeemaschine der einzige Artikel auf den Regalen in
diesem Teil des Ladens ist, den nicht eine Schicht von feinem grauen
Staub bedeckt.
Allam
kommt aus Jenin, der autonomen palästinensischen Stadt ganz nahe von
seinem Geschäft in West Barta’a, aber Welten weit entfernt. Tatsächlich
ist Jenin nicht mehr als 30 km von Barta’a entfernt, aber um dorthin zu
gelangen, müsste Allam durch den Checkpoint von Reichan-Barta’a im
Sicherheitszaun gehen, und der liegt rund 2 km hinter Ost Barta’a.
An
einem guten Tag kommt man in einer halben Stunde durch den Chequepoint.
Aber offensichtlich gibt es nicht so viele gute Tage, und so kann es
zwischen einer und zwei Stunden dauern, je nachdem, wie es zu der Zeit
mit der allgemeinen „Sicherheitslage“ in der Region ausschaut.
Wenn
es irgendeinen Alarm gibt oder in Israel Ferien sind, ist der
Chequepoint oft überhaupt geschlossen. In „normalen“ Zeiten wird das Tor
um 10 Uhr abends geschlossen und wird am frühen Morgen wieder geöffnet.
Falls es sich um irgendeinen Notfall handelt, gibt es eine
Telefonnummer, die man wählen kann, und dann wird das Tor geöffnet –
oder nicht – je nach der Schwere des Falles oder, wie einige
Palästinenser behaupten, je nach der Laune dessen, der gerade Dienst
hat.
Allam
geht nicht nach Jenin nach Hause, sondern kampiert ständig in Barta’a.
Dort hat er ein Quartier gemietet, aber man kann ihn normalerweise vom
Morgen an bis spät in die Nacht in und um sein Geschäft finden.
Schließlich versucht er, seinen Lebensunterhalt zu verdienen und
überhaupt, was soll man in Barta’a denn sonst noch tun.
Allam
sollte nicht da Geschäfte machen, wo er es tut, sollte nicht schlafen,
wo er es tut. Im aktuellen Fall sollte Allam überhaupt nicht auf dieser
Seite des Sicherheitszauns sein, weil die Erlaubnis dazu inzwischen
abgelaufen ist, und er war nicht bei den israelischen Behörden, um sie
zu erneuern, besonders, weil man nun eine neue Regel ins Spiel gebracht
wurde, die er stark ablehnt. Auf dem neuen Ausweis – sollte er einen
bekommen – steht, er müsse das Gebiet um 19 Uhr am Abend verlassen
haben.
„In
den Sommermonaten haben wir wirklich bis spät in die Nacht offen, weil
dann die große Anzahl an Kunden kommt. Glaubst du im Ernst, dass ich
zusperre und aus dem Geschäft gehe, wenn es Arbeit gibt ?“ fragt Allam
mit einem Lachen im Gesicht, während er den siedend heißen, dicken und
stark duftenden Kaffee in kleine Wegwerfschälchen aus Plastik gießt.
Er
mietet ein kleines Zimmer in einem provisorischen „Gebäude“, das
hauptsächlich aus einer Anzahl von Schiffscontainern besteht, die man zu
Geschäften zusammengeworfen hat. Ein zweites Geschoß wurde auf das Dach
der Container gesetzt, und damit waren einige kleine, schäbige Räume
geschaffen, die man zum Wohnen vermietet hat. Allams Bett da hoch oben
hängt im wörtlichen Sinn über einem Graben, dem Graben – der
„Grünen Linie“, obwohl sie ehrlich alles andere ist als „grün“,
angefüllt mit Abfällen, eine luxuriöse Brutstelle für Moskitos, Fliegen
und anderes Ungeziefer.
Die
Geschichte von Allam Abu Abead ist typisch für viele Palästinenser, die
man sowohl in West- wie auch in Ost-Barta’a bei der Arbeit antreffen
kann. Sie dürfen hier nicht sein, aber jeder weiß, dass sie hier sind,
einschließlich der Sicherheitskräfte. So lange es ruhig ist, setzt
niemand das Schiffchen ins Wasser, das erfolgreiche Handelszentrum wird
weiterhin blühen und für viele Familien in der Westbank die wichtigste
Einkommensquelle sein.
Allams
Laden besteht aus zwei Teilen: der Bereich um den Haupteingang ist reich
bestückt mit arabischen Musik-CDs, mit Video-Apparat und Computer.
Elektrische Drähte überall: auf und über der Wand, unter dem Eingang
durch und hinaus nach irgendwo. Während unseres Gesprächs hüpft ein
junger Mann herein und hinaus und versucht, etwas mit allen diesen
Drähten zu unternehmen, um Allams Computer wieder anzuschließen.
Als
ich Allam frage, ob er aus Asien importiert wie so viele andere
Kaufleute, lacht er herzlich und meint: „pflanzt du mich? Dazu bin ich
nicht groß genug. Ich kann Waren einkaufen, wo ich will. Einkaufen ist
nicht das Problem, das Verkaufen ist der schwierige Teil“, sagt er mit
einem breiten Grinsen.
Einige
Frauen kommen herein um irgendetwas zu kaufen. Sie sind leicht chockiert;
alles, was sie zu kaufen beabsichtigen, ist in Zellophansackerln
verpackt, die mit einer dicken Staubschicht überzogen sind. Sie benutzen
nur zwei Finger, eine der Frauen hebt die Ware gerade am Zipfel des
Säckchens hoch und legt es sorgfältig auf die Glasplatte des
Ladentisches, um den Staub nicht zu verteilen. Die Konversation
geschieht in arabisch, das verstehe ich nicht. Trotzdem verstehe ich
irgendwie, dass sie sagt, sie möchte die Ware haben, aber nicht den
Staub. Allam fängt an, den Staub mit einem Fetzen wegzuwischen.
Der
Staub wird durch die Verkehrslawine draußen in den Laden geweht. Die
Infrastruktur des Dorfes kommt nicht zurecht mit der großen Zahl der
Fahrzeuge, die sich durch die enge Hauptstraße winden, an deren beiden
Seiten sich kleine Geschäfte drängen. Jeder, der die Möglichkeit hat,
Israeli oder Palästinenser, verwandelte ein Zimmer an der Straßenseite
in ein Geschäft, um es zu vermieten und in der Zeit, als der Wohlstand
nach der zweiten Intifada im Jahr 2000 anfing, an die Tore von Barta’a
zu klopfen, ein bisschen Geld zu machen.
Man
kann ohne fehl zu gehen sagen, dass es in Barta’a haufenweise Geschäfte
am Türpfosten gibt, und wo immer es ein bisschen Raum gibt, werden
hastig Buden errichtet, um noch ein anderes „bizziness“ anzufangen, wie
ein Mann seinen Kiosk aus einem Schiffscontainer nannte, von dem aus er
Falafel verkauft. Dieser Container sitzt im wahrsten Sinn des Wortes
breitbeinig auf dem Graben auf der Grünen Linie.
Allam
Abo Abead zahlt einem israelischen arabischen Bürger Miete, dem das
Geschäft gehört, wo er Parfum und volkstümliche sowie klassische
arabische Musik verkauft. Er zahlt auch einem anderen arabischen Bürger
von Israel Miete, dem der Container mit der Kiste oben gehört, in der er
schläft. Er zahlt Steuern an die örtliche Stadtverwaltung von West Barta’a,
die zurzeit eifrig bestrebt ist, den ganzen Hauptplatz auf ihrer Seite
der Grünen Linie aufzupolieren, indem sie die Straße pflastert, die
Oberfläche ordentlich macht und einen kleinen Park mitten auf dem Platz
anlegt. Allam zahlt jedoch nicht VAT (= value added tax =
Mehrwertsteuer) für die Waren, die er verkauft, oder irgendeine andere
Steuer – nicht an die Israelis und ebenso wenig an die Palästinenser.
Die andere Seite des Dorfes liegt unter der Verwaltung der PA (=
Palestinian Authority). Jedoch, bis zum heutigen Tag, wird auf den
Steuererheber von Jenin, dem palästinensischen Verwaltungszentrum des
nördlichen Teils der Westbank, gewartet.
Ziemlich schwierig sich auszumalen, wie denn und wann sie wirklich in
die Stadt kommen, und wie ein Steuererheber des PA Steuern einheben
könnte von einem Palästinenser, der im Staat Israel, also in West Barka’a,
illegal Geschäfte macht.
Allam
spricht sehr gutes Englisch, etwas zögerlich wohl, weil er wenig
Gelegenheit hat, es oft zu benutzen. Er hat einige Zeit im Irak zum
Studium verbracht und wohnte in einem Haus in Bagdad. Er ist
unverheiratet, hat aber eine Freundin in einer der nahen israelischen
arabischen Städte – wo er vermutlich auch nicht hingehen darf, weil er
ja die Grüne Linie, oder den Sicherheitszaun, um dieser Sache willen
nicht überschreiten darf, der ja in diesem Bereich nicht mit der Grünen
Linie übereinstimmt, sondern einige Kilometer in die Westbank hinein
mäandriert.
Vor
der Intifada hatte Allam ein Geschäft in Jenin. Er verlegte dieses
Geschäft nach Baka al-Sharkiya in Wadi Ara. Einige Jahre lang hat sich
dort ein sehr erfolgreicher Markt etabliert, ein Teil davon in Baka
al-Sharkiya (Ost-Baka) in der Westbank, der andere Teil in Baka
al-Gharbiya (West-Baka) im Staat Israel. Damals konnte man seine Früchte
in Israel kaufen, dann ein paar Schritte gehen und sein Gemüse in der
Westbank abholen, so ähnlich wie in Barta’a heute. Heute jedoch trennt
ein Sicherheitszaun und ein Stück Mauer die beiden Bakas von einander.
Nachdem auf dem Marktplatz von Baka al-Gharbiya und Sharkia sowie
allgemein in der Nachbarschaft einige Israelis ermordet worden waren,
wurden hunderte von Geschäften und Buden durch die israelische Armee
zerstört. Allams Geschäft in Ost-Baka wurde auch dem Erdboden
gleichgemacht. Mit allem, was er retten konnte, übersiedelte er nach
Baka al-Gharbiya in Israel und fing von Neuem an, während er bis zum
heutigen Tag ein ähnliches Geschäft in Jenin hat, das von einem seiner
Verwandten betrieben wird.
Allams
Geschäft in Baka al-Gharbiya lag im Zentrum einer sich ausbreitenden
Stadt. Zweimal wurde er eingesperrt, weil er sich ohne Genehmigung in
Israel befand.
„Wenn
ein Feld- oder ein Bauarbeiter illegal herüberkommt, ist es nicht so
einfach, ihn zu fangen. Sie gehen von einem Ort zum anderen und sind in
Gebieten, die oft weit von der Hauptstraße weg sind. Ich, andererseits,
blieb in einem Geschäft an der belebten Hauptstraße und sehr leicht zu
finden“, erklärt er mit einem Grinsen – und fragt gleichzeitig, ob man
noch einen Kaffee haben will.
Das
eine Mal saß er im Kishon Gefängnis, seine Zellengenossen waren ein
israelischer Druse und ein russischer Einwanderer. „Wir sind unter
diesen Umständen sehr gut miteinander ausgekommen“, sagt er mit einem
Lacher.
Weil
er allzu leicht im Zentrum von Baka al-Gharbiya entdeckt werden konnte,
übersiedelte Allam sein Geschäft noch einmal, diesmal nach Barta’a.
Allam
beantwortet Fragen klar. Sein Wissen über den „Konflikt“ ist profund,
oft zitiert er, was in Madrid, Wye, Camp David und so weiter gesagt,
getan wurde, worüber man sich geeinigt hat und was abgelehnt wurde. Sein
Kommentar in Bezug auf die Beziehungen von Fatah und Hamas habe ich so
verstanden, dass er nicht zu positiv in die nahe Zukunft des
palästinensischen Volkes schaut, die Machtkämpfe zerstörerisch für die
Sache der Palästinenser einschätzt und in der Korruption der Fatah den
Faktor sieht, der vor allem zur gegenwärtigen teuflischen Situation
geführt hat.
Ungleich vielen Palästinensern, auch jenen mit israelischer
Staatsbürgerschaft, glaubt er fest, dass der Holocaust stattgefunden hat
und sieht Hitler als einen Bösewicht.
„Ich
hasse die Juden nicht, die meisten von uns hassen sie nicht. Wir hassen
die Situation. Das palästinensische Volk kann nichts für den Holocaust;
er dürfte nicht benutzt werden, um die Palästinenser zu berauben, wie es
jetzt getan wird“, sagt er mit großer Emotion.
So
weit er wisse, verließen viele Juden freiwillig Irak und andere Länder,
um nach Israel zu gehen, nicht weil sie verfolgt worden wären und viel
zu verschreckt, um zu bleiben. Im Gespräch rund um diesen Gegenstand
hörte er den Geschichten aufmerksam zu, die die Autorin von irakischen
Juden erzählte, aber ich hatte das Gefühl, dass, was immer ich sagte,
würde
ihn nicht davon abbringen zu glauben, dass die Juden arabische Länder
nicht verließen, weil sie bedroht wurden, sondern weil sie so stark
wünschten, im neuen Staat Israel zu leben.
Auf
meine Frage, wie er die arabischen Bürger Israels sah und welche
Beziehung er zu denen hatte, die rundherum in Barta’a. Baka al-Gharbiya
und anderswo lebten, antwortete er:
„Sie
sind ein Teil von uns, aber gleichzeitig sind sie anders. In der Tat
sind sie in einer schlechteren Lage als wir Palästinenser. Wenn ihnen
etwas passiert, empfinden sie sich sehr als die Unseren, und uns geht es
genau so, wenn es bei ihnen Probleme gibt. Sie haben eine
Identitätskrise, wir nicht“.
Im
Gespräch über Jenin sagte Allam, dass er viele Menschen kenne, die nicht
genug Nahrung für ihre Kinder herbeischaffen können.
„Es
ist besser, als Flüchtling in Jenin zu leben als in einer der ansässigen
Familien. Registrierte Flüchtlinge bekommen immer noch Hilfe von der
UNWRA – Basis-Nahrungsmittel – während die einheimische palästinensische
Bevölkerung, die nicht als Flüchtlinge betrachtet werden, nichts
bekommen und hungrig bleiben“.
Hinsichtlich der Verweigerung der Arbeitserlaubnis für Palästinenser,
wie das vor der Welle der Gewalt innerhalb des Staates nach Oslo für
eine große Anzahl die Norm war, meinte Allam, er verstünde nicht, warum
nur eine limitierte Anzahl von verheirateten Familienvätern Permits
bekämen. „Weil ich ledig bin, kann ich keine Arbeitsgenehmigung in
Israel erhalten. Ich verstehe die Logik der Israelis nicht… wirklich!
Hätte ich Kinder und meine Kinder würden leiden, würde ich doch
hingetrieben, etwas Drastisches zu unternehmen. Wenn deine Kinder
hungrig wären, was würdest du tun in dieser Situation?“ fragte er. „Wo
ist da die Logik?“
Allam
Abo Abead ist ein charismatischer 38jähriger Palästinenser, und das
halbstündige Gespräch mit ihm erwies sich als interessant, aufbauend,
klärend und beunruhigend – in vielem stimme ich zu, in vielem können wir
das nicht: Aber wir reden miteinander, und Schritt für Schritt bauen wir
Brücken über die tosenden Wasser … voll Hoffnung.
Juni
2009
(dt.
Gerhilde Merz) Quelle direkt von der Autorin an die Übersetzerin
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