Die große
Einsamkeit - Grenzen in Palästina und Israel
(6) - 03.02.2009
Am 16. Januar 2009
wurde das Haus des Gynäkologen Dr. Az Ad-Din Abu Al-Eish
direkt getroffen. Die Adresse: Salah-Ad-Din-Straße, an
der Zemo-Kreuzung, Beit Lahiya, Gazastreifen. Sechs
Familienmitglieder wurden sofort getötet, darunter drei
seiner Töchter. Eine weitere Tochter und eine Nichte
wurden verletzt, die eine schwer, die andere leichter.
Auch zwei seiner Brüder wurden verletzt. Die israelische
Organisation Ärzte für Menschenrechte, langjähriger
Partner von medico international, wandte sich an die
israelische Armee, um die Evakuierung der Verletzten zu
koordinieren. Dr. Abu Al-Eish ist ein alter Partner und
Freund der Ärzte für Menschenrechte und hat in
israelischen und UN- Krankenhäusern gearbeitet. Die
Armee reagierte prompt und evakuierte die Verletzten in
israelische Krankenhäuser. Die Ärzte für Menschenrechte
machten sich keine Illusionen: Die schnelle Evakuierung
war lediglich eine Reaktion auf die Berichterstattung
über den Fall im israelischen Fernsehen, in dem
ansonsten kaum jene erschreckenden Bilder von toten
Zivilisten und schreienden Kleinkindern, die um die Welt
gingen, gezeigt wurden. Dr. Abu Al-Eish war nämlich
zuvor täglich in den Hauptnachrichten des israelischen
Kanals 10 zugeschaltet. Die Attacke auf seine Wohnung
wurde deshalb fast live gezeigt. Ganz Israel schaute zu,
als Dr. Abu Al-Eish mit aus Trauer und Schock verzerrtem
Gesicht um seine toten Kinder weinte, schrie.
In der Zentrale
der Ärzte für Menschenrechte herrschte nach diesem
Vorfall Schockstarre. Mit den Tränen kämpfend schickten
sie wenig später folgende Nachricht an die Presse: »Es
ist wichtig zu unterstreichen, dass die Evakuierung der
Überlebenden dieser einzelnen Attacke nach Israel die
Behauptung der israelischen Behörden widerlegt, es wäre
aufgrund des Widerstands der Hamas nicht möglich,
Verletzte nach Israel zu evakuieren.«
Kurz darauf haben
die israelischen Behörden eine Klinik an der Grenze zu
Gaza eröffnet, 21 Tage nach dem Beginn der Kämpfe. 21
Tage – in denen etwa 1300 Menschen, darunter etwa 300
Kinder, getötet wurden, viele Tausende verletzt,
verstümmelt – haben die Ärzte für Menschenrechte
gebeten, gedroht, geschrieben, telefoniert, um die
Evakuierung von Verletzten zu koordinieren. Vergebens.
Keiner da auf der Gegenleitung, lediglich Verachtung für
diese »Freunde der Hamas«. Und jetzt – ein Erfolg? Zu
durchschaubar war dies ein Versuch der israelischen
Regierung, durch humanitäre Symbolik die massiven
Angriffe auf die Zivilbevölkerung in Gaza aufzuwiegen.
Eine weitere Presseerklärung folgte, die den zynischen
Gebrauch von Hilfe durch die geölte israelische
Propagandamaschinerie – deren Erfolge in den
israelischen Medien so oft in diesen Tagen aufgezählt
wurden – anprangerte.
Vergebliche Proteste
Wir sitzen mit den
Mitarbeitern der Ärzte für Menschenrechte in einem
wuseligem Tel Aviver Cafe. Es ist Freitagnachmittag. Die
Menschen sprechen über die Delikatessen, die sie für das
Wochenende kaufen möchten, über die unerträglichen Staus
in Tel Aviv. Der Krieg in Gaza, lediglich 60 Kilometer
südlich, scheint weit entfernt zu sein. Alltägliche
Besatzungsvergessenheit auch in Kriegszeiten. Eben haben
wir sie begleitet auf einem Protestkonvoi nach Gaza: Die
Ärzte für Menschenrechte haben ihre Unterstützer
aufgerufen, einen Konvoi mit Medikamenten für Gaza zum
Übergang Kerem Shalom zu begleiten. Es sollte eine
stille Demonstration sein, für einen Waffenstillstand.
Dreihundert Menschen folgten dem Ruf, arabische und
jüdische Israelis, und kamen in drei Bussen und in ihren
privaten Autos, darunter Dutzende von Bürgern aus eben
den Ortschaften, die unter dem ständigen Beschuss der
Hamas-Raketen leiden. Die Behörden reagierten jedoch
prompt: Etwa 20 Kilometer vor der Grenze wurden wir von
der Polizei gestoppt. Jedem Protest wurde mit
Gewaltandrohung begegnet. Die Fahrer wurden gezwungen,
zurückzukehren. Erst in Tel Aviv erhielten sie ihre
Papiere zurück. Die Demonstration wurde gesprengt, doch
die Teilnehmer demonstrierten spontan vor dem Sitz des
Generalstabs in Tel Aviv. Vorbeifahrende Autofahrer
beschimpften sie unentwegt.
Den
Hurra-Patriotismus der überwiegenden israelischen
Bevölkerung halten sie an diesem Tag kaum aus. Sie
durften nicht an die Grenze aus »Sicherheitsgründen« –
Dutzende Schaulustige durften aber wohl an die Grenze,
um, wie es eine junge israelische Frau am Vorabend im
Fernsehen sagte, »live mitzubekommen, wie unsere Armee
Gaza endlich platt macht, vernichtet, ausräuchert«.
Etwas abseits von dem Tisch mit den jüngeren
Mitarbeitern sitzt Ruchama Marton, Gründerin und
Präsidentin der Ärzte für Menschenrechte. Sie lässt sich
nicht von der niedergeschmetterten Atmosphäre anstecken.
Ich erinnerte mich an ihre Rede, die sie bei der
medico-Konferenz »Macht und Ohnmacht der Hilfe« hielt (vollständig
unter
http://www.medico-international.de/projekte/nothilfe/einsamkeit.asp)
– »Die wichtigste Erfahrung, die die PHR machen, ist die
der Einsamkeit, sowohl zu Hause als auch im Ausland. Das
soll nicht heißen, dass wir keine Unterstützung von
unseren Kollegen im Ausland bekommen, sondern betont
vielmehr, dass diese Form der Einsamkeit etwas selbst
Gewähltes ist. Als Teil einer Gesellschaft von Tätern
haben wir kaum Alternativen.«
Ruchama
Marton
Ruchama ist
Psychotherapeutin. Vor 20 Jahren hat sie die Ärzte für
Menschenrechte – Israel gegründet und beharrt auf ihrem
Standpunkt, dass die israelische Besatzung die
entscheidende Ursache für die Konflikte zwischen
Israelis und Palästinensern darstellt. Den warmen Schoß
der Konsensgesellschaft fürchtet sie. Als Psychiaterin
und Therapeutin weiß sie, dass wir alle geliebt werden
wollen und uns als Teil einer Gemeinschaft fühlen
möchten. Doch Ruchama Marton hat sich anders
entschieden: Sie hat die Einsamkeit bevorzugt. Nicht
dass sie keine Freunde hätte. Bald wird sie, wie fast
jeden Freitag – während sich die meisten in den Häusern
rundherum auf den traditionellen Familienabend
vorbereiten – ihre alten Weggefährten, Uri Avnery und
andere linke Aktivisten jenseits des Pensionsalters
treffen. Bei einer dieser Runden vor fast zwanzig Jahren
sprach man davon, dass Aufrufe und Unterschriften keinen
Sinn mehr machten. Damals kam es in Gaza zu
Zusammenstößen ungeahnten Ausmaßes zwischen der
palästinensischen Bevölkerung und der israelischen
Besatzungsarmee. Verteidigungsminister Rabin befand sich
gerade im Ausland und weigerte sich, für so eine
Lappalie zurückzukehren: Brecht ihnen Hände und Beine,
hatte er zur Niederschlagung des Aufstands empfohlen.
Das brachte ihm traurige Berühmtheit ein. In der
Oppositionellen-Runde im Café gab es viele Vorschläge
über mögliche Vorgehensweisen gegen diese Brutalität.
Der Regisseur Sinai Peter hatte es schließlich satt:
Anstelle der stetigen Streitereien zwischen Aktivisten
solle doch jeder Einzelne Menschen aus seiner
Berufssparte zusammenrufen und konkrete Aktionen planen.
Ruchama tat sich daraufhin mit einigen Ärztekollegen
zusammen und fuhr nach Gaza. Das schmutzige Krankenhaus,
in dessen Korridoren zahlreiche Familien ihre Mahlzeiten
zu sich nahmen und Katzen frei herumliefen, war voller
Verletzter. Israelische Soldaten hatten Rabins Vorschlag
tatsächlich in die Tat umgesetzt und vielen Menschen
Beine und Arme gebrochen. Die israelischen Ärzte
erfuhren, dass die israelische Armee ihre
palästinensischen Kollegen schikanierte und erniedrigte.
Schnell war klar, dass man diesen Kollegen solidarischen
Beistand leisten wollte. Die Wut über die Zustände fand
so auch eine Handlungsmöglichkeit.
Ruchama und ihre
Kollegen waren damals unendlich schockiert gewesen.
Dabei wirken diese Ereignisse vom Dezember 1987, die als
der Beginn ersten Intifada in die Geschichtsbücher
eingingen, von heute aus gesehen wie vergleichsweise
harmlose Szenen.
Von der
Einsamkeit
Ruchama erzählt
dies in ruhigem und analytischem Ton. Der kann jedoch
nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie seit 20 Jahren
wütend ist. Aus dieser Wut schöpft sie ihre Energie,
ihre bewusste Entscheidung, sich außerhalb des
israelischen »Wir« und des israelischen Konsenses zu
stellen. Ruchama bezeichnet das als ihre Entscheidung
für die »Einsamkeit«. Vor 20 Jahren hat sie die Ärzte
für Menschenrechte gegründet. Sie ist deren Präsidentin,
ein Ehrenamt.
Ruchamas Sätze
sind trocken und scharf: »Die so genannte Kultur des
Dialogs liegt mir fern: Sie geht davon aus, dass man mit
Worten und symbolischen Akten über dem Abgrund, den die
Besatzung darstellt, einfach schweben kann. Ich
beteilige mich prinzipiell nicht an Dialogen, die nicht
klar und für alle deutlich die Besatzung bekämpfen.
Alles andere nützt nur der Besatzung, weil es die
Realität schönredet.« Palästinensische Freunde hat sie
viele, obwohl einige mittlerweile eines natürlichen
Todes gestorben sind. Zu den Freunden in Gaza ist es
nicht mehr möglich, den Kontakt aufrechtzuerhalten. Seit
dem Hamas-Putsch im Sommer 2007 steht der Gazastreifen
unter Quarantäne, doch schon seit über fünf Jahren
dürfen sich Israelis und Gaza-Bewohner nicht mehr
treffen. »Wir leben hier in einer Mittelmeerkultur:
Beziehungen über das Telefon am Leben zu erhalten, ohne
gemeinsame Mahlzeiten und Besuche zu Hause, ist kaum
möglich.«
Gibt es bei allem
berechtigten Pessimismus, der ihre Wut nährt, nicht doch
Chancen, frage ich sie: Die Idee eines
Palästinenserstaats wird heute auch vom israelischen
Establishment und Teilen der Rechten akzeptiert? Ja,
sagt Ruchama, aber sie verfolgen damit ganz andere,
langfristige Ziele. Innerhalb des Besatzungssystems
seien die Palästinenser jahrelang immer weiter
systematisch enteignet und unterdrückt worden. Der
Anschein von Staatlichkeit, den das israelische
Establishment den Palästinensern nun zubilligen möchte,
wolle nichts weiter als diesen Prozess legalisieren.
Zugleich entledige man sich so geschickt einer drohenden
palästinensischen Mehrheit, die bei anhaltender
Besatzung sehr bald kommen würde.
Unterdessen
verbreiteten die rechten Kräfte in Israel offener denn
je rassistisches Gedankengut. Ruchama hat dafür einen
medizinischen Begriff: akute Machtvergiftung, die
chronisch geworden ist. Auch die Mitte – inklusive Teile
des Friedenslagers – belügt sich selbst über die
tatsächlichen Verhältnisse in den besetzten Gebieten. So
gelänge es ihr, ihre moderaten, aber tief verwurzelten
Vorurteile weiter zu kultivieren. Diese nähmen die
Besatzung nicht als historischen und sozioökonomischen
Prozess wahr, sondern erklärten die Situation mit
einzelnen, in das Bild passenden Ereignissen, bei denen
der Andere die eigenen Vorurteile und
Selbstgerechtigkeiten zu bestätigen scheint. Dadurch
erscheinen die Palästinenser als ewige
Friedensverweigerer, ihre Führung als gewalttätige
kriminelle Banden, ihre Religion als unüberwindbares
Hindernis für eine gemeinsame Zukunft. So rechtfertigt
die israelische Mitte die Verdrängung des Volks, dessen
Land sie beerben möchte und dem gegenüber weder
Gerechtigkeit noch Mitgefühl möglich sein können.
Als
Psychotherapeutin kann sie in der Lüge und dem
Selbstbetrug immerhin noch das Schamgefühl erkennen, das
ihnen vorausgeht. Es gibt, das wissen die meisten, tief
in ihrem Inneren einen Grund, sich zu schämen. Diese
kleine, nicht mehr junge Frau mit der markanten,
graumelierten Kurzhaarfrisur und der schnittigen
Hornbrille setzt auch in Zukunft auf dieses Schamgefühl.
Denn gerade die Ärzte für Menschenrechte sind es, die
den in Israel verbreiteten Selbstbetrug und die
Schönfärberei mit ihrer Arbeit bloßstellen. Ihre mobilen
Kliniken in die Westbank, ihre unausgesetzten
juristischen Eingaben zugunsten palästinensischer
Patienten, die öffentlich gemacht werden, ihre Arbeit
für Gaza halten der israelischen Gesellschaft einen
unerbittlichen Spiegel vor.
Zuerst erschienen
in: Kommune
01/2009