Wie ein Tabu für deutsche Leser: Das Buch
und schon der Titel
Ilan Pappes Buch über die „Ethnische
Säuberung Palästinas“ jetzt auch deutsch
von Rupert Neudeck - 03.09.2007
Wo man in diesem Buch
hinliest, wird man von einem Schauer ergriffen.
Schließlich kann man das Buch jetzt deutsch lesen,
obwohl der eingeweihte Leser das nicht für möglich
gehalten hat. Man liest die Sätze und Überschriften
jetzt auch deutsch. Im ersten Moment meint man, aus
politischer Korrektheit (oder auch aus politischer
Feigheit) müsse man das Coverbild, das Titelbild des
Buches verstecken. Denn es steht dort ohne
Anführungszeichen:
„Ilan Pappe: Die
ethnische Säuberung Palästinas“. Der Titel wirkt noch
wagemutiger, da er nicht mal durch einen Untertitel
gemildert ist.
Pappe hat leider seinen
Lehrstuhl in Haifa aufgegeben, weil er fachlich und
politisch mehrfach mit der Universitätsleitung in
Konflikt geriet. Er hat Israel bereits verlassen, weil
er es erlebt hat, dass es zunehmend schwierig sei, mit
unwillkommenen Meinungen und Überzeugungen in Israel zu
leben. Pappe lebt mittlerweile in Großbritannien und hat
zur Zeit den Lehrstuhl für Geschichte an der Universität
Exeter inne.
„Tihur-zeit“ ist ein
Unterkapitel überschrieben. Tihur ist ein hebräisches
Wort für Säuberung und bedeutet wörtlich „Reinigung“.
Nachdem der jüdische Staat am 14. Mai 1948 ausgerufen
worden war, tauchte dieser Begriff oft in den
Einsatzbefehlen der jüdischen Armee auf.
Die Mitglieder der
Regierung des Jüdischen Staates befassten sich jetzt
nicht mehr mit „Dalet“, dem Masterplan der Vertreibung.
Denn der Plan Dalet lief ja in den letzten Wochen und
Monaten reibungslos und bedurfte kaum noch irgendwelcher
Direktiven. Man war jetzt dabei, sich zu beraten über
die Frage, ob man ausreichend Soldaten hatte für die
Zwei Fronten: Einmal gegen die arabischen Armeen, dann
gegen die eine Million Palästinenser, die
völkerrechtlich seit dem 15. Mai 1948 israelische
Staatsbürger waren.
Die Befehle bei der
Alexandroni Brigade trafen am 12. Mai ein: „Vom 14. bis
15. sind zu besetzen und zu zerstören: Tira, Qalansuwa
und Qaqung, Irata, Danba, Iqtaba und Shuweika. Außerdem
sollte Qalqilya besetzt, aber nicht zerstört werden“.
Der aufmerksame und sensible Autor fügt in Klammern
hinzu: diese Stadt im besetzten Westjordanland, die die
Alexandroni Brigade nicht einnahm, „ist heute
vollständig von der acht Meter hohen Sperrmauer umgeben,
die Israel errichtet hat“.
Zwischen Tel Aviv und
Haifa gab es auf einem 100 Kilometer langen und 15 bis
20 Kilometer breiten Küstenstreifen 64 Dörfer.
Nur zwei blieben von
diesen 64 verschont, alle anderen wurden zerstört:
Furaydis und Jisral Zarqa. Auch deren Zwangsräumung war
geplant, aber die Einwohner der benachbarten jüdischen
Siedlungen überredeten die Armeekommandeure, sie zu
verschonen, indem sie behaupteten, sie bräuchten die
Einwohner als ungelernte Arbeiter in Haus und Hof.
In Tantura kam es dann
noch zu einem schrecklichen Massaker, das in der
zeitgeschichtlichen Folge nur deshalb nicht so bekannt
wurde, weil dieses Entsetzen sich schon an Deir Yassin
heftete. Erschreckend: Israelis arbeiten damals auch
schon mit den örtlichen Kollaborateuren. Am 15. Mai
trafen sich die Notablen des Dorfes mit jüdischen
Geheimdienstoffizieren, die ihnen die Kapitulation unter
bestimmten Bedingungen anboten. Sie lehnten ab. Da
begann der Angriff auf das Dorf am 22. Mai.
Die Offensive erfolgt
von allen vier Seiten. Das sei nicht normal gewesen,
denn in der Regel schloß die Brigade das betreffende
Dorf von drei Seiten ein, um an der vierten Seite ein
„offenes Tor“ zu schaffen. Sie trieben die gefangenen
Einwohner an den Strand, trennten Frauen und Kinder von
den Männern. Die Männer sollten am Strand warten auf die
Ankunft des Geheimdienstoffiziers Mashvitz. Der suchte
einzelne Männer heraus und ließ sie in kleinen Gruppen
hinrichten. Das geschah nach Listen aus dem Dorfdossier,
auf der alle standen, die sich an der Revolte 1936 oder
an Angriffen auf jüdischen Verkehr beteiligt hatten.
Erst Yaacov Epstein, der Leiter der jüdischen Siedlung
Zikhron Yaacov, konnte die Mordorgie stoppen.
Pappe zitiert einen
jüdischen Offizier, der die Hinrichtungen selbst
berichtet: „Gefangene wurden etwa 200 Meter beiseite
geführt und dann erschossen. Soldaten kamen zu dem
Oberkommandierenden und sagten: ‚Mein Vetter wurde im
Krieg getötet’. Als sein Kommandeur das hörte, befahl er
den Truppen, eine Gruppe von fünf bis sieben Leuten
abzuführen und hinzurichten.“
Was damals in Tantura
geschah, war die systematische Exekution wehrfähiger
junger Männer durch jüdische Soldaten. Ein Augenzeuge,
den Pappe zitiert, hielt sich bei einem Freund im Dorf
auf, da die jüdischen Truppen sein Heimatdorf im Februar
1948 schon zerstört hatten. Er sah mit, wie vor seinen
Augen 85 junge Männer aus Tantura in Zehnergruppen
abgeführt und auf dem Friedhof oder in der nahen Moschee
hingerichtet wurden. Das Buch beschreibt die
Bestrebungen, einen ausschließlich monoethnischen Staat
zu bauen, der durch Ben Gurion dann auch so gebaut
wurde. Er beschreibt die Teilung des Landes, die UN
Resolution 181. Die Aufstellung des Masterplans, der
diese Säuberung durchführen sollte, den Plan Dalet, die
„Blaupause der ethnische Säuberung“.
Die nächsten Kapitel
sind dem Scheinkrieg und dem realen Krieg um Palästina
im Mai 1948 gewidmet. Der Autor beschreibt dazu die
Eskalation, die sich nach der Gründung und Etablierung
des Staates Israel durch die Säuberungs-Aktionen ergab.
Die drei letzten
Kapitel führen historiographisch weiter. Sie
beschreiben den Memorizid, also die Ermordung der
Erinnerung der Palästinenser an die Nakba. Und die
Leugnung der Nakba durch Israel und den Friedensprozess.
Wie brutal das in den
Herzen, dem Gedächtnis und den Ohren der Palästinenser
klingen muss, was Ben Gurion am 24. Mai 1948 seinem
Tagebuch anvertraute, muß man wohl nicht mehr erklären:
„Wir werden einen
christlichen Staat im Libanon schaffen, dessen Südgrenze
der Litani sein wird. Wir werden Transjordanien brechen,
Amman bombardieren und seine Armee vernichten, und dann
fällt Syrien. Und wenn Ägypten immer noch weiter kämpft,
dann bombardieren wir Port Said, Alexandria und Kairo.
Das wird die Vergeltung für das, was sie (die Ägypter,
die Aramäer und die Assyrer) unseren Vorfahren in
biblischer Zeit angetan haben.“
Ein verstörendes Buch.
Es wird wahrscheinlich in ganz wenigen Radiosendern und
Zeitungen besprochen werden. Warum? Es könnte, so meinen
es viele in den pädagogischen Journalistik-Gremien,
falsche Reaktionen und Gefühle hervorbringen,
Triumphgeheul der Art: Seht mal, habe ich das nicht
immer schon gewusst, die Juden sind wie wir.
Das erinnert mich an
die Schlüsselkontroverse, die Albert Camus 1948 mit
seinem Weggefährten Jean-Paul Sartre in Frankreich
hatte. Damals wurden die ersten Informationen bekannt
über die schrecklichen Arbeits- und Vernichtungslager
Stalins in Sibirien.
Es ging um die Frage,
ob man solche Nachrichten veröffentlichen sollte oder
nicht. Und ob man sie publizieren dürfte, auch dann,
wenn sie möglicherweise falsche oder kritische Gefühle
produzieren würden. Sartre war gegen die
Veröffentlichung, weil diese Nachrichten nicht etwa –
wie er damals sagte - Trauer produzieren würden darüber,
was Menschen Menschen antun können, sondern das
Triumphgeheul der Bourgeoisie, die sich sagen würde:
Seht mal, haben wir es nicht gewusst?
Albert Camus aber war
wie Ilan Pappe der Meinung: Man muss die Wahrheit immer
an den Tag bringen, auch wenn es das Risiko falscher
oder unangemessener Reaktionen gibt.
Ilan Pappe, Die ethnische Säuberung Palästinas.
Deutsch von Ulrike Bischoff, Zweitausendeins,
Frankfurt 2007, 413 Seiten, € 19.90.
Bestelladresse:
service@zweitausendeins.de
Oder in den Zweitausendeins-Läden in Berlin,
Darmstadt, Düsseldorf, Frankfurt /M., Freiburg, Hamburg,
Hannover, Karlsruhe, Köln, Leipzig, Mannheim, München,
Nürnberg und Stuttgart")
The Ethnic Cleansing of Palestine,
Oneworld, Oxford 2006, Seiten 313.
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