Seit dem Rücktritt der schiitischen Minister, welche
ein Teil der Regierung von Juli 2005 bis
November 2006 bildeten, zeichnete sich der bewaffnete
Konflikt in Beirut ab, den wir derzeit
über die Fernsehbildschirme mitverfolgen können.
Aufgrund des religiösen Proporzes im
Libanon und dem Nicht-Vorhandensein von schiitischen
Regierungsmitgliedern stellte sich
bis dato die Frage, in wie weit die derzeitige
Regierung nach dem Rücktritt der schiitischen
Minister legitim ist. Viele vertreten die Auffassung,
dass diese aufgrund der Tatsache, dass
der größte (religiöse) Teil der Bevölkerung in der
Regierung nicht vertreten ist, in der Form
nicht legal ist.
Seitdem ist die politische Situation des Landes
geprägt von politischer und ökonomischer
Lähmung. In diesem Zeitraum wurden keine Gesetze
beschlossen und es scheiterten 18 (sic!)
Anläufe einen neuen Präsidenten zu wählen (das Amt
ist nach Ablauf der Funktionsperiode
des ehem. Präsidenten Lahoud vakant), weiters
entgehen dem Land jährlich durch diese
politische Krise mehrere Prozent an
Wirtschaftswachstum, was in Anbetracht der tristen
wirtschaftlichen Lage und der sich überschlagenden
Staatsschulden (weit über 100% des
Bruttoinlandsprodukts) mehr als nur bedenklich ist.
Nichtsdestotrotz zeigten die politischen
Führer des Landes kaum ein ernsthaftes Interesse an
der Lösung des Konflikts geschweige
denn einer Kompromissbereitschaft, um eine Einigung
über die Zukunft zu erzielen.
Der hauptsächliche Dissens besteht in der zukünftigen
Gestaltung des religiösen Proporzes
und der politischen Machtteilung zwischen den
religiösen Gruppen in den nächsten Jahren.
Die heutige Machtteilung basiert im Großen und Ganzen
noch immer auf einer Volkszählung
aus dem Jahre 1932 wo vor allem die christlichen,
aber auch die muslimisch-sunnitischen
Schichten gegenüber der heute größten religiösen
Gruppe im Libanon, der muslimischschiitischen
bevorzugt wird. Daher fordert das „March 8th
Movement“ (Opposition) unter
der Schirmherrschaft der schiitischen Fraktionen
Hizbollah unter der Führung von Hassan
Nasralllah und Harakat Amal unter der Führung
des Parlamentspräsidenten Nabih Berri, eine
neue Machtteilung zum Vorteil der schiitischen
Bevölkerungsgruppen. Mit den schiitischen
Fraktionen verbündet ist allen voran die starke
bürgerlich-christliche Fraktion Free Patriotic
Movement rund um den ehemaligen Armeechef Michel
Aoun. Dem steht das so genannte
„March 14th Movement“ (Regierung) gegenüber,
ein Bündnis rund um den Sohn des
ermordeten ehemaligen Premierminister Rafiq
Al-Hariri, Saad Al-Hariri. Dieses Bündnis
besteht neben Hariri’s sunnitischem Future
Movement aus der Progressiven Sozialistischen
Partei rund um Drusenführer Joumblatt, den
rechtsgerichteten christlichen Phalangisten und
Lebanese Forces unter der Führung Samir Geagea’s
sowie einiger anderer Kleinfraktionen.
Der Konflikt – prekäre Lebensverhältnisse und
politische Eliten
Ohne jetzt auf die genauen Forderungen der
politisch-sektiererischen Fraktionen bzw. auf die
derzeitigen Auslöser dieser Welle der Gewalt
einzugehen, schließlich erfahren wir diese mehr
oder weniger genau durch die Medien, scheint es mir
sinnvoller zu sein - nach den oben
angeführten Ursachen - direkt auf die
gesellschaftlichen Umstände und den damit
verbundenen politischen Verstrickungen einzugehen
welche meines Erachtens den derzeitigen
Konflikt prägen.
Der 2005 ermordete ehemalige Premierminister Rafiq
Al-Hariri hatte einen gewissen Ruf als
Brückenbauer zwischen den religiösen Gruppierungen.
Sicherlich gab es innerhalb seiner
Regierungen bzw. durch seine Minister mehr als genug
fragwürdige Entscheidungen bzw.
Bereicherungen (man denke nur an die Staatsanleihen
mit einem Zinssatz von 20% in den
Neunzigern) jedoch wurde er von den politischen
Playern des Landes anerkannt, was unter
anderem an der Herkunft des Milliardärs aus einer
armen Familie sowie seinem sicherlich
sehr stark ausgeprägten politischen Gespür lag. Nach
seinem Tod fehlte solch eine Figur und
es kam auf dieser Seite der politischen Bewegung
keine solche Figur nach, genau im
Gegenteil, es schien dass sich die Probleme der
Regierungen, welche es bisher schon gegeben
hatte, viel mehr zu vertiefen. Bisher waren die
Regierungen unter anderem ein Sprungbrett für
die Bereicherung der sunnitischen und
christlich(-maronitischen) Eliten, nun scheint es dass
dies der Hauptzweck dieses Regierungsbündnisses ist.
Für die sunnitische politische und
ökonomische Elite ist es schlicht und einfach
(derzeit) unvorstellbar die schiitische
Bevölkerungsgruppe – trotz ihrer Größe – als
gleichberechtigten Partner in einem
multikonfessionellen Libanon zu sehen, vielen
Sunniten scheint es eher genehm zu sein, wenn
diese weiterhin die unteren Ränge in der Gesellschaft
bekleiden.
Weiters ist die Bevölkerung des Landes durch prekäre
Lebensverhältnisse gekennzeichnet,
welche sich meines Erachtens durch eine komplett
falsche Politik nicht verbessert bzw. sogar
noch verschärft hat. Die derzeitige
Wirtschaftspolitik der Regierung besteht mehr aus
wirtschaftspolitischen Marktphantasien als aus einer
Politik des Ausgleiches. Man kann
durchaus sagen, dass für die meisten Fälle ein
offener Markt eine durchaus effiziente Lösung
darstellt, noch dazu in einem Land wie dem Libanon,
welches eine lange Tradition des
Handels und Wandels hat. Dessen ungeachtet muss
jedoch festgehalten werden dass es
Bereiche gibt, in denen dies nicht so ist wie
beispielsweise Gesundheit oder Bildung. Diese
beiden Bereiche sind ein Paradebeispiel dafür, wie es
für ärmere und benachteiligte Schichten
– und zu diesen zählen die meisten Menschen im
Libanon – nicht möglich ist, gesellschaftlich
aufzusteigen. Diese Sozialleistungen sind für die
meisten Teile der Bevölkerung unerreichbar
und vor allem eine breite gebildete Schicht, ist das,
was dem Libanon jetzt am meisten fehlt.
Denn solch eine Schicht würde auch eine kritische
Menschenmasse in der Bevölkerung bilden,
welche nicht so einfach auf die sektiererische
Propaganda der Konfliktparteien hineinfällt.
Man braucht sich nur anzusehen wer die Personen sind
– auf beiden Seiten – welche
bewaffnet in diese perverse Schlacht ziehen. Es sind
die Ungebildeten und Hungrigen, welche
nicht gehört werden - ohne Perspektive. Der Faktor
Hunger wurde durch den weltweiten
Anstieg der Lebensmittelpreise und den im Libanon
schon immer viel zu niedrigen Löhnen
verschärft. Es zeigt sich, dass diese ultraliberale
Wirtschaftspolitik und nicht vorhandene
Sozial-, Bildungs-, und Gesellschaftspolitik
kombiniert mit einem sektiererischen und
tradierten Konservatismus den endgültigen Niedergang
des an sich mit unglaublich viel
Potential ausgestatteten Libanon bedeuten kann. Einen
Vorwurf – bevor ich zu den
Oppositionsparteien übergehe – den ich der Regierung
jedenfalls machen muss, ist, dass diese
die essentiellen Probleme der Bevölkerung falsch
wahrnimmt und das Ziel nicht aus einer
Verbesserung der Lebenssituation der Massen besteht.
Derzeit ist die Wirtschafts- und
Gesellschaftspolitik geprägt durch Handlungen welche
darauf abzielen, den Reichtum der
Eliten zu vermehren und durch staatlich garantierte
Monopolpositionen zu stärken. Ein
gesellschaftlicher Friede und Ausgleich wird so
sicherlich nicht geschaffen.
Die derzeitige Situation
So kritisch ich die bisherige Performance der
Regierung betrachte, mehr bin ich jedoch über
das derzeitige Verhalten der schiitischen Milizen
verärgert, mir fallen kaum Worte ein, um
meinen derzeitigen Frust darüber darzustellen. Die
derzeitigen Vorgänge kann man als nichts
anderes, als einen Coup d’Etat betrachten, das Hissen
ihrer Flaggen in Beirut, die von ihnen
erzwungene Schließung der regierungsnahen Medien,
allen voran des Hariri-Senders Future
TV ist jedenfalls abzulehnen. Es wird unter Androhung
von Gewalt versucht, dass die
Regierung auf die Forderungen der Besetzer – und es
ist eine Besatzung - eingeht. Die
Regierung wird obwohl in die Enge getrieben kaum
darauf einsteigen, und ich befürchte dass
die gegnerischen Politiker fast gewaltsam gezwungen
werden auf die Hizbollah-Forderungen
einzusteigen – ein beängstigendes Szenario.
Grundsätzlich muss man sagen, dass unter den
Voraussetzungen des derzeitigen politischen Systems
dem schiitischen Bevölkerungsteil
durchaus mehr Rechte und Machtanteile eingeräumt
gehörten, nur dazu wird es unter den
derzeitigen Umständen wohl kaum kommen. Ich
befürchte, dass in Zukunft die Sunniten
geschwächt werden und die zukünftige politische Elite
von den Schiiten gebildet wird, was an
sich das gleiche Problem ist wie derzeit - nur mit
einer anderen Farbe. Aufgrund der
bisherigen Erfahrung und der libanesischen Politlogik
ist wohl kaum davon auszugehen, dass
sich Hizbollah und Amal mit einer Machtteilung
zufrieden geben werden, speziell in
Anbetracht ihrer militärischen Stärke, mit der es im
Libanon niemand aufnehmen kann.
Sicherlich unterhält die March 14th Bewegung
ebenfalls Milizionäre, im Vergleich zur
Hizbollah sind diese aber lächerlich klein. Jegliche
Politentscheidung wird in Anbetracht
einer stark bewaffneten Hizbollah getroffen werden.
Damit befürchte ich dass die Hizbollah-
Milizen, welche bisher das Hauptstandbein des
libanesischen Widerstands war, sich in eine
Waffe einer Elitendiktatur wandeln wird, trotz der
ständigen äußeren Gefahr, welcher der
Libanon ausgesetzt ist. Ferner muss sich die
Opposition auch bewusst werden, dass sie nicht
die „Speerspitze im Widerstand gegen Neokolonialismus
und Ausbeutung“ sein soll,
geschweige den kann. Es wird von dieser oft eine
Politik propagiert, welche ich realpolitisch
als teilweise lächerlich empfinde und kaum in einen
besseren Libanon münden würde. Dem
bisherigen Artikel kann man entnehmen, dass ich alles
andere als ein Anhänger der
derzeitigen Regierung bin, jedoch in einer Sache gebe
ich dieser Recht: Die Waffen der
Hizbollah welche bisher zur Verteidigung des Landes
eingesetzt wurden, sind in den letzten
Tagen gegen die eigenen Leute im Interesse der
Verfolgung eigener politischer Ziele
eingesetzt worden.
Conclusio
Zum Schluss kann man meines Erachtens nur sagen, dass
der Libanon nur eine Zukunft hat,
wenn mittelfristig dem sektiererischen Gedanken
abgeschworen wird. Das Ganze hat nichts
mit Religion zu tun, weswegen es eine Sektiererei
ist. Es muss eine Achtung von
Menschenrechten, Demokratie und Gewaltlosigkeit
eintreten, gleichzeitig muss sich eine
kritische Bevölkerung entwickeln, welche auch diese
Prinzipien unterstützt und nicht in der
Wahlzelle basierend auf Clan- und Sektengrundsätzen
ihre Stimme abgibt. Dies ist eine
sicherlich schwierige Aufgabe, wenn man sich die
libanesische Gesellschaft anschaut, welche
sich derzeit mit diesen Sektenstrukturen oft
identifiziert. Außerdem muss ein
gesellschaftlicher Ausgleich vor allem in Anbetracht
der furchtbaren Armut im Land
gefunden werden. Das Land besteht einerseits aus der
reichen Elite und den Massen der
Armen. Eines ist jedoch leider klar: Das Ziel eines
gewaltlosen und demokratischen Libanon,
wo die Menschen in einer Gesellschaft der Toleranz
und des gegenseitigen Respekts
unabhängig ihre religiösen Herkunft leben, wird von
beiden politischen Blöcken stark
gefährdet. Für uns besteht damit die Aufgabe –
speziell von außerhalb –dieses traurige Spiel
nicht mitzuspielen und jegliche Aktivität, welche
eine Annäherung an irgendein politisches
Lager im Speziellen bedeutet, abzulehnen.
Fadi Sinno, geboren Juni 1983 in Beirut, wohnhaft in
Graz