Al-Bustan, Silwan
Professor David Shulman -
08.06.2005
Ta’ayush / Hacampus-lo-shotek*
Wir sind im wahrsten Sinne
des Wortes in der Stadt Davids – dem ältesten Teil
Jerusalems – unterhalb des Tempelberges, nicht weit
vom Siloam-Tunnel, der unter König Hiskia (König von
Judäa im 7. und 8. Jhd.) in das Felsgestein
geschlagen wurde. Heute heißt dieser Ort Silwan:
Etwa 50.000 palästinensische Jerusalemiten leben
hier – nahezu alle mit blauen Jerusalemer Ausweisen.
Wenige Tage zuvor heftete die Stadtverwaltung an 88
Häuser dieses Wohnviertels Abrissbescheide; etwa
1.500 schuldlose Personen sind im Begriff, alles zu
verlieren. Der angebliche Grund hierfür liegt in der
Schaffung eines archäologischen Parks im Herzen
dieses arabischen Viertels. Die Wahrheit ist
natürlich eine andere: Es ist die Bildung einer
weiteren jüdischen Insel in Ostjerusalem, eine neue
durch brutalen Zwang durchgesetzte Bereinigung an
diesem dicht bewohnten Abhang. Und es ist vermutlich
erst der Beginn – sobald der Keil hineingetrieben
ist, werden sie ihn aufweiten und ihn mit anderen
Nestern jüdischer Siedler nach Norden, Süden und
Osten verbinden (beispielsweise Jabal Mukabber oder
das hässliche Monstrum Har Homa).
Ziel ist es, die organisch gewachsenen, dauerhaften
Verbindungen zwischen den bestehenden
palästinensischen Gemeinwesen zu „judaisieren“ und
den orientalischen Gegenden der Stadt durch
Bereinigung, Landnahme, Häuserzerstörung,
Staatsterror und massive militärische Kontrolle die
Luft abzuschneiden.
Du musst Dir einmal vorstellen, was es heißt, eines
Morgens im eigenen Haus aufzuwachen – ein Haus, das
Dein Großvater lange Zeit, bevor der Staat Israel
existierte, gebaut hat – und einen offiziellen
Bescheid an der Hauswand zu entdecken. Dein Haus, in
welchem Du Dein Leben verbracht hast, soll bald
zerstört werden; Du und Deine Kinder werden zu
Flüchtlingen. Es muss irreal scheinen; ein Haus ist
so schwerfällig und beständig, ein Gegenstand aus
Mörtel und Steinen und zugleich eine intime
Zuflucht. Nun ist diese Vertrautheit verletzt
worden; Du bist bedroht, verängstigt, ungeschützt.
Eine lange Reihe abgeurteilter Häuser erstrecken
sich entlang des Weges hinauf zum Hügel in Richtung
der Altstadtmauer. In dem Protestzelt, wo wir
hingekommen waren, um die nächsten Schritte
abzusprechen, hängt eine in großem Maßstab angelegte
Luftaufnahme – jedes der 88 Gebäude ist eingekreist
und nummeriert. Abed zeigt auf die Nummer 9, das
Haus seiner Großmutter – Großvater, der es baute,
starb vor 100 Jahren … das Haus reicht also bis ins
19. Jahrhundert, in die Zeit unter den Türken,
zurück. Überall sonst würde es unter Denkmalschutz
stehen aber in Israel-Palästina sind derartige
Überlegungen irrelevant; Israel oder Sharon wollen
dieses Stück Land wie den ganzen Rest.
Kann ein Haus exekutiert werden als wäre es ein
Krimineller? Welches Strafgericht hat diese Häuser
verurteilt und sie für schuldig befunden? Was hätten
sie zu ihrer Verteidigung vorgetragen? Beredte
Anschläge in Arabisch, Hebräisch und Englisch hängen
an den Zeltwänden: „Wohin werden 1.500 Menschen
gehen?“ „Wir bezahlen unsere Steuern an die
Stadtverwaltung und bekommen Abrissbefehle dafür.“
„Warum stoßen sie uns in den Abgrund?“ „Wie können
wir zum Frieden erziehen, wenn sie unsere Häuser
zerstören?“ „Nein zur Landnahme!“ „Wir werden nicht
aufgeben!“. Und auf ergreifende Weise einfach:
„Bitte rettet mich!“ und „Warum ich?“.
Ich schaue über die Hügel hinweg, die schwer mit den
hübschen Jerusalemer Steinbauten beladen sind. Es
gibt nicht viel Platz. Die Häuser klettern vertikal
nach oben; es gibt kaum irgendeinen Abstand zwischen
ihnen. Kinder springen in der engen Gasse außerhalb
des Zeltes. Männer und Frauen gehen hinein und
hinaus, einige von ihnen nehmen die fremde
Delegation einiger Dutzend Israelis neugierig in
Augenschein, die gekommen war, um sich alles mit
eigenen Augen anzusehen und – falls möglich – zu
helfen. Es ist Spätnachmittag, die Sonne ist noch
sehr heiß. Palästinensische Frauen sitzen dicht
zusammengedrängt an einer Seite des Zeltes, viele
von ihnen mit bedecktem Kopf und langen, dunklen
Kleidern. Hinten steht ein Tisch, auf dem Petitionen
und Stadtpläne ausgebreitet sind; Abed, Muhammad und
ein paar ältere Männer stehen dahinter und wollen
uns unbedingt ihre Geschichte erzählen.
Zuerst stellt uns Amiel vor: Wir sind von der
Organisation Ta’ayush, die sich dem verschrieben
hat, was ihr Name bedeutet, nämlich der
arabisch-jüdischen Koexistenz. Amiel erklärt, wie
wir arbeiten, zählt einige unserer Erfolge auf; wir
werden uns gerne diesem Kampf hier anschließen. Eine
junge, modern gekleidete Frau antwortet als Erste.
Sie spricht ein klares, energisches Arabisch, Khulud
übersetzt für die Gäste ins Hebräische. Sie heißt
uns willkommen, ist jedoch skeptisch: „Welche Art
Ta’ayush ist im Schatten dieser Ungerechtigkeit
möglich? Was werden diese Mütter ihren
Kindern sagen, die mit ansehen, wie israelische
Bulldozer ihre Wohnungen zerstören? Erwarten wir,
dass sie mit dem Wunsch auf Frieden heranwachsen?
Alles, was diese Familien fordern, ist
Gerechtigkeit, einen gerechten Frieden; sie wollen
zwei Staaten, Seite an Seite leben und ein Ende des
ewigen Albtraumes. Warum sollte es ihnen wie bisher
untersagt werden, auf ihrem eigenen Land zu bauen?
Warum kommen Juden, um sie ihres Landes und ihrer
Häuser zu berauben? Warum fälschen Sie
Besitzurkunden, und wie kann der Staat hinter Ateret
Cohanim stehen – dem ruchlosesten und
skrupellosesten Siedler, der schon Gebäude in Silwan
übernommen hat? Die Leute des Viertels bezahlen ihre
Steuern, sie gehören zu dieser Stadt, dennoch gibt
die Stadt ihnen nichts, keine Dienstleistungen – und
nun macht sie sich daran, sie in ihren eigenen
Häusern zugrunde zu richten.“ Sehr verärgert und
wortgewandt dankt sie uns schließlich für unseren
Besuch.
Es war für diese Frauen nicht leicht gewesen,
erfahren wir später, unserem Besuch zuzustimmen. Sie
wollten nichts mit den Israelis zu tun haben, nicht
einmal mit denjenigen, die bereit waren, sich mit
ihnen gegen die Regierung und die Armee zu stellen.
Irgendwie konnten die Männer – alle Veteranen mit
langjähriger israelischer Gefangenschaft wegen meist
belanglosen Delikten wie das Steinewerfen auf
Soldaten während der Ersten Intifada in den späten
Achtzigerjahren – sie davon überzeugen, dass wir
hilfreich sein könnten. Nun sind die Männer an der
Reihe zu sprechen. Zuerst Muhammad in kräftigem
Arabisch: „Hier in al-Bustan, in Silwan, werden
palästinensische Häuser routinemäßig zerstört. Die
Stadt wird niemals Baugenehmigungen an Araber
erteilen; die Familien werden größer; in ihrer
Verzweiflung bauen sie ’illegal’. Dann reißt die
Stadt das Haus ab und belegt den Eigentümer mit
einer manchmal enorm hohen Geldstrafe. Eines der
Häuser in dieser Straße ist dreimal zerstört und
wieder aufgebaut worden. Sie lieben ihr Wohnviertel.
Die Leute sagen, dass es ein jannah gibt, einen
Garten Eden in Allahs Himmel, ein Platz mit Wasser
und grünen Bäumen; aber für uns gibt es nur ein
jannah, und das ist Silwan.“
Abed wählt die hebräische Sprache, die er begnadet
beherrscht. Er ist Absolvent der feinsten
Sprachschule in Israel
à neun Jahre Gefangenschaft.
Er hatte reichlich Zeit, sein Können aufzupolieren,
er könnte jedes Wort in den hebräischen Zeitungen
lesen – sogar die Todesanzeigen, und er eignete sich
zusätzlich ein perfektes Englisch und ein passables
Französisch an. In seinen Sätzen steckt Pfeffer:
„In Silwan haben wir zwei Mütter
à Die palästinensische
Nationalbehörde, die uns den Rücken zugewandt hat,
und unsere böse Stiefmutter, die Jerusalemer
Stadtverwaltung, die im Krieg mit uns ist, in einem
Krieg auf kleiner Flamme. Sie lügen uns die ganze
Zeit an; sie behaupten, wir wohnen nicht hier, da
wir aus Hebron hierher kämen; sie sagen, dass sie
den Stadtkern ausdünnen müssten, damit kein Tsunami
Verwüstungen anrichte. Gab es jemals einen Tsunami
in Jerusalem?“
Er sagt, dass sein Herz voll Groll gegenüber der
israelischen Linken sei; es habe niemals Hoffnung
seitens der Rechten gegeben, sie seien wie sie
seien, aber warum sei die Linke – ihr wahrer Partner
– so schweigsam und mitschuldig? Sie hätten
aufgehört, fernzusehen; sie sähen keine Nachrichten
mehr, da die Schmerzen zu groß seien. Gestern sei
der Minister für Fremdenverkehr in seinem eleganten
Volvo nach Silwan gekommen. Umgeben sei er gewesen
von Soldaten mit gezogenen Waffen; er wollte einige
Ruinen inspizieren. Abed kam ihm nahe genug, um ihm
zu sagen: „Statt diese Ruinen sollten Sie
diejenigen aufsuchen, die Sie im Begriff sind, aus
ihren Häusern zu schaffen.“ Er spricht von
Hoffnungslosigkeit, sie hätten keine Zuflucht, das
Unglück läge auf ihnen; sie hätten keine Angst aber
sie könnten den Punkt erreichen, dass sie sich und
ihre Kinder unter die Planierraupen werfen würden,
wenn diese loslegten.
Während er spricht, betrachte ich mir die Gesichter
der palästinensischen Frauen … viele von ihnen sind
alt. Mediterrane Gesichter – wir könnten in einem
Dorf in Griechenland oder Marokko sein – von der
Witterung gegerbt, vom Leben zerfurcht; sie scheinen
mir bestürzt und außerstande zu sein, das
Unermessliche, was geschehen war, zu fassen. Es ist
so, als wären sie in eine Geschichte geraten, die
keinen Sinn ergibt, eine Geschichte ohne Ende oder
Ausweg – ohne Hoffnung. Wenn ich sie mir so in ihrer
Hilflosigkeit ansehe, kann auch ich meinen Kummer
und meine Wut nicht kontrollieren. Ich bin innerlich
zornig, verbittert, von Schmerz geplagt und wünsche
mir nur das Recht, gemeinsam mit diesen Familien
gegen die Bulldozer anzugehen; nein, ich will sie
auch wissen lassen, dass ich sie verstehe.
Wir beraten uns untereinander. Per saldo gibt es
eine gute Chance, dass wir diese Häuser retten
können – wir müssen das öffentliche Bewusstsein in
Israel schaffen – mit Hilfe der Gerichte, und indem
wir das internationale Echo wachrütteln. Wir werden
die Presse herbringen, wir werden einen gemeinsamen
Arbeitstag mit einigen hundert Freiwilligen
vorsehen; zusammen mit den Menschen aus Silwan
werden wir die abgeurteilten Häuser reinigen,
streichen und schmücken. Wir werden sie nächste
Woche auf ihrem Marsch ausgehend von dieser Straße
bis zur Stadtverwaltung in der Innenstadt begleiten.
Falls die Polizei uns mit ihren gewohnten Methoden
stoppen will, Tränengas, Schlagstöcke, Festnahmen,
je mehr desto besser – das gibt Abendnachrichten!
Wir haben dies jetzt schon häufig getan und sind es
überdrüssig, diese Regierung Haus um Haus und Straße
um Straße zu bekämpfen aber wir werden nicht
aufgeben. Vielleicht können wir in diesem Fall
siegen.
Als wir uns danach unterhalten, amüsiert sich Abed,
als er erfährt, dass ich an der Universität lehre.
Er arbeitete dort und sorgte für den Rasen und die
Gärten, bis sie herausfanden, dass er im Gefängnis
gewesen ist; sie entließen ihn sofort, und nun kann
er nicht einmal einen Besuch machen – er darf das
Universitätsgelände nicht betreten. „Grüß mir die
Blumen!“ Er schildert, dass er kürzlich
vorgeladen wurde, um Ophir, einen Agenten der
Inneren Sicherheit (mukhabbarat), der mit Silwan
betraut ist, aufzusuchen. Eines Tages klingelte sein
Handy, und Ophir war am anderen Ende; wie hatte er
seine Nummer bekommen? Aber dann behauptete Ophir,
dass er alles wisse, was in dem Viertel geschehe. Er
warnte Abed, dass er ihn den ganzen Tag über im Auge
behielte und sogar wisse, wann er mit seiner Frau
schlafe. Noch ist Arbed offensichtlich nicht
eingeschüchtert, es gibt ein gewisses
Selbstbewusstsein, eine Sorglosigkeit, und er ist
scharf darauf, mit uns zu arbeiten.
Unter den 1.500 alsbald Enteigneten sind die meisten
Kinder. Muhammad möchte einen Kindertag haben; lasst
sie streichen und malen, was sie empfinden, und
lasst das Fernsehen ihre Bilder in die Welt senden.
Wer könnte sich trauen, diesen Kindern weh zu tun?
Er kann nicht glauben, dass die Regierung dies
vorhat. Er kann die schreckliche Ungerechtigkeit,
die Sünde (Übers.: Hier steht der Koran-Terminus
„zulm“ = Sünde), nicht akzeptieren, dennoch gibt
er ihr ihren wahren Namen.
Er fragt mich nach meinem Namen, und ich antworte
ihm: „David, Da’ud“. Sein Gesicht verzieht
sich zu einem breiten Lächeln: „Da’ud, König
David, er war von hier – er war ein Silwani.“
Und einen kurzen Moment lang fällt dieser ganze irre
Mehltau aus Identitäten und Klagen, Planierraupen,
Häusern, Juden, Palästinensern, ihren Flaggen, ihren
Briefmarken, den Gewehren, der Boshaftigkeit der
Macht von dieser einfachen, unbestrittenen Tatsache
ab: Wer auch immer es war, falls er jemals
existierte, König David war ein Silwani!
Vielleicht ist das alles, was zählt.
Er wäre sicherlich erstaunt und auch entsetzt, mit
anzusehen, was ein Teil seiner Kinder dem anderen im
Namen der alles verzehrenden Sinnlosigkeit des
Nationalstaates antut. Dieser David war, so meinen
sie, ein Dichter. Muhammad – immer noch lächelnd –
beobachtet mich, als ich darüber nachsinne.
Aber es gibt noch mehr: Ayyub, der Prophet Hiob, war
auch hier. Sein Brunnen, Bir Ayyub, ist genau um die
Ecke. Also war Hiob, dessen Pein das erträgliche Maß
überschritt, auch ein Silwani. Kein Wunder! Es
scheint zum Gelände zu passen, zum grauen Staub, der
untergehenden Sommersonne, dem dunklen Zelt, den
runzligen Gesichtern der Frauen. Aber Hiob hatte
schlecht und recht Glück. Nach dem Erdulden, nach
dem Verzicht darauf, einen rätselhaften Gott zu
verfluchen, empfing er eine neue Anzahl Kinder,
Viehherden, Wohlstand; darüber hinaus sprach Gott zu
ihm in dem großartigen Kapitel 38. (Hiob war
ebenfalls einst ein Poet.)
Die heutigen Silwanis stehen einem andersartigen
Rätsel gegenüber, vielleicht nicht weniger schwer zu
lösen, obwohl ihr Leiden eine Ursache und eine
logische Erklärung hat – jene der bewussten,
planmäßigen, unbarmherzigen, menschlichen Arglist,
Grausamkeit und Habgier. Das kommt nicht von
irgendeinem Gott, obwohl der Schrei des Unschuldigen
derselbe ist: „Warum ICH?“
* Studenten und Fakultät
gegen die Besatzung
Der Autor ist ein renommierter israelischer
Professor der Geisteswissenschaften sowie Aktivist
der Anti-Besetzungsorganisationen Ta’ayush und
Hacampus-lo-shotek
10.06.2005, Übers. v. Gabriele Al Dahouk |