Die Akte
im Mordfall Abir Aramin wurde geschlossen
Nurit Peled Elhanan, August 2007
Wenn einem klar wird, dass die Zahl derjenigen, die sich
dem Dienst in der Besatzungsarmee entziehen, so niedrig
ist, dass es tatsächlich keine Auswirkung auf die
Motivation israelischer Kinder hat, die Uniform der
Brutalität anzuziehen, so ist das nur noch traurig.
Prof. Stewart Cohen der Bar Ilan Universität tröstet
uns mit der Erklärung, dass die „Schuld“ daran an der
Zunahme von Haredis liegt, die den Militärdienst
verweigern. Er sagte uns auch, dass die Armee der USA
während des Vietnamkrieges mit einem so niedrigen
Prozentsatz von Verweigerern glücklich gewesen wäre.
Vielleicht sollten wir etwas von den Amerikanern der
60er Jahre und sogar von den Haredi-Juden lernen, die
sich um die Sicherheit ihrer Kinder ängstigen.
Als das Ausmaß der Verweigerung bekannt wurde, wurde ich
in das TV- Programm von Oded Shahar „Politika“ als
Mutter eingeladen, die ihrem ( jetzt 15 jährigen) Sohn
nicht erlaubt, Militärdienst zu machen. Außerdem wurde
ich über den Verlauf einer langwierigen
Überzeugungskampagne informiert, zu der nur Männer
eingeladen wurden – die meisten von ihnen
kriegstreibende Generäle wie Effi Eitam und Yossi Peled.
Nachdem ich überzeugt worden war, dass meine Teilnahme
an dem Programm wichtig und entscheidend sei, stimmte
ich zu. Die Frau, die diese Sendung mit vorbereitete,
fragte mich, warum ich meinem Sohn nicht erlauben würde,
sich bei der Armee zu melden. Ich erklärte ihr, dass
eine Armee, die jetzt seit 40 Jahren systematisch und
zunehmend eine zivile Bevölkerung schikaniert
(Schikane, die selbst ein so couragierter Journalist
wie Gideon Levy nur mit dem seltsam abmildernden
Ausdruck „Kontrolle“ bezeichnet), eine Armee die ihren
Soldaten beibringt, dass das Töten von palästinensischen
Kindern und das Töten derer, die sie schützen wie Rachel
Corrie und James Miller kein Verbrechen sei, eine Armee,
deren Kommandeure gegenüber Bestrafung immun sind,
obwohl sie täglich Verbrechen gegen die Menschlichkeit
begehen, ist nicht der passende Ort für meinen Sohn, der
in dem Sinne erzogen wurde, die Menschen zu lieben, der
palästinensische Freunde hat, dessen Brüder und Eltern
palästinensische Freunde haben, die genau dieser
Schreckensherrschaft und täglichen Quälereien ausgesetzt
sind. Nach einer halben Stunde wurde mir erklärt, dass
trotz meines wichtigen Beitrages es nicht genügend
Plätze auf dem Podium gäbe.
Ein paar Tage später wurde bei einer isolierten
Nachrichtensendung mitgeteilt, dass die Gerichtsakte
über den Mord an Abir Aramin, der Tochter von Salwa und
Bassam Aramin, geschlossen wurde. Bassam ist einer der
Gründer der palästinensisch-israelischen Bewegung
„Kämpfer für den Frieden“, bei der meine Söhne Elik und
Guy Mitglieder sind. Bassam Aramin verbrachte 9 Jahre in
einem israelischen Gefängnis, weil er ein Mitglied der
Fatah im Raum Hebron war und versucht hatte, eine
Granate auf ein israelisches Armeejeep zu werfen, das im
besetzten Hebron patrouillierte. An einem
Dienstagnachmittag am 16. Januar 2007 schoss ein
israelischer Soldat seine neunjährige Tochter Abir in
den Kopf, als sie gerade die Schule verlassen hatte, um
nach Hause zu gehen. Der Soldat wird nicht eine Stunde
im Gefängnis verbringen. In Israel kommen Soldaten nicht
ins Gefängnis, wenn sie Araber töten. Niemals. Es ist
völlig egal, ob der Araber jung oder alt ist, ein
wirklicher oder ein möglicher Terrorist, ob es
friedliche Demonstranten oder Steinewerfer sind. Die
Armee hat nach Abirs Tod keine Untersuchung
durchgeführt. Weder die Polizei noch das Gericht haben
irgend jemanden außer Abirs Schwester, die ihre Hand
hielt, als sie umfiel, gefragt. Die jüngere Schwester
wurde immer wieder gefragt, wie viele Meter sie vom
Schuleingang, vom Kiosk, vom Jeep entfernt gewesen
wären. Wie viele Meter? Erinnerst du dich nicht mehr ???
Es gab kaum eine Ermittlung außer einer sehr privaten
durch Bassam und seine Freunde, die genau wissen, wer
der Mörder ist. Aber nach den IDF hat das Schießen
überhaupt nicht stattgefunden. Der offizielle Bericht
der Armee über den Tod ist, dass sie von einem Stein
getroffen sein könnte, der von Klassenkameraden „auf das
Militär“ geworfen wurde. Dies ungeachtet der
Untersuchungsergebnisse des ranghohen Pathologen, der
seit vielen Jahren im Institut für forensische Medizin
arbeitet.
Eine der Behauptungen gegen die Verweigerer ist, dass
sie aufgehört haben, an die „Werte“ wie „Opfer“ zu
glauben. Wessen Opfer genau? Auf welchem Altar? Von
welchem Gott? Die Soldaten Israels werden aufgerufen
Kinder, Eltern, Freiwillige und manchmal sich selbst auf
dem Altar des Größenwahnsinns einer unverschämten und
korrupten Führung des Staates zu opfern, einer Führung,
der es gelang, dieses ganze Land in einen großen Altar
zu verwandeln, auf dem sie die Kinder anderer Leute dem
Gott des Todes opfern. Kinder, Ungeborene und
Neugeborene werden täglich kaltblütig in das Reich der
toten Kinder befördert, das ständig unter unseren Füßen
wächst. Und keiner ist an ihrem Tod schuldig; keiner
wird für den Mord an einem palästinensischen Kind
bestraft. Der Staat sorgt sich zuweilen für die, die ihm
dienen. Manchmal opfert er auch diese mit derselben
Kaltblütigkeit und aus denselben Gründen.
Und die Mörder? Was ist mit ihnen? Wissen sie, dass sie
Verbrechen begehen? Wälzen sie sich nachts im Schlaf
unruhig hin und her? Werden sie von Bildern der kleinen
Körper gequält, die sich vor Schmerzen krümmen und unter
ihren Gewehren, Bomben und Granaten fallen.
Wahrscheinlich nicht. Wir kennen keinen einzigen Fall,
bei dem sich ein Soldat der Polizei gestellt und sein
Bedauern über sein Tun geäußert hat. Das ist der größte
Erfolg der israelischen Erziehung : die Unterscheidung
von Blut und Blut, zwischen einem toten Kind und einem
toten Kind und dem Einprägen der Überzeugung, dass der
Mord an Palästinensern und ihren Freunden kein
Verbrechen sei.
Jeder, der sich in die Armee einziehen lässt, weiß das
und ist darauf vorbereitet. Die halbe Nation. Wie viele
Millionen gibt es in der halben Nation? Wie viele
Millionen junger Männer und Frauen, die einfach
unberührt sind vom Weinen eines Kindes, der Agonie einer
Frau in Wehen, von den Bitten eines alten Mannes und
vom Tod Tausender unschuldiger Menschen? Wie viele
Millionen lernten nie, Befehle zu verweigern, die
eindeutig unmenschlich , doch nach den rassistischen
Gesetzen ihres Staates legal sind, und wie viele
lernten nie ihren korrupten Führern und blutdurstigen
Generälen gegenüber nein zu sagen?
Das habt ihr gut gemacht, ihr Israelischen
Verteidigungskräfte! Das habt ihr, die israelisch-
jüdischen Pädagogen gut gemacht: es ist euch fast
perfekt gelungen, die Werte des Rassismus fast ohne
Opposition der Jugend zu vermitteln!
Und wenn mein Sohn Yigal wirklich wünscht, am
militärischen Programm teilzunehmen, an dem
Gymnasiasten ab der 10 Klasse teilnehmen müssen oder –
Gott verbiete – sich zum Dienst in der Besatzungsarmee
zu melden, werde ich es als schrecklichen
Erziehungsfehler betrachten, als schrecklichen Fehler
von mir als Mutter. Und wenn ich nicht alles tue, was
ich tun kann, um ihn daran zu hindern, mit 18 ein
Mörder oder eine Leiche zu werden, wird mir klar sein,
dass ich ihn betrogen und meinen Ruf als Mutter verfehlt
habe.
(dt. Ellen Rohlfs) |