Nennt es nicht Mauer!
von Ran Ha Cohen
Vor einem Jahr forderte
ich die Leser auf, Präsident Bush’s „Wegeplan zum Frieden“ ,der
mit viel Aufmerksamkeit nur Zeit verschwendete, zu vergessen. Er
ist längst überholt. Man konzentriere sich auf die wirkliche
Karte Palästinas, die sich durch den Bau von Israels
Apartheidmauer, die praktisch von den internationalen Medien
ignoriert wurde, radikal verändert hat. Ein Jahr ist vergangen,
und das Schweigen wurde dank einiger Journalisten mit Gewissen
gebrochen, dank auch palästinensischer Bemühungen, die Mauer vor
den Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu bringen, der bald
über seine Legalität entscheiden wird, und - last but not least
- dank auch Tausenden von Palästinensern, Israelis und
internationalen Aktivisten von Ta’ayush, Gush Shalom und vielen
anderen Gruppen, deren tägliche gewaltfreie Demonstrationen mit
unbarmherziger Brutalität der israelischen Armee aus einander
getrieben wurden. Die Mauer ist nun auf der Tagesordnung - und
das ist richtig so. Aber ist sie überhaupt eine Mauer?
Umstrittene Bezeichnungen
Die Bezeichnung ist von
Anfang an umstritten gewesen: „Die Apartheidmauer“ ist der
palästinensische Name für das, was Israel offiziell
„Trennungszaun“ oder „Sicherheitszaun“ nennt. Ich möchte lieber
den palästinensischen Ausdruck nehmen: denn „Zaun“ klingt für
eine 8 Meter hohe Betonmauer mit einem 100m breiten
Sicherheitsstreifen wie ein absurder Euphemismus – um nur damit
zu beginnen. Gegenwärtig schließt das Überwachungsarsenal ( der
Mauer) nicht nur Patrouillen und Kameras mit ein, sondern auch
Maschinengewehre mit Fernbedienung. Sie wurden, wie israelische
Medien stolz berichten, entwickelt, damit auch sanfte
Soldatinnen hinter einem Monitor in einem meilenweit entfernten,
klimatisierten Büro in der Lage sind, auf „verdächtige
Bewegungen“ (d.h. menschliche Wesen) zu schießen. Für die
Industrie des Tötens ist der Himmel die Grenze.
Tatsächlich sind beide
Bezeichnungen – Zaun und Mauer – in die Irre führend. Obwohl die
meisten Leute inzwischen wissen, dass die Mauer nicht auf der
Grünen Linie (Grenze von vor 1967) gebaut wird, sondern tief
innerhalb des palästinensischen Gebietes, und Israel also
tatsächlich einen großen Teil (ein Drittel ?) annektiert,
suggerieren beide Termini Zaun und Mauer so etwas wie eine nahe
Linie mit Palästinensern auf der einen und Israelis auf der
anderen Seite. „Wir hier – sie dort“, wie Baraks Wahlspruch
lautete. Aber ist es das, was hier vor sich geht? Nicht ganz.
Die Wirklichkeit ist weit erschreckender.
Was die Mauer wirklich ist
(Die Karte ist von Amira
Hass’ Artikel vom 25.Juni 2004. Sie zeigt einen kleinen
Ausschnitt der Mauer im sog. christlichen Dreieck im Süden von
Jerusalem)
Die rote Linie ist die
Mauer – in Teilen schon fertig gebaut., in anderen Teilen im
Bau, in wieder anderen Teilen, wo sie noch gebaut werden wird.
Nahalin, Husan, Batir, Walaje. (alle im Raum Bethlehem ) Auf
welcher Seite der Mauer sind sie? Offensichtlich eine falsche
Frage. Sie werden tatsächlich von der Mauer umgeben, sie sind
wie in einer Falle gefangen. Batir und Husan zusammen, Nahalin
und Walaje jedes für sich. Man betrachte die Größe : geht man
von einer Seite der Enklave zur anderen, von Mauer zu Mauer, so
ist das ein Gang von 20 Minuten. Kein Einwohner dieser Dörfer
ist jemals mehr als einen Kilometer von der Mauer entfernt.
Nicht nur landwirtschaftlich genutztes Land, sondern auch
Schulen, Krankenhäuser, Kliniken, Märkte, Läden, Arbeitsstellen,
von Erholungsorten ganz zu schweigen – alles ist außerhalb. Um
hinauszukommen, muss man durch ein Tor, durch einen israelischen
Kontrollpunkt. Das Tor ist wahrscheinlich geschlossen – weil es
nur ein paar Stunden täglich geöffnet ist, oder weil jemand eine
Alarmstufe ausgerufen hat, oder weil es ein jüdischer Feiertag
ist, oder weil der Soldat vom Dienst nicht rechtzeitig kommt.
Und wenn das Tor zufällig offen ist, wird dich der Soldat,
(falls du die notwendigen Passierscheine hast) durch lassen oder
auch nicht ( aus welchem Grund auch immer oder aus keinem Grund)
oder fragt dich um etwas als Gegenleistung: ein kleines
Geschenk, oder einen Fluch gegen Mohammad, Jesus oder Arafat
oder eine Verneigung gegenüber deinem Nachbar oder Bruder. Wenn
dein Arbeitsplatz, deine Gesundheit oder die Gesundheit deines
Kindes davon abhängt, hinauszukommen, dann wirst du alles tun..
Dasselbe gilt natürlich auch fürs Hineinkommen – als Gast,
LKW-Fahrer, Elektriker oder Arzt. Da gibt es Dutzende, ja Mengen
von Dörfer, die wie diese überall in der Westbank von Mauern
umgeben sind. Danny Rubinstein berichtet von 200 000
Palästinenser, die nördlich von Jerusalem leben. Viele von ihnen
haben eine Jerusalemer Identitätskarte, und alle sind total von
der Stadt abhängig, was die Schulen, Krankenhäuser und
Arbeitsplätze betreffen. Alle müssen durch den einen einzigen ,
schmutzigen, überfüllten Checkpoint von Kalandia gehen: „Die
Bewohner dieser Stadtteile sind auch schon davon informiert
worden, dass weitere interne Zäune gebaut werden, die die
Siedlungen mit Passagen versehen werden. Diese Zäune werden in
einer 2. Phase des Mauerbauprojektes fünf große Inseln schaffen,
in denen die palästinensische Bevölkerung in Quasi-Ghettos
zusammengepfercht wird.“ Haaretz, 27.Juni 2004
Manchmal werden Häuser
individuell eingezäunt: IsraelsTV Kanal 2 ( 25.6. 2004)
berichtete kürzlich von zwei Häusern am Rande eines
palästinensischen Dorfes, die von einer gewachsenen jüdischen
Siedlung umgeben sind. Die beiden Familien wurden deshalb mit
„Ihrem eigenen“ Zaun umgeben, der sie von drei Seiten von der
jüdischen Siedlung trennt und auf der vierten Seite vom Rest
ihres eigenen ( umzäunten) Dorfes.
Also dies ist keine
Ausnahme: es ist die Regel. Alle Palästinenser sollen so
eingezäunt/ ummauert enden. Die glücklicheren von ihnen werden
sich eines irgendwie größeren Käfigs erfreuen. Der Verlauf der
Mauer folgt dem Standard der israelischen Daumenregel: ein
Minimum an Land für die Palästinenser, ein Maximum für die
Juden. Die Mauern werden nur Meter entfernt vom letzten Haus des
Dorfes gebaut; aber in vielen Fällen werden auch Häuser
zerstört, um Platz zu machen. Sogar kultivierte Felder und
Wasserquellen werden meist außerhalb der Mauer gelassen, so dass
sie für die Besitzer nicht mehr zugänglich sind. Auf der
Landkarte kann man tatsächlich sehen, wie all die offenen
Landstriche für die israelischen Siedlungen von Gilo, Har Gilo
oder Betar Illit bestimmt sind, wobei für die arabischen Dörfer
und Städte kein Quadratmeter mehr übrig bleibt.
„Mauer“ eine falsche
Bezeichnung
Nun ist das weder eine
Mauer noch ein Zaun. So wie du ein Buch nicht nur „ein Papier“
nennt oder Brot „Mehl“, so kann man dies nicht Mauer nennen. Was
Israel in der Westbank baut, besteht aus Mauern und Zäunen, aber
es ist weder eine Mauer noch ein Zaun. Es ist etwas völlig
anderes. Ich bin mir mit dem eigentlichen Namen nicht sicher:
Ghettos? Außergerichtliche Verhaftungslager?
Open-air-Gefängnisse ? Ein Netzwerk von Käfigen für Menschen?
Ich bin mir nicht sicher, ob es dafür überhaupt einen Namen
gibt. Ich bin mir auch nicht sicher, ob es in der menschlichen
Geschichte dafür Vorläufer gibt. Die Mauer/ der Zaun hat auch
nichts mit der im Vergleich kleinen Berliner Mauer zu tun. Es
hat ganz klar auch sehr wenig mit den Apartheid-Bantustans zu
tun, die Zehntausende von Quadratkilometern groß waren. Die
Westbankkäfige umfassen oft nur ein paar Hektar, was natürlich
einen großen Unterschied darstellt.
Vor Jahrzehnten war es ein
gewöhnliches israelisches Argument, dass die Westbank und der
Gazastreifen für einen lebensfähigen palästinensischen Staat zu
klein sind. Sei es, wie es ist, keiner wird behaupten, dass ein
2x2 km bebauter Käfig ohne öffentliche Einrichtungen, ohne
Landreserven für Hausbau, keine Felder und mit einem Tor, das
von einer feindlichen Macht bewacht wird, ein lebensfähiger Ort
ist, in dem man leben kann. Die israelischen Behörden wissen das
sehr genau: trotzdem ist ihre eigene Leidenschaft/ Gier nach
Land unersättlich. Ihre Absicht ist klar: früher oder später
wird die hoffnungslos eingesperrte Bevölkerung einfach gehen, um
dem Hungertod zu entgehen. Das ist ethnische Säuberung, indem
man das Leben unmöglich macht, so dass die Palästinenser
gezwungen werden, wegzugehen. Je näher man an die Grüne Linie
kommt und zu größeren Siedlungen, um so kleiner werden die
Käfige. Das sind die Gebiete, die Israel am meisten zu haben
wünscht, also werden dort die Lebensbedingungen so gestaltet,
dass sie die einheimischen Palästinenser so bald wie möglich
vertreiben.
Diejenigen, die an einem
fairen Frieden im Nahen Osten interessiert sind, sollten deshalb
einen passenden Terminus für das Käfignetzwerk finden, das in
diesen Tagen in der Westbank gebaut wird, einen Terminus, der
seine wahre Natur reflektiert. Sie sollten eine größere Kampagne
starten, die seine Bedeutung klar stellt. Es ist nicht Trennung,
sondern eine systematische, absichtliche Zerstörung der
grundsätzlichen Bedingungen für menschliches Leben, die
unvermeidlich zum Hungertod oder zu ethnischer Säuberung führt.
*Ran HaCohen wurde 1964 in den
Niederlanden geboren und wuchs in Israel auf. Er ist Dozent an
einer Universität in Israel. „Brief aus Israel“ erscheint
gelegentlich bei