Dr. Zekri Ergas - Offener Brief an
Benyamin Netanyahu, Ministerpräsident von Israel
Lieber Herr Netanyahu,
Ich schreibe an Sie als Jude, der sich Sorgen um Israel macht. Ich
habe drei Jahre in Israel gelebt und zwar zwischen 1978 un1981. Ich
würde diesen offenen Brief nicht schreiben, wenn ich mich nicht dazu
gezwungen fühlen würde. Mein Gefühl, das mich bei wichtigen
Entscheidungen in der Vergangenheit nicht getäuscht hat, sagt mir,
dass Sie auf einem sehr falschen und gefährlichen Weg sind, nicht
nur für Israel, sondern für Juden allgemein weltweit.
Zunächst mal möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf einen wesentlichen
Unterschied zwischen der Erscheinung und der Realität lenken. Als
Mrs. Clinton bei ihrem letzten Aufenthalt in Israel die Forderung
der USA-Regierung fallen ließ, den Siedlungsbau einzufrieren und mit
Verhandlungen ohne Bedingungen zu beginnen, schien es so, als
hätten Sie einen Sieg errungen, weil sich in der Vergangenheit und
bis jetzt die Verhandlungen immer wieder herausgezogen haben und zu
nichts geführt haben. So mag es erscheinen, dass Israel und seine
uneingeschränkten Unterstützer rund um die Welt – zum größten Teil
die reichen und einflussreichen Juden und die evangelikalen Christen
in den USA – schließlich den Traum eines Großisrael erreichen
können.
Das ist aus verschiedenen Gründen nicht möglich.
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Trotz sein
Zurückrudern aus internen politischen Gründen wird die
Obama-Regierung die zwei-Staatenlösung nicht aufgeben. Und sie
wird darauf bestehen, zu Endstatus-Verhandlungen zu kommen. Die
USA, zusammen mit seinen Partnern der Road Map, der UN, Russland
und die EU – wird nach einer angemessenen Zeitspanne,
vielleicht nach zwei Jahren, die Zwei-Staaten-Lösung
durchzusetzen versuchen. Und der große Teil der besetzten
Gebiete und die Siedlungen, die sich darauf befinden, müssen
zurückgegeben werden.
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Noch wichtiger:
es gibt ein neues Element auf der Weltbühne: das bedeutet, dass
der stärkste Spieler in diesem Konflikt in der Zukunft nicht
mehr die amerikanische Regierung und seine Partner der Road Map
sind – auch wenn sie weiterhin wichtige Spieler sind. Die
stärksten Spieler in der Zukunft werden die zivilen
Gesellschaften der Welt sein (besonders die im Westen), die aus
Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs), Gruppen und
Gesellschaften auf vielen verschiedenen Gebieten sind : Kultur,
Sport, Bildung, Arbeiter-Unionen, Religion usw. Im Augenblick
sind sie schon eine treibende Kraft des Wandels – und die Welt
verändert sich, weil sie sich verändern muss. Die bessere und
erneuerbare Welt, die aufgebaut werden wird, wird durch neue
Werte der Solidarität, der Gleichheit, Gerechtigkeit, der
Mäßigung und qualitativen Entwicklung definiert im Gegensatz zu
Egoismus, Ungleichheit, Verschwendung, der Macht-Treiberei und
unbegrenzte wirtschaftliche Entwicklung. Die zivilen
Gesellschaften der Welt werden in Zukunft stärker werden. Ihre
Relevanz und Bedeutung in den Angelegenheiten der Welt wachsen
sprunghaft an und sie werden – so glaube ich - das entscheidende
Element werden.
In solch einer Welt wird es keinen
Platz für einen Apartheidstaat geben, der seinen Willen einem andern
Volk auferlegt und dieses unter dem Vorwand unterdrückt, einen Traum
zu erfüllen, der in eine andere Zeit und in ein anderes Zeitalter
gehört.
Die zivilen Gesellschaften der Welt (
besonders im Westen) haben schon eine Boykott-, Divestment- und
Sanktionen- (BDS)-Kampagne gegen Israel eröffnet. Diese Kampagne
gewinnt weiter an Schwung und wird auf Dauer nicht zu besiegen
sein.
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Vor kurzem von
israelischen u.a. Autoren veröffentlichte Forschungen haben
ergeben, dass es enge ethnische und historische Verbindungen
zwischen dem arabisch-palästinensischen und jüdisch-israelischen
Volk gibt. Die arabische Halbinsel z.B. scheint vor dem Islam,
zum größten Teil von Juden bewohnt gewesen zu sein. Viele dieser
Juden konvertierten zum Islam. Viele Palästinenser waren
jüdisch, bevor sie zum Judentum konvertierten. Diese bedeutenden
ethnischen und historischen Verbindungen, - einmal anerkannt –
könnten als Mittel oder als Brücke dienen, um in der Region eine
neue Ära der Demokratie, des Wohlstand und des Frieden zu
eröffnen, die sich hoffentlich über die ganze Region und
darüber hinaus ausbreitet.
Zusätzlich würde diese neue Einstellung
in Übereinstimmung mit der wahren Berufung des jüdischen und
israelischen Volkes zu tun haben: „ein Licht der Völker“ zu sein
und – wie Don Quixote, mein Held - ein Symbol der Freiheit und
Gerechtigkeit in der Welt.
Herr Ministerpräsident, Ihre Regierung
sät stattdessen Trennung, Hass und Unzufriedenheit in aller Welt,
wodurch das Untier von Antisemitismus sein hässliches Haupt wieder
erheben lässt. Wenn diese Politik weitergeht, werden sie in die
Geschichte sicher als der moderne Führer Israels eingehen, der
unnötiges Leid in Israel und unter dem jüdischen Volk in aller Welt
verursacht hat. Sie könnten sogar von zukünftigen Generationen von
Israelis und Juden verflucht werden. Die Geschichte kann hart sein
gegenüber starrköpfigen Führern , die auf negativer und
kontraproduktiver Politik beharren.
Um abzuschließen, Herr
Ministerpräsident, was Sie machen müssen, ist kristallklar. Sie
müssen die augenblickliche Regierung auflösen, eine neue nationale
Einheitsregierung mit Kadima und anderen progressiven Kräften
bilden. Diese neue nationale Einheitsregierung muss sofort echte
und ernsthafte Verhandlungen mit den Palästinensern beginnen, die
allen Grund haben, positiv zu reagieren. Das Ziel ist, einen guten
Frieden zu schließen und die Zukunft gemeinsam aufbauen. Eine
Zukunft, die beiden Völkern Wohlstand und Glück bringt.
Eine der Prioritäten dieser neuen
nationalen Einheitsregierung wird die Verbannung der religiösen
Parteien aus dem politischen Leben sein, Herr Ministerpräsident. Wie
sie genau wissen, gibt es in einer wahren säkularen Demokratie
keinen Platz für religiöse Parteien. Religion und Politik müssen
getrennt bleiben.
Ein letzter Punkt, Herr
Ministerpräsident: dank jahrzehntelanger unverantwortlicher
Propaganda unterstützt die israelisch jüdische Öffentlichkeit zum
großen Teil ihre törichte Regierungspolitik. Dies spiegelt sich
auch im Versagen der israelischen intellektuellen und kulturellen
Elite wider, die trotz ihres zweifellos guten Willens nicht in der
Lage war, die konstruktive Rolle zu spielen, die von ihr erwartet
wurde, nämlich die israelische Öffentlichkeit zu erziehen, damit sie
weiß, was richtig und was falsch ist. Sie muss deshalb sofort und
zusammen mit der neuen nationalen Einheitsregierung sich selbst der
edlen und wesentlichen Aufgabe widmen, die israelische
Öffentlichkeit zu erziehen.
Ich hoffe, Herr Ministerpräsident, dass
sie irgendwie, wenn auch verspätet, von der Gnade der Vorsehung
berührt werden, um das Licht zu sehen und in ihrem Herz den großen
Mut zu finden, den sie benötigen, um das Richtige zu tun
Mit herzlichen Wünschen
Dr. Zekri Ergas.
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