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Warum ich an diesem
Jüdischen Neujahr auf der Flotilla nach Gaza sein werde
Orly Noy - 25. 9. 2016
In den Tagen vor Rosh
Hashana (Neujahr), den Tagen der Selbstprüfung und des Vergebens,
erinnerte ich mich daran, dass ich auf Grund meiner Identität
als israelische Staatsbürgerin für die Katastrophe und die
Tragödie, die die Bevölkerung von Gaza getroffen hat,
verantwortlich bin. Selbstprüfung beginnt damit, dass man die
Augen aufmacht und seine Sünden erkennt, erst dann kann man
versuchen sie wieder gut zu machen. Es gibt nichts, das
jüdischer wäre, als das.
Wenn alles nach Plan
geht, werde ich am Montag, den 26. September auf dem
Frauen-Schiff nach Gaza segeln. ..werde ich auf dieser Flotilla
sein.
Natürlich gingen der
Entscheidung mich der Flotilla anzuschließen, verschiedene
Überlegungen voraus. Aber vor allem das Bild eines Mädchens, von
Muna, das ich vor drei Jahren in einem Film der Regisseurin Fida
Qishta aus Gaza sah, der die Geschichte Gazas nach der
Militäroperation Gegossenes Blei 2008/09 erzählte.
Qishtas Film
dokumentiert die Zerstörung ihrer Stadt während des Krieges. Sie
ist keine Journalistin von CNN und hat kein Interesse die
Schrecken dieses Krieges zu verbergen: die Bombardierungen, den
weißen Phosphor, die Kinderleichen, noch mehr Bombardierungen,
die grausamen und willkürlichen Angriffe auf Fischer, das
Schiessen auf Bauern, die nicht auf ihrem Land arbeiten können,
weil es zu nahe an der No-go-Zone liegt, ein Vater, der –
erschütternd - mitten in den Trümmern nach seinem Sohn ruft, und
ein 10jähriges Mädchen, Muna, die Qishta fast den ganzen Film
hindurch begleitet und auf die Orte zeigt, an denen Menschen
getötet wurden, die sie kannte.
Sie ist unglaublich
aufgeweckt, spricht sehr gut und immer ganz zur Sache. Von Zeit
zu Zeit besteht sie darauf, Qishta zu dem Haus zu bringen, in
dem die israelische Armee ihre Lieben zusammengebracht hat ,
bevor sie es bombardierte. Muna hat 21 Mitglieder ihrer Familie
verloren, einschließlich ihrer Eltern und mehrerer Brüder. Sie
erinnert sich an alle zerfetzten Gliedmaße, die sie in dieser
Nacht gesehen hat, in der sie neben ihren sterbenden Eltern und
ihrem Bruder die Soldaten umsonst gebeten hat, sie hinaus zu
lassen.
In ihrem Zimmer im
Haus ihres Bruders spricht sie über ihre Träume und zeigt Qishta
ihre Zeichnungen. "Manchmal sehe ich meine Mutter im Traum,
Jetzt kann ich sie nur im Traum sehen, aber auch im Traum weiss
ich, dass sie tatsächlich gestorben ist und nicht mehr
zurückkommen wird." In der Nachbarschaft oder was davon übrig
geblieben ist, ist Muna nur bereit mit anderen verwaisten
Kindern zu spielen, weil sie nicht mehr hören möchte, wie eine
andere Mutter ihre Kinder ruft wieder ins Haus zu kommen.
Unbewohnbar
Elf Jahre nach dem
einseitigen Disengagement (dem Rückzug) vom Gazastreifen, hat es
Israel geschafft, Gaza als ein Land des Terrors in das
israelische Bewußtsein einzugravieren – das schwarze Loch, das
ab und zu unter unseren Füßen Tunnels gräbt und Raketen auf
unsere Ortschaften abfeuert. Hin und wieder öffnet Israel die
Toren der Hölle und lässt seinen Zorn über dem Gazastreifen los.
In der Zwischenzeit ist Israel damit beschäftigt sicher zu
stellen, dass wir vergessen, dass dieser Ort überhaupt existiert.
Die Tatsache zu vergessen, dass Israel mit der Hilfe seiner
Nachbarn die Türen zu beinahe 2 Millionen Menschen, die sich
abmühen in den Ruinen zu leben, zugesperrt hat. Die Lüge zu
vergessen, dass Israel "die Besatzung von Gaza beendet" hätte,
es kontrolliert noch immer jedes Reiskorn, das hineingeht (wir
dürfen den Scherz von Dov Weissglass, eines der Architekten des
Disengagement, niemals vergessen: 'Die Idee ist, die
Palästinenser auf Diät zu setzen, aber sie nicht verhungern zu
lassen.')
Nach Experten wird
Gaza in wenigen Jahren unbewohnbar sein, wenn die Blockade nicht
aufgehoben wird. Die Wahrheit ist, dass Israel Gaza schon viel
früher unbewohnbar gemacht hat. Gaza ist eine Katastrophe, die
in jeder Hinsicht immer schlimmer wird: Infrastruktur, Wasser,
Ernährung, Beschäftigung, Gesundheit usw. Wir können es Israel
nicht erlauben uns vergessen zu machen, dass Gaza noch immer
existiert.
Seit vor acht Jahren
die ersten Schiffe nach Gaza in See aufgebrochen sind, hat sich
Israel sehr bemüht, die Flotillas als gewalttätigen,
extremistischen Akt bestenfalls von Israelhassern,
schlimmstenfalls von Terroristen darzustellen, die den Staat
Israel vernichten wollen. Israel ist sogar so weit gegangen,
zehn Menschen an Bord der Mavi Marmara zu töten; dafür
hat sich Israel entschuldigt und Entschädigungen an die Familien
dieser Getöteten gezahlt.
Vielleicht ist es
nötig, das, was eigentlich offensichtlich ist, noch einmal zu
sagen: die Flotillas nach Gaza sind eine absolut gewaltfreie
Form des zivilen Widerstands gegen die illegale und
unmenschliche Blockade des Gazastreifens, die die Menschen, die
dort leben, zermalmt.
Wenn Benjamin
Netanyahu, Avigdor Lieberman und Miri Regev uns Teilnehmer an
der Flotilla als gewalttätige anti-semitische Extremisten
darstellt, denke ich daran, dass es meine jüdischen Werte sind –
nicht weniger als mein persönliches Gewissen - , die mich dazu
gebracht haben mich der Flotilla anzuschließen, besonders jetzt,
am Ende des Monats Elul. Während dieser besonderen Tage im
jüdischen Kalender, den Tagen der Selbstreflexion und des
Vergebens, denke ich daran, dass ich auf Grund meiner Identität
als israelische Staatsbürgerin für die Katastrophe und die
Tragödie, die über die Menschen von Gaza gekommen ist,
mitverantwortlich bin. Ein Akt der Selbstreflexion beginnt damit,
dass man die Augen öffnet und seine eigenen Sünden erkennt und
erst dann versucht, sie wieder gut zu machen. Gerade in den
Tagen vor Rosh Hashana gibt es für mich keine jüdischere Tat als
dies.
Quelle:
www.972mag.com/why-ill-be-on-the-gaza-flotilla-this-jewish-new-year/122198/
Übersetzung: K.
Nebauer
P.S. Orly Noy
konnte zu ihrer Enttäuschung nicht an der Flotilla der Frauen
teilnehmen. Die Flotilla sollte aus zwei kleinen Segelschiffen
bestehen, der Amal-Hoffnung und der Zaytouna-Olive. Die Amal
schied wegen technischer Defekte kurz nach der Abfahrt aus, das
Ersatzschiff Amal 2 konnte ebenfalls wegen technischer Defekte
die Fahrt nicht unternehmen. Während die Organisatoren der
Flotilla sich noch ein weiteres Mal um ein Ersatzschiff bemühten,
wurden 13 Frauen ausgewählt, die auf der Zaytouna in See stechen
sollten. Die beiden israelischen Frauen gehörten nicht dazu. Die
Organisatoren verstanden zu Orlys Enttäuschung nicht, welche
Bedeutung die Teilnahme jüdischer Israelis gehabt hätte.
Sie schreibt
darüber auf +972mag am 29. September, "Why I'm not on my way to
Gaza (the IDF hat nothing to do with it)", der Artikel wurde
auch wie der erste ("Why I'll be on the Gaza Flotilla this
Jewish New Year") in Ha'aretz veröffentlicht.
Warum ich nicht
auf dem Weg nach Gaza bin (die israelische Armee hat nichts
damit zu tun)
Orly Noy
Wegen technischer Probleme (bei
zwei Schiffen) habe ich und mindestens 20 weitere Frauen von der
letzten Gaza-Flotille nicht teilnehmen können.
Trotz meiner Enttäuschung wünsche ich diesen begeisterten Frauen
nichts mehr als eine sichere Fahrt.
„Wenn alles nach Plan geht, wird
die Flotille, die nur Frauen an Bord hat, am Montag, den 26.
September die Segel nach Gaza setzen. Wenn alles nach Plan geht,
werde ich auf dieser Flotille sein. “Diese Worte habe ich
geschrieben, bevor ich nach Messina/Sizilien aufbrach, um mich
dort der achten Gaza-Flotille anzuschließen. Nachdem nicht alles
nach Plan ging, gab es gute Gründe misstrauisch zu sein.
Tatsächlich begann mein Verdacht
schon, bevor ich Israel verließ. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir
herausgefunden, dass eines der beiden Schiffe (zwei kleine
Yachten), die Amal-Hope, ernsthafte technische Probleme hatte
und nicht gemeinsam mit der Zaytouna segeln könnte. Aber das
Organisationsteam der Flotille versprach, sich intensiv um ein
Ersatzschiff zu bemühen, und dass die Chance, dass beide Schiffe
gemeinsam die Segeln setzen würden, hoch wäre.
Die Belegschaft fand schließlich
ein Ersatzschiff, aber dann hatte auch die Amal - Hope II
technische Probleme, die die Abfahrt verhinderten. Am Samstag
erfuhren wir, dass die Flotille nicht wie geplant am Montag
ablegen würde, und es wurde bezweifelt, ob die Amal-Hope in der
Lage sein würde sich anzuschließen. Das würde bedeuten, dass es
fast der Hälfte der Frauen, die aus aller Welt gekommen waren,
nicht möglich sein würde auf die Reise zu gehen.
Trotzdem fuhren wir mit der
Planung für die Abfahrt fort. Der Bürgermeister von Messina, der
die Delegation warmherzig beherbergt hatte, erlaubte uns das
prächtige Rathausgebäude für unsere Treffen, Empfänge und
öffentlichen Veranstaltungen zu benutzen. Er kam in Jeans,
Sandalen, einem ausgebleichten Shirt mit dem Aufdruck „Free
Tibet“ und einem Schal in den Farben Palästinas zu jeder von
uns. Seine Wärme und seine aufrichtige Unterstützung für uns war
Welten entfernt von Nir Barkat, dem anmaßenden extremistischen
Bürgermeister, der die Schlüssel von Jerusalem, meiner
Heimatstadt, hält.
Einer der denkwürdigsten
Augenblicke in Messina geschah am Sonntag Morgen auf dem
Workshop für Gewaltfreiheit im Rathaus.
Das Motiv der Gewaltfreiheit ist
ein ganz zentrales für die Flotilla, nicht nur als
Handlungsmethode, sondern als moralische und ideologische
Einstellung. Der Workshop, der von einem alten Aktivisten aus
den USA geleitet wurde, beinhaltete auch die Simulation einer
Übernahme des Schiffs durch die israelische Armee. Seit eine
Handvoll Teilnehmer schon auf früheren Flotillen gesegelt ist,
kann man annehmen, dass die Simulation eine genaue Reflexion
dessen war, was tatsächlich passieren kann.
Die Witwe -
Am härtesten war es aber zu sehen,
wie Chadam, die Witwe eines der 10 Männer, die an Bord der Mavi
Marmara getötet worden sind, reagierte. Chadam war in dem Moment
bei ihrem Mann, in dem er erschossen wurde. Sie war von der
Türkei nach Messina gekommen, um an der Flotilla teilzunehmen.
Sie sprach nur türkisch und brauchte die Hilfe eines jungen
Übersetzers vor Ort. Sie trug ein Foto ihres Mannes eingerahmt
an einem schmalen Halsband, das sie niemals abnahm. Sie kam nach
Messina, um die Mission abzuschließen, die ihr Mann nicht
anschließen konnte. […]
Zwischen Flüchtlingsschiffen
und Kreuzfahrtschiffen -
[…] Wir trafen am Hafen etwa 100
Schulkinder, die mit den Aktivisten sprechen und ihnen zuhören
wollten. Es stellte sich heraus, dass die Flotilla in Messina
als eine Gelegenheit zu Unterricht und Bildung gesehen wurde.
Während unserem ganzen Aufenthalt in der Stadt kamen viele
Menschen vorbei, um mit den Aktivisten zu sprechen, zu fragen
und zu verstehen. Auf dem Weg zu den Schiffen kamen wir an einem
Schiff vorbei, das 900 Flüchtlinge aus verschiedenen Ländern
brachte. […]
Am Nachmittag trafen wir uns zu
einer Lagebesprechung. Die Zaytouna ist zur Abfahrt bereit und
wird am folgenden Tag ablegen. Amal-Hope 2 kann noch immer nicht
abfahren (auch bei diesem Ersatzschiff hatte es technische
Probleme gegeben, Ü.). Das Team arbeitet daran, ein anderes
Schiff zu finden, eine Amal 3.
Nur 13 Frauen können mit der
Zaytouna fahren. […]
Die Israelis durften zu ihrer
Enttäuschung nicht mit an Bord, die Organisatoren meinten, dass
die Anwesenheit von Israelis an Bord ohne spezielle Bedeutung
wäre. Wegen der israelischen Öffentlichkeit hat es uns traurig
gestimmt, zugunsten der Öffentlichkeit in anderen Ländern
aufgeben zu müssen. […]
Obwohl ich nicht erreicht hatte,
was ich wollte, gab es keinen einzigen Augenblick, auf den ich
verzichten würde. Ich habe unglaubliche, mutige Frauen
getroffen, Vorreiterinnen eines inspirierten Kampfes in ihren
Ländern. Ich machte neue Freunde, Freundschaften, die ohne
Zweifel bleiben würden, wenn wir in unser Leben zurückgekehrt
waren. […]
Quelle: www.+972mag vom 30.09.2016
Übersetzung/Kürzung: K. Nebauer
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