Rundherum in Palästina, rundherum
Brief Nr. 2 von Donna Mulhearn (australische Journalistin) - Freitag,
2.2.2005
Herumfahren ist nicht leicht in Palästina, ich meine,
von A nach B reisen. Wirklich, es ist ein Albtraum!
Nimm z.B. die Reise von Jenin , einer Stadt im Norden
der Westbank, nach Jerusalem, 130 km nach Süden, wie ich sie kürzlich
machte.
Beim ersten Blick auf die Landkarte schien es eine
einigermaßen gerade Strecke. Die meisten von uns würden sie in ihren
jeweiligen Ländern bei vergleichbarem Straßenzustand in 1 ½ Stunden
schaffen. Aber ich bin in Palästina gereist, das von einer fremden
Armee besetzt ist. Und diese hat das Kunststück fertiggebracht,
Menschen extrem schwierige bis unmögliche Aufgaben zu stellen.
Freiheit der Bewegung – eines der grundsätzlichen
Menschenrechte, wird hier täglich Millionen Menschen vorenthalten. Und
zwar in einer Weise, durch die Mütter, Väter und Kinder, die
versuchen, von A nach B zu gelangen, gedemütigt, und gleichermaßen
junge israelische Soldaten ihrer Menschenwürde beraubt werden, indem
sie mit ihren Panzern und Maschinengewehren auf die Mütter, Väter und
Kinder zielen müssen.
Palästina ist ein Land, das von einigen Männern rund um
einen militärischen „Runden Tisch“ in Tel Aviv in Dutzende kleiner
Stücke zerlegt wird, damit man mit den Checkpoints spielen kann, als
wären sie Teile eines Schachspiels.
Für die Palästinenser heisst schon die Tatsache, in
einem dieser Puzzlegebiete zu wohnen, einander nicht besuchen zu
können. So einfach ist das. Und dass, obwohl man einmal dort gelebt
hat, die Familie von dort ist, oder dass man,um Himmels Willen
einfach dorthin gehen möchte, weil man dorthin gehen möchte.
Palästinenser erhalten farbige kodierte
Identitätskarten, die sie immer mit sich führen müssen, und auf denen
angegeben ist, wohin sie reisen dürfen. Wenn die ID-Karte nicht für
das Gebiet ausgestellt ist, wohin sie fahren wollen, verweigert ihnen
ein Soldat im Teenager-Alter bei einem der vielen militärischen
Checkpoints, die überall in Palästina verstreut sind, schlicht die
Einreise. Mit anderen Worten, das ist wie ein Gefängnis.
Ich besuchte heute eine Familie mit sechs kleinen
Kindern, die in Armut gefallen sind, seitdem man den Vater arretiert
und für 10 Monate ins Gefängnis gesteckt hatte, weil er mit der
falschen ID-Karte am falschen Platz war. Das war sein Verbrechen.
Die israelische Regierung würde sagen, dass die
Checkpoints mit den Wachtürmen, Panzern, einbetonierten Drehkreuzen,
jungen Soldaten mit Maschinengewehren usw. für die Sicherheit
notwendig sind. Aber der Umstand, dass die meisten Checkpoints nur
dazu dienen, Palästinenser von anderen Palästinensern auf
palästinensischem Land zu trennen, macht die alte Geschichte dünn und
widerwärtig für alle, für Israelis, Palästinenser und die
internationale Gemeinschaft.
Zurück zu meiner Spritztour von Jenin hinunter nach
Jerusalem: Unser Kleinbus fuhr ganz fröhlich aus Jenin; wir wussten,
es gab nur einen etablierten Checkpoint außerhalb von Ramallah, und
einen kleineren vorher. Aber, ungefähr 10 km nach dem Verlassen von
Jenin, als wir durch die Hügel fuhren, kommt unser Kleinbus mit
quietschenden Bremsen zum Halten, um nicht in eine Schlange von Autos
vor uns hineinzufahren. Unser Fahrer weicht zur anderen Straßenseite
aus und macht eine Kehrtwendung. Vorn ist ein „Fliegender“ Checkpoint,
der einen Aufenthalt von etwa einer Stunde verspricht. Der Fahrer
entscheidet blitzschnell, eine Sandstraße auf einen steilen Berg zu
nehmen, durch einige kleine Dörfer zu kurven, und auf der anderen
Seite herunterzukommen. Es ist eine lange Fahrt voller Schlaglöcher,
aber, als er wieder auf der Hauptstraße ist, ist er zufrieden, den
Passagieren Zeit und Ärger erspart zu haben.
Wir fahren glücklich weiter, aber ehe wir uns versehen,
ist schon wieder eine Schlange vor uns. Dieses Mal gibt es kein
Ausweichen und wir stellen uns hinten an die lange Schlange von LKWs,
Autos, Taxis und Bussen an. Sie bewegt sich nicht schnell, genau
genommen, gar nicht. Der Fahrer und einige Passagiere steigen aus um
mit anderen, die lieber draußen neben ihren Fahrzeugen warten wollten,
eine Zigarette zu rauchen. Nach einer Stunde bewegen wir uns in
Zentimetern bis zur Spitze der Schlange, um zu sehen, wie zwei junge
israelische Soldaten mit dem Gewehrkolben den Autofahrern in beiden
Richtungen andeuten, ob sie stehenbleiben, weiterfahren oder
aussteigen sollen. Unser Bus wird durchgewinkt, was die Warterei ganz
sinnlos macht.
Wir stießen einen Seufzer der Erleichterung aus und
hofften auf eine schnelle Reise nach Ramallah. Es dauerte aber nicht
lange, und der Erleichterung folgte wieder ein Jammern: „Was, schon
wieder ein Checkpoint!“ Also, Checkpoint Nr.3 hielt uns wieder 40
Minuten lang auf, und wieder schaute ein schwer bewaffneter Teenager
auf unsere ID-Karten und ließ uns passieren. Bei Checkpoint Nr.4
warteten wir 20 Minuten lang; diesmal war es ein etablierter, und wir
hatten ihn erwartet. Wieder ein Seufzer der Erleichterung, als wir uns
der heimatlichen Strecke nach Ramallah zuwandten.
In dem Kleinbus war eine Geschäftsfrau, die hoffte, vor
der Sperrstunde in ihrem Kleidergeschäft in Ramallah zu sein – das war
jetzt unmöglich. Ein anderer hätte einen Anschlussbus in eine andere
Gegend erreichen müssen, das war jetzt unmöglich. Ich hoffte, gut vor
Einbruch der Dunkelheit in Jerusalem zu sein – keine Chance. Für
menschliche Wesen mit menschlichen Alltagsgeschäften können die
Einschränkungen der Bewegungsfreiheit alles von kleineren
Unannehmlichkeiten bis zu einem vollständigen Chaos aller Pläne
bedeuten. Aber die Zeitverzögerungen sind nur die Hälfte: die leichter
zu verkraftende Hälfte.
Durch einen israelischen Militär-Checkpoint gehen zu
müssen, kann für den besten von uns zu einer traumatischen Erfahrung
werden. Die Kontrolle durch einen stirnrunzelnden Soldatenknaben mit
der MP über der Schulter , der deine ID-Karte sehen will , diese prüft
und persönliche Fragen wie „Woher kommst du? Wo gehst du hin? Warum
gehst du dorthin? Wie lange wirst du dort bleiben?“ stellt und das
alles in einer - sagen wir – präpotenten Art, ist zumindest ziemlich
ärgerlich. Die Versuchung zu antworten, dass ihn das nichts angehe,
ist unmöglich für Palästinenser. Wenn sie Antworten verweigern, werden
sie herausgeholt, gezwungen zu warten, und oft für weitere Befragung
festgenommen.
An einem fliegenden Checkpoint außerhalb von einem Dorf
nahe Nablus standen wir mit einem einheimischen Dentisten, einem
ruhigen Mann mit einem freundlichen Gesicht mehr als 2 Stunden lang in
eisiger Kälte zusammen, weil ein Soldat seine ID-Karte ohne Erklärung
nicht herausgab. Als wir nachfragten, warum man ihn warten ließe, gab
der schlacksige 19jährige Soldat keine Antwort (Gesprächskultur ist
nicht die Stärke bei der israelischen Armee). Wir standen noch länger
in der eisigen Kälte und sahen ihnen zu, wie sie ihr Mittagessen zu
sich nahmen. Dann gaben sie im Vorübergehen ohne Entschuldigung oder
Erklärung für das mutwillige Anhalten die Karte zurück. Der Dentist
erzählte uns, dass sie mit ihm jeden Tag so umgehen würden.
Im Dorf Beita auch nahe von Nablus erzählte uns ein
Freund, dass er nicht nur gezwungen wurde, ohne offensichtlichen Grund
in der Kälte am Checkpoint zu warten, sondern dass sie ihm befahlen,
seine Jacke auszuziehen, so dass die Kälte ihm ungeschützt durch und
durch ging.
Die Brutalität des Militärs an den Checkpoints ist so
bekannt, dass eine Gruppe israelischer Frauen sich gezwungen sah, eine
Organisation zu bilden, „Machson Watch“ (Checkpoint-Wache), nur, um
die verschiedenen Checkpoints zu beobachten und Übergriffe zu melden.
Als Israelinnen schämen sie sich dafür, was in ihrem Namen vor sich
geht. Sie sagen, Checkpoints sind die „unsinnigste Form der
Demütigung“. Kürzlich haben Frauen der Machsom Watch israelische
Soldaten dabei fotografiert, wie sie einen palästinischen Mann
zwangen, für sie am Checkpoint Geige zu spielen. Es ist hier nicht
genug Platz um die Litanei anderer Checkpoint-Horrorgeschichten
aufzulisten, die euch erstarren lassen würden.
Zurück zur Reise nach Jerusalem: die Sonne war am
Untergehen und wir waren alle ein bissel „angefressen“, so versuchte
niemand, seinen Groll und Unglauben zu verbergen, als wir in der Ferne
Checkpoint 5 auftauchen sahen. „Schaut, wie wir leben müssen“, schrie
ein junger paläst. Fahrgast im Fond des Autos, ein Berufstätiger in
Anzug und Krawatte. „Schaut, wie wir alle Tage leiden! Wir leben in
einem Gefängnis.“ „Wie können wir das tolerieren?“
In der Tat! Die meisten Leute würden so etwas nicht
tolerieren. Stellen Sie sich vor, Sie würden als Australier (Die
Autorin ist Australierin, Anm.d.Übers.): versuchen von Sydney nach
Katoomba zu fahren und werden in Strahfield von verärgerten
maschinengewehr-schwingenden Teenagern aus einem anderen Land und mit
einer anderen Sprache gestoppt, die Sie zwingen zu warten und Fragen
über Ihre persönlichen Bewegungen stellen. Und dann stellen Sie sich
das gleiche vor in Lidcombe, Patramatta, Penrith, Glenbrook und Leura.
Stellen Sie sich das vor!
Noch eine halbe Stunde am Checkpoint Nr.5: Alle griffen
nach ihren Handys, um die Lieben zuhause zu informieren, dass sie
tatsächlich noch unterwegs waren, obwohl sie Jenin vor drei Stunden
verlassen hatten. Endlich erreichten wir Ramallah und diejenigen, die
nach Jerusalem wollten, mussten aussteigen, durch den riesigen
Qalandyia-Checkpoint aus Stahl und Beton gehen, um auf der anderen
Seite einen anderen Bus zu nehmen.
Für mich war es einfach; die Frauenschlange bewegt sich
immer schneller, und man stellte mir nicht so viele Fragen. Aber ich
schaute zurück auf die Männer und war momentan gelähmt von einem der
traurigsten Anblicke, die ich je gesehen hatte. Ich beobachtete junge
Männer, ältere Männer, Teenager und Mittelalter, die wie Nutztiere auf
dem Bauernhof in Stahlkäfigen eingeschlossen auf die Befehle junger
israelischer Soldatinnen in engen grünen Uniformen und Goldschmuck hin
stehenbleiben, weitergehen oder warten mussten. Ich beobachtete, wie
eine Schlange länger warten musste, weil eine Soldatin mit
Maschinengewehr, lässig über die Brust gehängt, zur Seite trat, um
ihre Lippen mit dem Stift nachzuziehen. Ich fühlte mich krank und ich
weinte vor Zorn, als ich sah, dass sie einen offensichtlich
distinguierten alten Herrn mit dem Gewehrkolben anstieß. Demütigung
für einen stolzen Menschen – ich weiss nicht, ob es etwas gibt, das
schlimmer ist.
Die Leute bewegten sich durch die Sperre wie Rindvieh
mit ihrer ID-Karte als Markierung. Ich wollte schreien. Ich wollte
hinrennen und den Jung-Soldatinnen zurufen, sie sollen ihre
Maschinengewehre wegtun und abhauen. Geht an den Strand, geht in einen
Nachtclub tanzen, fordert eure Jugend zurück und tut irgendwas, das
weibliche Teenager zu tun pflegen. Ich wollte die Kinder über die
stählernen Drehkreuze heben und sie frei laufen lassen. Ich wollte,
dass die alten Männer ihre Köpfe erheben könnten und dass die Frauen
keine Angst zu haben brauchten. Ich wollte die ID-Karten zerreissen.
Ich wollte die ganze Anlage niederreissen.
Ich wollte, dass irgendjemand von außerhalb von
Palästina das sähe. Das bemerkte. Und das so benenne, wie es wirklich
ist: das hässliche Symptom einer verzweifelten Besetzung, die aus der
Kontrolle geraten ist und die Besetzten brutalisiert und die Seelen
der jungen Menschen zerstört, die als Besatzer auftreten.
(Übers.: G. Merz